[157] Es ist nicht leicht, den Dank, der dem Dichter Gustav Meyrink abzustatten ist, mit dem äußeren Anlaß eines Geburtstages zu verbinden. Es wäre leichter, ließe sich dem Ereignis dieser sechzigsten Wiederkehr eine zeitliche Bedeutung zuerkennen, ließe sich jener biographische Rückblick anstellen, zu dem sonst die Rundung eines so großen Abschnittes Lebens, einer so schmerzlich-unbedingt größeren Hälfte Lebens den Anlaß gibt. Wer aber, dem Meyrinks Gesicht aufging in einem Gespräch oder aufstieg aus einer Seite des »Golem« oder sonst eines Buches, wer wollte ihm gegenüber wagen, diese sechzig Jahre allzu ernst zu nehmen? Was können sie bedeuten für einen Menschen, der, so in der Ewigkeit zu Hause wie Meyrink, mit seinen Gestalten durch Jahrhunderte geht, war, wiederkehrt und sein wird, bedingungslos und überlegen?! Ach, es ist nichts- zu wollen mit diesen sechzig Jahren.... Schweigen wir also von ihnen und reden wir von dem Werk. Reden wir von dem Werk um jener schwebenden Leichtigkeit willen, die von ihm uns überkommt. So seltsam es ist: aus allem Blut und Grauen, das in den meisten dieser Seiten eingefangen ist, bleibt am Schluß eine schwebende Leichtigkeit. Aus der Verkettung des Körperlichen und Seelischen mit aller irdischen Qual steigt für die Erinnerung das Lächeln des Schwerelosen. Man muß nicht unbedingt an den Löwen Alois denken, an Amadeus Knödlseder, den unverbesserlichen Lämmergeier, oder[157] an Tschitrakarna, das vornehme Kamel; auch nicht an diese wundervoll boshafte Verhöhnung Frenssens in den Parodien »Jörn Uhl« und »Hilligenlei«. Oder vielmehr: ja, man erinnere sich ihrer. Man erinnere sich, da doch vom Lächeln die Rede war, auch dieses grasfressenden, gänseblümchenbekränzten Löwen, jenes ältlichen Gemsenfräuleins mit Hornbrille und schottischem Plaid, man erinnere sich all dieser Arabesken des Werkes, in denen ein Feuerwerk von Witz und Hohn sich entlädt. Hohn auf das Bürgerliche in jeder Form: auf das Behagen, die Selbstgefälligkeit, auf die »Moral« des Spießers, im »Wunderhorn« ihm noch besonders und mit Betonung zugeeignet. In den Romanen, vom »Golem« bis zum »Engel vom westlichen Fenster«, in den besten Novellen ist für diesen Hohn kein Platz. Hier existiert das Bürgerliche nicht mehr; es existiert höchstens als die vermeinte Grundlage einer Existenz und wird in seiner Nichtigkeit, noch mehr: in seinem Nichtvorhandensein schon offenbar beim ersten Schritt, den dann ein Mensch vor unsern Augen auf diesem nicht vorhandenen Boden tut. Nichts ist so, wie zu sein es vorgibt, nicht das Alltäglichste, das Vertrauteste: alles verwandelt sich, wird anders und bleibt im Grund doch, wie es war. Meyrink, in der östlichen Mystik zu Hause wie keiner, gleicht etwas jenem indischen Fakir, dem unsere Einbildungskraft so willenlos ausgeliefert ist, daß sie das Unerhörteste unseren Sinnen glaubhaft macht. Mit diesem Unterschied: daß wir nicht wie von einem tollen Traum benommen zur »Wirklichkeit« zurückerwachen; mit diesem Unterschied: daß etwas wie eine schwerelose Heiterkeit in unserm Blut zurückbleibt, Erkenntnis der Einheit aller[158] unserer Begriffe von Schmerz und Freude, Lust und Qual, Irrtum und Wahrheit, Vergangenheit und Zukunft. Es ist nicht die entsagende Weisheit Buddhas und seines Nibbanam; doch es ist eine Ahnung der unlösbaren Verkettung alles Geschehens und seiner letzten Undeutbarkeit, die unser Gewissen entlastet. Die Welt, wie Meyrink sie uns gibt, ist absolut; sie lebt aus der letzten Sekunde der Spannung ihrer Kräfte; sie trägt sich selbst, sie bedarf unseres Zutuns nicht.
Wir lieben, bedrängt von der Entscheidung, beladen mit Verantwortung, gepeinigt von der Züchtigung einer armselig uns begrenzenden Vernunft – wir lieben diese Welt so, wie wir alles lieben, was uns leichter und heimatloser im Irdischen macht. So grüßen wir Gustav Meyrink, der mit seinen Gestalten durch die Jahrhunderte geht, war und sein wird. So daß nichts, gar nichts zu wollen ist mit diesen sechzig Jahren....[159]