Erste Szene

[48] KLARA sitzt in schlichter Kleidung am Bettchen und singt mit leiser Stimme vor sich hin.


»Es lief ein Knäblein in den Wald

War munter und geschwind.

Die Mutter sprach. Kehr wieder bald

Und nasche nicht Beeren, mein Kind!«


Und als die dunkle Nacht begann,

Da schlich es sich müde nach Haus.

Die Mutter sprach: »Was hast du getan?

Du siehst ja so kümmerlich aus!«


Das Knäblein sprach: »Wie sollt ich sein,

Ich bin ja frisch und gesund!

Waldmännchen hat Beeren ohne Stein,

Die schmecken so süß mir im Mund!«


Nicht schlief die Mutter die ganze Nacht,

Sie weinte vor Kummer und Harm;

Und als der junge Tag erwacht,

Hielt tot sie das Knäblein im Arm.


Sie hat den Gesang mehrfach durch heftiges krampfhaftes Schluchzen unterbrochen und die letzte Strophe kaum zu Ende singen können. Bei dem Wort »tot« schrickt sie jäh empor und flüstert die letzten Worte nur noch mechanisch vor sich hin. – Darauf sich zusammenraffend. Nein, nein, soweit ist es noch nicht! Über das Bettchen gebeugt. Es schläft ja nur! – Die Händchen – wie kühl! – – Aber es muß seine Tropfen bekommen! Sie geht zur Kommode, füllt einen Löffel aus einem Arzeneiglas, kehrt zum Bettchen zurück, und flößt dem Kind die Medizin ein. Es schluckt die Arzenei und öffnet die Augen nicht – verzieht den Mund nicht – – kein Lächeln mehr! Aufhorchend. Da kommt der Doktor! Endlich! Gott sei Dank! Gott sei Dank! Sie eilt zur Tür und öffnet. Auf die Treppe hinaussprechend. Wer ist denn da? – Ach – Ihr seid es! Verhaltet euch nur bitte ruhig![48]


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 1969, S. 48-49.
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