[83] Albertine. Annchen.
ALBERTINE sitzt nachdenkend an einem Tische. Sie ist ganz weiß, ohne alle Verzierung, gekleidet; ihr Haar ist einfach.
ANNCHEN zählt. Eins, zwey, dreymal herum.
ALBERTINE unruhig, für sich. Meine Mutter bleibt lange.
ANNCHEN sieht an ihr herauf. Nun muß ich wohl wieder abnehmen?
ALBERTINE. Ja, mein Kind.
ANNCHEN den Strumpf freudig betrachtend. Das wird ein Strumpf! eine Masche wie die andere! Mit Freude. Die Mutter lobte mich gestern, daß ich jetzt so fleißig bin.[83]
ALBERTINE. Warst du das nicht immer?
ANNCHEN. Ach nein! Ehe Sie ins Haus kamen, blieb ich keine Minute auf Einer Stelle. Verschämt. Ich lief sogar mit den Kindern auf der Straße herum und spielte.
ALBERTINE. Das war nicht recht.
ANNCHEN. Das war schlecht! Ich bin ja die Aelteste, und soll meiner Mutter unter die Arme greifen.
ALBERTINE für sich, mit Schmerz. Ich kann das nicht mehr.
ANNCHEN freundlich hinblickend. Sie haben mich das gelehrt.
ALBERTINE mit verstärktem Ausdruck, indem sie aufsteht. Ich kann das nicht mehr.
ANNCHEN steht auch auf. Wollen Sie in den Garten?
ALBERTINE. Nein – mein Kind.
ANNCHEN. Sie sind so unruhig?
ALBERTINE. Ja – denn ich erwarte – Sich fassend. es ist so ängstlich hier. Oeffne doch das Fenster.[84]
ANNCHEN läuft hin, öffnet gegenüber das Fenster, und kommt zurück. Darf ich Sie hinführen?
ALBERTINE. Ich kenne ja den Weg. Geht an ihr vorüber.
ANNCHEN bleibt stehen und sagt traurig. Aber – ich führe Sie so gerne.
ALBERTINE bleibt auf der Mitte der Bühne stehen und sagt gutmüthig, indem sie ihr die Hand reicht. So führe mich denn.
ANNCHEN springt freudig hin und führt sie zum Fenster.
ALBERTINE wie sie dort steht. Ich danke dir. Aber jetzt, Annchen, lasse mich allein.
ANNCHEN besorgt. Sie sind böse auf mich?
ALBERTINE. O nein.
ANNCHEN. Und schicken mich doch fort?
ALBERTINE. Ich erwarte meine Mutter.
ANNCHEN. Darf ich auf den Abend wieder kommen?
ALBERTINE. Immerhin.[85]
ANNCHEN. Und – wenn ich meine Aufgabe fertig habe, und Sie zufrieden mit mir sind, dann erzählen Sie mir, nicht wahr?
ALBERTINE mit Erbitterung. Dir? ja, dir darf ich erzählen. Ein Ammenmährchen, das verweigert man uns nicht.
ANNCHEN. Neulich von den Kindern, die ihren Aeltern mit Undank vergolten, und denen es recht schlecht dafür ging.
ALBERTINE. Gehe, mein Kind!
ANNCHEN. Wissen Sie aber, was mir noch mehr Freude macht, als wenn Sie mir erzählen?
ALBERTINE zerstreut. Nun?
ANNCHEN. Wenn Sie mit uns bethen.
ALBERTINE ihr die Hand reichend. Du bist ein frommes Kind.
ANNCHEN. Ja, aber so fromm, wie Sie, bin ich nicht. Wenn Sie die Hände falten, und mit den trüben Augen zum Himmel hinaufsehen, da denke ich – der liebe Gott kann Ihnen nichts abschlagen. Und wenn ich Sie nach dem Gebethe ansehe, so ist es mir, als ob[86] Sie ein Engel wären, den mir der liebe Gott vom Himmel schickt.
ALBERTINE. Genug, Kind!
ANNCHEN. Die Mutter sagt alle Tage, mit Ihnen sey der Segen Gottes bey uns eingekehrt; Sie lehrten sie mit der feinen Wäsche umgehen, und jetzt hat sie Arbeit genug. Aber früher sind wir oft hungrig zu Bette gegangen.
ALBERTINE. Annchen – gehst du noch nicht?
ANNCHEN. Gleich, gleich! – Wenn Sie mich fortschicken, geh' ich immer etwas langsam. Aber wenn Sie mich rufen, da möchte ich Flügel haben, um nur recht bald bey Ihnen zu seyn. Bittend. Rufen Sie bald. Sie wissen wohl, ich bin nie weit von ihrer Thüre. Küßt ihr die Hand und sagt schmeichelnd. Werden Sie rufen? ja? bald? – recht bald, recht bald! Schnell durch die Mitte ab.
ALBERTINE allein, tritt vor und sagt nach einer Pause. Auch diese Hoffnung vernichtet! es war die letzte! sie erhielt mich aufrecht. Reglos, erblindet, ihr zur Last! Geht ein paar Schritte und sagt dann lebhaft. Ich soll nicht schreiben! nicht aus meinem Innern schöpfen; verhüllt liegt Gottes weite Schöpfung vor mir, und das, was in mir lebt, soll auch verstummen? Wohl hatte mein Vater recht, als ich ihm einst zu seinem Geburtstage ein Gedicht brachte, meine Bücher[87] und Papiere in das Feuer zu werfen, damit ich nicht dereinst verspottet würde, sagte er! Mit Schmerz. Ich bin – ich bin verspottet. Nach einer Pause. Und wie ehrte ich sein Wort! wie erstickte ich den Drang, der mich zum Schreibtisch zog, bis mir Gott das Augenlicht nahm; da erglimmte dieser Funke auf's neue; er sollte mir durch's Leben leuchten, auch er verlöscht! Nacht in, Nacht außer mir! O wäre meine Mutter nicht, ich bäthe Gott um Grabesnacht, dann würde mir wohl. Bleibt mit gesenktem Haupte stehen.
Buchempfehlung
Camilla und Maria, zwei Schwestern, die unteschiedlicher kaum sein könnten; eine begnadete Violinistin und eine hemdsärmelige Gärtnerin. Als Alfred sich in Maria verliebt, weist diese ihn ab weil sie weiß, dass Camilla ihn liebt. Die Kunst und das bürgerliche Leben. Ein Gegensatz, der Stifter zeit seines Schaffens begleitet, künstlerisch wie lebensweltlich, und in dieser Allegorie erneuten Ausdruck findet.
114 Seiten, 6.80 Euro