Sechs und zwantzigste Fabel.

Zwischen dem Moß-Rohr, und Eich-Baum erhebte sich ein Streitt, wer stärcker aus ihnen seye.

[770] Dem Eichbaum roche solche Vermessenheit gewaltig in die Nasen, daß ein schwaches Rohr sich unterstehen durfte, mit ihme der Stärcke halber einen Zanck anzufangen; brache demnach in allerhand Laster-Wort wider dieses Mißgewächs aus. Das Rohr schwiege zwar dazumahl still, und erwartete der Gelegenheit. Nicht lang hernach entstunde mit vielem Sausen und Brausen ein gewaltiger Sturmwind. Und weilen der Eichbaum sich nach allen Kräften widersetzte, wurde er von der Wurtzel ausgerissen, [770] und umgestürtzt; das Moß-Rohr aber, weilen es sich auf alle Seiten boge, neigte, und nachgabe, bliebe unverletzt stehen. Wie der Scharmützel fürüber, und das Rohr den Eichbaum an dem Gestatt der Länge nach liegen sahe, und ihm niemand mehr aufhelfen konte, spottete es desselben weidlich, und fragte, wer stärcker seye? Der nach vollendter Schlacht liege, oder stehe? etc. Æsopus in Fabulis.


Freylich ja ist es kluger gehandelt, nachgeben, als sich einem grösseren Gewalt widersetzen, deme man doch nicht gewachsen ist, massen das Rohr gethan hat.

Quelle:
Wenz, Dominicus: Lehrreiches Exempelbuch [...] ein nutzlicher Zeitvertreib als ein Haus- und Les- Buch. Augsburg 1757, S. 770-771.
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