Zehnter Auftritt

[293] Schön. Lulu.


LULU. Sie haben recht, daß Sie mir zeigen, wo ich hingehöre. Das konnten Sie nicht besser, als wenn Sie mich vor Ihrer Braut den Skirtdance tanzen lassen ... Sie tun mir den größten Gefallen, wenn Sie mich darauf hinweisen, was meine Stellung ist.

SCHÖN höhnisch. Bei deiner Herkunft ist es ein Glück sondergleichen für dich, daß du noch Gelegenheit hast, vor anständigen Leuten aufzutreten!

LULU. Auch wenn sie über meine Schamlosigkeit nicht wissen, wohin sehen.

SCHÖN. Albernes Geschwätz! – Schamlosigkeit? – Mach aus der Tugend keine Not! – Deine Schamlosigkeit ist das, was man dir für jeden Schritt mit Gold aufwiegt. Der eine schreit Bravo, der andere schreit Pfui – das heißt für dich das gleiche! – Kannst du dir einen glänzenderen Triumph wünschen, als wenn sich ein anständiges Mädchen kaum in der Loge zurückhalten läßt?!! Hat dein Leben denn ein anderes Ziel?! – Solang du noch einen Funken Achtung vor dir selber hast, bist du keine perfekte Tänzerin! Je fürchterlicher es den Menschen vor dir graut, um so größer stehst du in deinem Beruf da!!

LULU. Es ist mir ja auch vollkommen gleichgültig, was man von mir denkt. Ich möchte um alles nicht besser sein als ich bin. Mir ist wohl dabei.

SCHÖN in moralischer Empörung. Das ist deine wahre Natur! Das nenne ich aufrichtig. – Eine Korruption!!

LULU. Ich wüßte nicht, daß ich je einen Funken Achtung vor mir gehabt hätte.

SCHÖN wird plötzlich mißtrauisch. Keine Harlekinaden ...

LULU. O Gott – ich weiß sehr wohl, was aus mir geworden wäre, wenn Sie mich nicht davor bewahrt hätten.

SCHÖN. Bist du denn heute vielleicht etwas anderes??

LULU. Gott sei Dank, nein!

SCHÖN. Das ist echt!

LULU lacht. Und wie überglücklich ich dabei bin!

SCHÖN spuckt aus. Wirst du jetzt tanzen?[293]

LULU. Wie und vor wem es ist!

SCHÖN. Also dann auf die Bühne!!

LULU kindlich bittend. Nur eine Minute noch. Ich bitte Sie. Ich kann mich noch nicht aufrecht halten. – Man wird klingeln.

SCHÖN. Du bist dazu geworden, trotz allem, was ich für deine Erziehung und dein Wohl geopfert habe!

LULU ironisch. Sie hatten Ihren veredelnden Einfluß überschätzt?

SCHÖN. Verschone mich mit deinen Witzen.

LULU. – Der Prinz war hier.

SCHÖN. So?

LULU. Er nimmt mich mit nach Afrika.

SCHÖN. Nach Afrika?

LULU. Warum denn nicht? Sie haben mich ja zur Tänzerin gemacht, damit einer kommt und mich mitnimmt.

SCHÖN. Aber doch nicht nach Afrika!

LULU. Warum haben Sie mich denn nicht ruhig in Ohnmacht fallenlassen, und im stillen dem Himmel dafür gedankt?

SCHÖN. Weil ich leider keinen Grund hatte, an deine Ohnmacht zu glauben!

LULU spöttisch. Sie hielten es unten nicht aus ...?

SCHÖN. Weil ich dir zum Bewußtsein bringen muß, was du bist und zu wem du nicht aufzublicken hast!

LULU. Sie fürchteten, meine Glieder könnten doch vielleicht ernstlich Schaden genommen haben?

SCHÖN. Ich weiß zu gut, daß du unverwüstlich bist.

LULU. Das wissen Sie also doch?

SCHÖN aufbrausend. Sieh mich nicht so unverschämt an!!

LULU. Es hält Sie niemand hier.

SCHÖN. Ich gehe, sobald es klingelt.

LULU. Sobald Sie die Energie dazu haben! – Wo ist Ihre Energie? – Sie sind seit drei Jahren verlobt. Warum heiraten Sie nicht? – Sie kennen keine Hindernisse. Warum wollen Sie mir die Schuld geben? – Sie haben mir befohlen, Dr. Goll zu heiraten. Ich habe Dr. Goll gezwungen, mich zu heiraten. Sie haben mir befohlen, den Maler zu heiraten. Ich habe gute Miene zum bösen Spiel gemacht. – Sie kreieren Künstler, Sie protegieren Prinzen. Warum heiraten Sie nicht?[294]

SCHÖN wütend. Glaubst du denn vielleicht, daß du mir im Weg stehst?!

LULU von jetzt an bis zum Schluß triumphierend. Wüßten Sie, wie Ihre Wut mich glücklich macht! Wie stolz ich darauf bin, daß Sie mich mit allen Mitteln demütigen! Sie erniedrigen mich so tief – so tief, wie man ein Weib erniedrigen kann, weil Sie hoffen, Sie könnten sich dann eher über mich hinwegsetzen. Aber Sie haben sich selber unsäglich weh getan durch alles, was Sie mir eben sagten. Ich sehe es Ihnen an. Sie sind schon beinahe am Ende Ihrer Fassung. Gehen Sie! Um Ihrer schuldlosen Braut willen, lassen Sie mich allein! Eine Minute noch, dann schlägt Ihre Stimmung um, und Sie machen mir eine andere Szene, die Sie jetzt nicht verantworten können!

SCHÖN. Ich fürchte dich nicht mehr.

LULU. Mich? – Fürchten Sie sich selber! – Ich bedarf Ihrer nicht. – Ich bitte Sie, gehen Sie! Geben Sie nicht mir die Schuld. Sie wissen, daß ich nicht ohnmächtig zu werden brauchte, um Ihre Zukunft zu zerstören. Sie haben ein unbegrenztes Vertrauen in meine Ehrenhaftigkeit! Sie glauben nicht nur, daß ich ein bestrickendes Menschenkind bin; Sie glauben auch, daß ich ein herzensgutes Geschöpf bin. Ich bin weder das eine, noch das andere. Das Unglück für Sie ist nur, daß Sie mich dafür halten.

SCHÖN verzweifelt. Laß meine Gedanken gehen! Du hast zwei Männer unter der Erde. Nimm den Prinzen, tanz ihn in Grund und Boden! Ich bin fertig mit dir. Ich weiß, wo der Engel bei dir zu Ende ist und der Teufel beginnt. Wenn ich die Welt nehme, wie sie geschaffen ist, so trägt der Schöpfer die Verantwortung, nicht ich! Mir ist das Leben keine Belustigung.

LULU. Dafür stellen Sie auch Ansprüche an das Leben, wie sie höher niemand stellen kann ... Sagen Sie mir, wer von uns beiden ist wohl anspruchsvoller, Sie oder ich?!

SCHÖN. Schweig! Ich weiß nicht, wie und was ich denke. Wenn ich dich höre, denke ich nicht mehr. In acht Tagen bin ich verheiratet. Ich beschwöre dich – bei dem Engel, der in dir ist, komm mir derweil nicht mehr zu Gesicht!

LULU. Ich will meine Türe verschließen.[295]

SCHÖN. Prahl noch mit dir! – Ich habe, Gott ist mein Zeuge, seit ich mit der Welt und dem Leben ringe, noch niemandem so geflucht!

LULU. Das kommt von meiner niederen Herkunft.

SCHÖN. Von deiner Verworfenheit!!

LULU. Mit tausend Freuden nehme ich die Schuld auf mich! Sie müssen sich jetzt rein fühlen. Sie müssen sich jetzt für den sittenstrengen Mustermenschen, für den Tugendbold von unerschütterlichen Grundsätzen halten – sonst können Sie das Kind in seiner bodenlosen Unerfahrenheit gar nicht heiraten ...

SCHÖN. Willst du, daß ich mich an dir vergreife!

LULU rasch. Ja! Ja! Was muß ich sagen, damit Sie es tun? Um kein Königreich möchte ich jetzt mit dem unschuldigen Kinde tauschen! Dabei liebt das Mädchen Sie, wie noch kein Weib Sie je geliebt hat!!

SCHÖN. Schweig, Bestie! Schweig!

LULU. Heiraten Sie sie – dann tanzt sie in ihrem kindlichen Jammer vor meinen Augen, statt ich vor ihr!

SCHÖN hebt die Faust. Verzeih mir Gott ...

LULU. Schlagen Sie mich! Wo haben Sie Ihre Reitpeitsche! Schlagen Sie mich an die Beine ...

SCHÖN greift sich an die Schläfen. Fort, fort ...! Stürzt zur Türe, besinnt sich, wendet sich um. Kann ich jetzt so vor das Kind hintreten? – Nach Hause! – Wenn ich zur Welt hinaus könnte!

LULU. Seien Sie doch ein Mann. – Blicken Sie sich einmal ins Gesicht. – Sie haben keine Spur von Gewissen. – Sie schrecken vor keiner Schandtat zurück. – Sie wollen das Mädchen, das Sie liebt, mit der größten Kaltblütigkeit unglücklich machen. – Sie erobern die halbe Welt. – Sie tun, was Sie wollen – und Sie wissen so gut wie ich – daß ...

SCHÖN ist völlig erschöpft auf dem Sessel links neben dem Mitteltisch zusammengesunken. Schweig!

LULU. Daß Sie zu schwach sind – um sich von mir loszureißen ...

SCHÖN stöhnend. Oh! Oh! du tust mir weh!

LULU. Mir tut dieser Augenblick wohl – ich kann nicht sagen wie!

SCHÖN. Mein Alter! Meine Welt![296]

LULU. – Er weint wie ein Kind – der furchtbare Gewaltmensch! – Jetzt gehen Sie so zu Ihrer Braut und erzählen Sie ihr, was ich für eine Seele von einem Mädchen bin – keine Spur eifersüchtig!

SCHÖN schluchzend. Das Kind! Das schuldlose Kind!

LULU. Wie kann der eingefleischte Teufel plötzlich so weich werden. – – Jetzt gehen Sie aber bitte. Jetzt sind Sie nichts mehr für mich.

SCHÖN. Ich kann nicht zu ihr.

LULU. Hinaus mit Ihnen! Kommen Sie zu mir zurück, wenn Sie wieder zu Kräften gelangt sind.

SCHÖN. Sag mir um Gottes willen, was ich tun soll.

LULU erhebt sich; ihr Mantel bleibt auf dem Sessel. Auf dem Mitteltisch die Kostüme beiseite schiebend. Hier ist Briefpapier ...

SCHÖN. Ich kann nicht schreiben ...

LULU aufrecht hinter ihm stehend, auf die Lehne seines Sessels gestützt. Schreiben Sie! – Sehr geehrtes Fräulein ...

SCHÖN zögernd. Ich nenne sie Adelheid ...

LULU mit Nachdruck. Sehr geehrtes Fräulein ...

SCHÖN schreibend. – Mein Todesurteil!

LULU. Nehmen Sie Ihr Wort zurück. Ich kann es mit meinem Gewissen – Da Schön die Feder absetzt und ihr einen flehentlichen Blick zuwirft. Schreiben Sie Gewissen! – nicht vereinbaren, Sie an mein unseliges Los zu fesseln ...

SCHÖN schreibend. Du hast recht. – Du hast recht.

LULU. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich Ihrer Liebe – Da sich Schön wieder zurückwendet. Schreiben Sie Liebe! – unwürdig bin. Diese Zeilen sind Ihnen der Beweis. Seit drei Jahren versuche ich mich loszureißen; ich habe die Kraft nicht. Ich schreibe Ihnen an der Seite der Frau, die mich beherrscht. – Vergessen Sie mich. – Doktor Ludwig Schön.

SCHÖN aufächzend. O Gott!

LULU halb erschrocken. Ja kein O Gott! – Mit Nachdruck. Doktor Ludwig Schön. – Postskriptum: Versuchen Sie nicht, mich zu retten.

SCHÖN nachdem er zu Ende geschrieben, in sich zusammenbrechend. Jetzt – kommt die – Hinrichtung ...[297]

Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Berlin und Weimar 1969, S. 293-298.
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