Erster Auftritt

[258] Lulu. Schwarz. Dann Henriette.

Lulu in grünseidenem Morgenkleid steht regungslos vor dem Spiegel, runzelt die Stirn, fährt mit der Hand darüber, befühlt ihre Wangen, trennt sich vom Spiegel mit einem mißmutigen, halb zornigen Blick, geht nach rechts, sich mehrmals umwendend, öffnet auf dem Schreibtisch eine Schatulle, zündet sich eine Zigarette an, sucht unter den Büchern, die auf dem Tisch liegen, nimmt eines zur Hand, legt sich auf die Chaiselongue, dem Spiegel gegenüber, läßt, nachdem sie einen Moment gelesen, das Buch sinken, nickt sich ernsthaft zu, nimmt die Lektüre wieder auf.


SCHWARZ Pinsel und Palette in der Hand, tritt von rechts ein, beugt sich über Lulu, küßt sie auf die Stirn, geht nach links die Stufen hinan, wendet sich in der Portiere um. Eva!

LULU lächelnd. Befehlen?

SCHWARZ. Ich finde, du siehst heute außerordentlich reizend aus.

LULU mit einem Blick in den Spiegel. Es kommt auf die Ansprüche an.

SCHWARZ. Dein Haar atmet eine Morgenfrische ...

LULU. Ich komme aus dem Wasser.[258]

SCHWARZ sich ihr nähernd. Ich habe heute furchtbar zu tun.

LULU. Das redest du dir ein.

SCHWARZ legt Pinsel und Palette auf den Teppich und setzt sich auf den Rand der Chaiselongue. Was liest du denn da?

LULU liest. Plötzlich hörte sie einen Rettungsanker die Treppe heraufwinken.

SCHWARZ. Wer in aller Welt schreibt denn so ergreifend?

LULU liest. Es war der Geldbriefträger.

HENRIETTE durch die Entree, eine Hutschachtel am Arm, setzt eine Tablette mit Briefen auf den Tisch. Die Post. – Ich gehe der Putzmacherin den Hut bringen. Haben gnädige Frau noch etwas zu befehlen?

LULU. Nichts.


Schwarz winkt ihr, sich zu entfernen.

Henriette verschmitzt lächelnd ab.


SCHWARZ. Was hast du vergangene Nacht denn alles geträumt?

LULU. Das hast du mich heute doch schon zweimal gefragt.

SCHWARZ erhebt sich, nimmt die Briefe von der Tablette. Ich zittere vor Neuigkeiten. Ich fürchte jeden Tag, die Welt könnte untergehen. Zur Chaiselongue zurückgekehrt, Lulu einen Brief gebend. An dich.

LULU führt das Billett zur Nase. Die Corticelli. Birgt es in ihrem Busen.

SCHWARZ einen Brief durchfliegend. Meine Samaquecatänzerin verkauft – für fünfzigtausend Mark!

LULU. Wer schreibt denn das?

SCHWARZ. Sedelmeier in Paris. Das ist das dritte Bild seit unserer Verheiratung. Ich weiß mich vor meinem Glück kaum zu retten.

LULU auf die Briefe deutend. Da kommt noch mehr.

SCHWARZ eine Verlobungsanzeige öffnend. Sieh da! Gibt sie Lulu.

LULU liest. Herr Regierungsrat Heinrich Ritter von Zarnikow beehrt sich, Ihnen von der Verlobung seiner Tochter Charlotte Marie Adelaide mit Herrn Dr. Ludwig Schön ergebenste Mitteilung zu machen.

SCHWARZ einen anderen Brief öffnend. Endlich! Es ist ja eine Ewigkeit, daß er darauf lossteuert, sich vor der Welt zu verloben. Ich begreife nicht, ein Gewaltmensch von seinem[259] Einfluß. Was steht denn seiner Heirat eigentlich im Wege!!

LULU. Was ist das, was du da liest?

SCHWARZ. Eine Einladung, mich an der internationalen Ausstellung in Petersburg zu beteiligen. – Ich weiß gar nicht, was ich malen soll.

LULU. Irgendein entzückendes Mädchen natürlich.

SCHWARZ. Wenn du mir dazu Modell stehen willst?

LULU. Es gibt doch, weiß Gott, auch andere hübsche Mädchen genug.

SCHWARZ. Ich gelange aber einem andern Modell gegenüber, und wenn es pikant wie die Hölle ist, nicht zu dieser vollen Ausbeutung meines Könnens.

LULU. Dann muß ich ja wohl. – Ginge es denn nicht vielleicht auch liegend?

SCHWARZ. Am liebsten möchte ich das Arrangement wirklich deinem Geschmack überlassen. Die Briefe zusammenfaltend. Daß wir nicht vergessen, Schön jedenfalls heute noch zu gratulieren. Geht nach rechts und schließt die Briefe in den Schreibtisch.

LULU. Das haben wir doch längst getan.

SCHWARZ. Seiner Braut wegen.

LULU. Du kannst es ihm ja noch einmal schreiben.

SCHWARZ. Und jetzt zur Arbeit. Nimmt Pinsel und Palette auf, küßt Lulu, geht links die Stufen hinan, wendet sich in der Portiere um. Eva!

LULU läßt ihr Buch sinken, lächelnd. Befehlen?

SCHWARZ sich ihr nähernd. Mir ist täglich, als sähe ich dich zum allererstenmal.

LULU. Du bist schrecklich.

SCHWARZ sinkt vor der Chaiselongue in die Knie, liebkost ihre Hand. Du trägst die Schuld.

LULU ihm die Locken streichelnd. Du vergeudest mich.

SCHWARZ. Du bist ja mein. Du bist auch nie bestrickender, als wenn du nur um Gottes willen einmal ein paar Stunden recht häßlich sein solltest! Ich habe nichts mehr, seit ich dich habe. – Ich bin mir vollständig abhanden gekommen ...

LULU. Nicht so aufgeregt.


Es läutet auf dem Korridor.[260]


SCHWARZ zusammenfahrend. Verwünscht.

LULU. Niemand zu Hause!

SCHWARZ. Vielleicht ist es der Kunsthändler ...

LULU. Und wenn es der Kaiser von China ist.

SCHWARZ. Einen Moment.


Ab.


LULU visionär. – Du? – du? – Schließt die Augen.

SCHWARZ zurückkommend. Ein Bettler, der den Feldzug mitgemacht haben will. Ich habe kein Kleingeld bei mir. Pinsel und Palette aufnehmend. Es ist auch die höchste Zeit, daß ich endlich an die Arbeit gehe.


Nach links ab.


LULU ordnet vor dem Spiegel ihre Toilette, streicht sich das Haar zurück und geht hinaus.


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Berlin und Weimar 1969, S. 258-261.
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