Fünfter Auftritt

[287] Lulu. Escerny


LULU. Ich muß mich ja wieder umziehen.

ESCERNY. Aber Ihre Garderobiere ist ja nicht hier?

LULU. Ich kann das rascher allein. Wo sagten Sie, daß Dr. Schön sitzt?

ESCERNY. Ich sah ihn in der hintersten Parkettloge links.

LULU. Jetzt habe ich noch fünf Kostüme vor mir: Dancinggirl, Ballerina, Königin der Nacht, Ariel und Lascaris ...


Tritt hinter die spanische Wand zurück.


ESCERNY. Würden Sie es für möglich halten, daß ich bei unserem ersten Renkontre nicht anders gewärtig war, als mit einer jungen Dame aus der literarischen Welt bekannt zu werden? – – – Setzt sich rechts neben den Mitteltisch, wo er bis zum Schluß der Szene sitzen bleibt. Sollte ich mich in der Beurteilung Ihrer Natur irren, oder habe ich das Lächeln, das die dröhnenden Beifallsstürme auf Ihren Lippen hervorrufen, richtig gedeutet? – –: daß Sie unter der Notwendigkeit, Ihre Kunst vor Leuten von zweifelhaften Interessen entwürdigen zu müssen, innerlich leiden? – – – Da Lulu nicht antwortet. Daß Sie den Schimmer der Öffentlichkeit jeden Augenblick für ein ruhiges, sonniges Glück in[287] vornehmer Abgeschlossenheit eintauschen würden? – Da Lulu nicht antwortet. Daß Sie Hoheit und Würde genug in sich fühlen, einen Mann zu Ihren Füßen zu fesseln – um sich an seiner vollkommenen Hilflosigkeit zu erfreuen? – – – Da Lulu nicht antwortet. Daß Sie sich an einem würdigeren Platz als hier in einer mit reichlichem Komfort ausgestatteten Villa fühlen würden – bei unbegrenzten Mitteln – um durchaus als Ihre eigene Herrin zu leben?

LULU in kurzem hellen Plisseeunterrock und weißem Atlaskorsett, schwarzen Schuhen und Strümpfen, Schellensporen unter den Absätzen, tritt hinter der spanischen Wand vor, mit dem Schnüren ihres Korsetts beschäftigt. Wenn ich nur einen Abend mal nicht auftrete, dann träume ich die ganze Nacht hindurch, daß ich tanze, und fühle mich am folgenden Tag wie gerädert ...

ESCERNY. Aber was könnte es Ihnen dabei ausmachen, statt dieses Pöbels nur einen Zuschauer, einen Auserwählten, vor sich zu sehen?

LULU. Das könnte mir gleichgültig sein. Ich sehe ja doch niemanden.

ESCERNY. Ein erleuchteter Gartensaal – das Plätschern vom See herauf ... Ich bin auf meinen Forschungsreisen nämlich zur Ausübung eines ganz unmenschlichen Despotismus gezwungen ...

LULU vor dem Spiegel, sich eine Perlenkette um den Hals legend. Eine gute Schule!

ESCERNY. Wenn ich mich jetzt danach sehne, mich ohne irgendwelchen Vorbehalt der Gewalt einer Frau zu überliefern, so ist das ein natürliches Bedürfnis nach Abspannung ... Können Sie sich ein höheres Lebensglück für eine Frau denken, als einen Mann vollkommen in ihrer Gewalt zu haben?

LULU mit den Absätzen klirrend. O ja!

ESCERNY verwirrt. Unter gebildeten Menschen finden Sie nicht einen, der Ihnen gegenüber nicht den Kopf verliert.

LULU. Ihre Wünsche erfüllt Ihnen aber niemand, ohne Sie dabei zu hintergehen.

ESCERNY. Von einem Mädchen wie Sie betrogen zu werden, muß[288] noch zehnmal beglückender sein, als von jemand anders aufrichtig geliebt zu werden.

LULU. Sie sind in Ihrem Leben noch von keinem Mädchen aufrichtig geliebt worden! Sich rücklings gegen ihn stellend, auf ihr Korsett deutend. Würden Sie mir den Knoten auflösen. Ich habe mich zu fest geschnürt. Ich bin immer so aufgeregt beim Ankleiden.

ESCERNY nach wiederholtem Versuch. Ich bedaure; ich kann es nicht.

LULU. Dann lassen Sie. Vielleicht kann ich es.


Geht nach rechts.


ESCERNY. Ich gestehe ein, daß es mir an Geschicklichkeit gebricht. Ich war vielleicht im Verkehr mit Frauen nicht gelehrig genug.

LULU. Dazu haben Sie in Afrika wohl auch nicht viel Gelegenheit?

ESCERNY ernst. Lassen Sie mich Ihnen offen gestehen, daß mir meine Vereinsamung in der Welt manche Stunde verbittert.

LULU. Gleich ist der Knoten auf ...

ESCERNY. Was mich zu Ihnen hinzieht, ist nicht Ihr Tanz. Es ist Ihre körperliche und seelische Vornehmheit, wie sie sich in jeder Ihrer Bewegungen offenbart. Wer sich so sehr wie ich für Kunstwerke interessiert, kann sich darin nicht täuschen. Ich habe während zehn Abenden Ihr Seelenleben aus Ihrem Tanze studiert, bis ich heute, als Sie als Blumenmädchen auftraten, vollkommen mit mir ins klare kam. Sie sind eine großangelegte Natur – uneigennützig. Sie können niemanden leiden sehen. Sie sind das verkörperte Lebensglück. Als Gattin werden Sie einen Mann über alles glücklich machen ... Ihr ganzes Wesen ist Offenherzigkeit. – Sie wären eine schlechte Schauspielerin ...


Die elektrische Klingel tönt über der Tür.


LULU hat die Schnüre ihres Korsetts etwas gelockert, holt tief Atem, mit den Absätzen klirrend. Jetzt kann ich wieder atmen. Der Vorhang geht auf. Sie nimmt vom Mitteltisch ein Skirtdancekostüm – Plissee, hellgelbe Seide, ohne Taille, am Hals geschlossen, bis zu den Knöcheln reichend, weite Blusenärmel – und wirft es sich über. Ich muß tanzen.[289]

ESCERNY erhebt sich und küßt ihr die Hand. Erlauben Sie mir, noch ein wenig hierzubleiben.

LULU. Bitte, bleiben Sie.

ESCERNY. Ich bedarf etwas der Einsamkeit.


Lulu ab.


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Berlin und Weimar 1969, S. 287-290.
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