Dritte Szene

[51] Dr. Schwarzkopf. Die Vorigen. Dann die Vermieterin.


DR. SCHWARZKOPF sich seines Havelocks entledigend. Nun erzählen Sie mir einmal ausführlich, Fräulein Hühnerwadel, wie es Ihnen denn nun heute eigentlich geht.

KLARA ist ans Bettchen geeilt. Kommen Sie! Sehen Sie mein Kind! Wecken Sie das Kind aus dem entsetzlichen Schlaf! Es schläft schon zwei Stunden!

DR. SCHWARZKOPF ist ans Bettchen getreten, befühlt das Kind von oben bis unten und sagt fortwährend »Hm – hm.« – Sich aufrichtend. Jetzt rasch ein heißes Bad! Zu Else. Frau Professor, Sie sind schon so freundlich, mir hier ein wenig an die Hand zu gehen. Ich habe mich bei der Frau da unten im Hause eben schon erkundigt. Sie hat[51] heißes Wasser bereit. Lassen Sie die Frau sofort einen Kübel voll heißes Wasser bringen! So heiß als möglich! Es kann fünfundvierzig Grad Celsius haben!

ELSE hat Hut und Mantel abgeworfen. Gewiß, Herr Doktor! Sofort! Ab.

DR. SCHWARZKOPF zu Klara, die weinend am Bettchen kniet. Nun seien Sie erst mal bis auf weiteres vollständig ruhig, Fräulein Klara. Der Verlauf dieser Krankheit hängt leider mehr vom Charakter der herrschenden Epidemie als von der ärztlichen Behandlung ab. Dem Kind die Brust reibend. Geben Sie acht, gleich wird das Kind wieder schreien.

KLARA die Hände ringend. Musik! Musik! – Was habe ich um deinetwillen auf Gottes Welt schon ausgestanden!

DR. SCHWARZKOPF zu Josef. Als ich eben noch einen Krankenbesuch im Dorfe machte, lief mir unversehens Franz Lindekuh über den Weg. Ich fragte mich: Was hat denn der nur! Er erkannte mich kaum und sprach dabei ununterbrochen laut mit sich selber. Er sagte, er müsse rasch jemanden vom Bahnhof abholen.

JOSEF. Franz Lindekuh hat immer irgend jemanden zur Hand, den er im ungeeignetsten Moment vom Bahnhof abholt! Dieser schadenfrohe Menschenverächter glaubt, wir alle, die wir uns hier auf Erden in den furchtbarsten Qualen winden, seien von Gott nur dazu geschaffen, um ihm durch unsere Gefühlsäußerungen die Zeit zu vertreiben. – Klara den Kopf streichelnd. Klara, du mußt deiner Mutter mit unerschütterlichem Selbstbewußtsein entgegentreten! Du mußt ihr mit unnahbarem Stolz in die Augen sehen. Dann ist deine Mutter glücklich, dich wieder zu haben!

DR. SCHWARZKOPF. Mut, Fräulein Klara! – Wenn die Gewebe nur erst wieder eine gewisse Sättigung zeigen und das Blut wieder kräftig durch die Adern strömt!


Else Reißner und die Vermieterin tragen einen Kübel dampfenden Wassers herein, den sie in die Mitte des Zimmers setzen.


ELSE. Das Bad wird ihm gut tun. Den nackten Arm im Wasser. Alles Kochsalz, das in der Küche war, haben wir hineingeschüttet.[52] Das Salz wird ihm doch wohl nicht schaden, Herr Doktor?

DR. SCHWARZKOPF am Bettchen, gedämpft. Es ist nichts mehr zu wollen. Das Kind ist tot.


Klara schreit jämmerlich auf.


DR. SCHWARZKOPF nimmt sie in die Arme und richtet sie sorglich empor. Nun kommen Sie, Fräulein Klara! Unser Patient sind jetzt Sie! Wir haben jetzt sehr ernst miteinander zu sprechen, und wir haben noch sehr, sehr viel miteinander zu sprechen. Schreien Sie nur, so laut Sie schreien mögen! Tun Sie sich uns gegenüber nicht den geringsten Zwang an! Weinen Sie sich jetzt aus, so viel und so heftig Sie nur weinen können! – Zu der Vermieterin. Tragen Sie das Wasser wieder hinunter!


Die Vermieterin nimmt den Kübel mit Wasser vom Boden und trägt ihn hinaus.


DR. SCHWARZKOPF Klara, die ihr Gesicht wimmernd an seiner Brust birgt, den Kopf streichelnd. Nur weinen! Recht viel weinen! – Sehen Sie, Fräulein Klara, wenn man so liebe und so treue Freunde in dieser Welt sein eigen nennt wie Sie, dann ist es ja unmöglich, daß es einem in Wirklichkeit einmal schlecht geht! Glauben Sie mir, Fräulein Klara, daß ich aus meiner Erfahrung weiß, wie das wirkliche Unglück aussieht! Dagegen gehalten sind Ihre Erlebnisse noch nicht so schwer. – Aber es schüttelt Sie eben doch, es reißt Sie innerlich zusammen, es würgt Ihnen den Hals ein! – Dafür haben Sie eben augenblicklich auch all Ihr aufgepeitschtes Blut im Kopf! – Weinen Sie nur, wir bleiben bei Ihnen! Sie müssen sich jetzt erst wieder vollständig gesund und vollkommen glücklich fühlen! Was Sie in den letzten Wochen erlebt, muß Ihnen ganz und gar aus dem Gedächtnis entschwunden sein, bevor wir Sie aus unserer Gefangenschaft entlassen! – So, und jetzt setzen Sie sich, bitte, in diesen Polstersessel. Er hat einen Strohstuhl zurechtgerückt und läßt Klara sich darauf niedersetzen. Ihr fortwährend Gesicht und Hände streichelnd. Sehen Sie, Fräulein Klara, Sie haben – genau betrachtet – wirklich ein ganz unverhofftes[53] Glück gehabt! An Ihrer Stelle würde ich dem lieben Gott aufrichtig für seine barmherzige Fügung danken. Das Kind, dessen Verlust Ihnen jetzt noch so erbarmungslos das Herz zerfleischt, das liebe Kind wäre in dieser Welt doch wahrscheinlich niemals recht glücklich geworden! Ich als Arzt kann Ihnen die Versicherung geben, daß das herzige, gute Geschöpfchen, ohne es zu ahnen, den besten Weg gewählt hat, der ihm zu seinem Glück offen stand. – Weinen Sie, Fräulein Klara! – Weinen Sie, wir haben Zeit.

ELSE gedämpft. Unter diesen Verhältnissen, Josef, werden wir heute doch jedenfalls noch bei ihr bleiben müssen!

JOSEF ebenso. Selbstverständlich bleiben wir hier! Es ist mir unbegreiflich, wie du daran zweifeln kannst!

DR. SCHWARZKOPF Klara den Kopf streichelnd. Weinen Sie jetzt nur ruhig so weiter. Er geht zu Josef hinüber und sagt leise, aber mit Nachdruck. Das Mädchen darf diese Nacht unter keinen Umständen allein bleiben! Wie ich eben an dem starren glanzlosen Ausdruck ihrer Augen merke, bereitet sich in ihrem Nervensystem ein jäher Zusammenbruch vor. Dieser Nervenschlag könnte sich in vorübergehender geistiger Umnachtung äußern. Jedenfalls muß das Mädchen vor jeder Gemütserschütterung bewahrt bleiben. Die geistige Störung könnte sonst mit Leichtigkeit eine lebenslängliche Schwermut zur Folge haben.

JOSEF während Else zu Klara hinübergeht. Es versteht sich ganz von selbst, Herr Doktor, daß wir die nächsten Tage hier bleiben. Aber was geschieht jetzt mit dem Kind? Man muß die Unglückliche doch jedenfalls baldmöglichst von dem fürchterlichen Anblick befreien.

DR. SCHWARZKOPF immer noch leise sprechend. Das muß natürlich das erste sein. Seinen Havelock anziehend. Ich schicke jetzt gleich die Vermieterin von unten herauf, damit sie das Kind möglichst unauffällig hinausträgt. Derweil stelle ich auf der Gemeindekanzlei den Schein aus und besorge beim Tischler einen kleinen Sarg. Sobald es dunkel geworden ist, tragen wir, Sie und ich, das Kind dann zum Friedhof hinaus. Ich muß Sie aber noch einmal darauf aufmerksam machen, Herr Professor, bewahren[54] Sie das Mädchen vor jeder Art von Aufregung! Ich halte es für sehr gut möglich. daß man einem plötzlichen Nervenkollaps durch gute Pflege und umsichtige liebevolle Behandlung vorbeugen kann. Aber bei dem kritischen Zustand, in dem sich das Mädchen augenblicklich befindet, würde die geringste seelische Erschütterung mit absoluter Sicherheit einen Wahnsinnsanfall auslösen. Ihm die Hand drückend. Aus Wiedersehn! Für die nächste Nacht bekommt sie ohne ihr Wissen ein kräftiges Schlafmittel zu trinken.


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 1969, S. 51-55.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Musik
Musik; Sittengem Lde in Vier Bildern
Musik; Sittengemalde in Vier Bildern
Musik: Sittengemälde in vier Bildern
Musik

Buchempfehlung

Anonym

Historia von D. Johann Fausten

Historia von D. Johann Fausten

1587 erscheint anonym im Verlag des Frankfurter Druckers Johann Spies die Geschichte von Johann Georg Faust, die die Hauptquelle der späteren Faustdichtung werden wird.

94 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon