Drittes Kapitel

[726] Herrmann wurde weniger durch den Ton dieses Briefes aufgeheitert als in dem Entschlusse, Ulriken zu meiden, befestigt: er wußte sie glücklich oder doch solchen Umständen nahe, die sie vor Not und Bekümmernis schützten: was verlangte er weiter zu seiner Ruhe? – Er hatte in keiner gesetzmäßigen Ehe mit ihr gelebt; nur wenige Personen wußten um das Geheimnis ihrer Niederkunft; der Zeuge, der es offenbaren konnte, war nicht mehr am Leben: was hinderte also eine Trennung, wenn Ulrikens Glück sie foderte? – Die bisherigen Schicksale hatten seiner Vernunft die Augen geöffnet und so sehr emporgeholfen, daß die Liebe zwar zuweilen wider sie murrte, aber doch nicht mehr allein das Wort in seiner Seele führte; er liebte also Ulriken mehr mit Verstande als Leidenschaft, und das Verlangen nach ihrem Besitze war dem Wunsche für ihr Wohlsein untergeordnet; er sah deutlicher als jemals ein, daß sie dies Wohlsein von jeder Hand eher als von der seinigen empfangen konnte: wenn mußte ihm also eine Trennung weniger schwer werden als itzt?

Nächstdem hatte sich in der Kummerperiode seiner Ökonomie und in den sechs Wochen seines Witwerstandes der Ehrgeiz wieder bei ihm emporgearbeitet: er fühlte, daß seine Kräfte weit über alles waren, was er bisher tat und unternahm: Vergnügen, Spiel, Liebe füllten seine Tätigkeit nicht ganz aus. Er selbst war bei allen bisherigen Entwürfen, Empfindungen und Handlungen das letzte Ziel gewesen; und[726] gleichwohl hatten die Beispiele großer berühmter Männer und die darauf gestützten Grundsätze, die ihm Schwinger in seiner ersten Jugend vorlegte, ihn eine weitere Sphäre kennengelehrt, wo man Wirkung außer sich verbreitet, wo für den Vorteil andrer durch unsre Tätigkeit etwas entsteht, wo nicht bloß zwei oder drei Menschen erkennen und empfinden, daß wir da sind, sondern tausend und mehrere den Einfluß unsers Daseins fühlen. – Er hatte bis in sein sechzehntes Jahr den Grafen Ohlau als die Seele eines ganzen Hauses Befehle austeilen und Anordnungen machen sehen: wie sollte sich in seinen tätigen Geist nicht die Begierde, zu herrschen, eindrücken? die Begierde, andre Menschen, wo nicht nach seiner Vorschrift, doch wenigstens nach seinem Muster denken, empfinden, reden, handeln zu sehn? – Die Pracht des Grafen, seine Gewohnheit, alles mit Feierlichkeit oder Aufsehen zu tun, teilte der richtiger gestimmten Seele des jungen Herrmanns zwar nicht die Liebe zur Kleiderpracht, zu schönen Equipagen, wohlbesetzten Tafeln und ähnlichen Herrlichkeiten mit, aber doch das Verlangen, durch seine Handlungen Aufmerksamkeit und Bewunderung zu erregen. – Die Wichtigkeit, womit ihn die Gräfin anfangs behandelte, erweckte und nährte in ihm die eigne Idee von seiner Wichtigkeit; und da ihn in der Folge wegen seiner geringen Umstände niemand wichtig finden wollte, so wuchs der Wunsch, es zu werden, desto mehr in ihm. Der Mangel an Vermögen und Geburt ließ es ihm gar nicht einkommen, alle diese Wünsche und Begierden auf die nämliche Weise wie der Graf Ohlau befriedigen zu wollen: halb aus Neid setzte er die Weise, wie sie der Graf befriedigte, sogar bei sich herab: er wurde also notwendig nach den Dingen hingetrieben, die Schwinger seiner Ehrbegierde vorhielt, nach guten, edlen, nützlichen Handlungen: die Spiele seiner ersten Jahre mit den römischen und griechischen Gipfköpfen, wo er so viele politische Anordnungen und Staatsgeschäfte besorgte, bestimmten gewissermaßen die Art der guten und nützlichen Handlungen, das Feld, wo er glänzen wollte. Die Verachtung, worinne er nach dem vorübergerauschten Taumel der hochgräflichen[727] Gewogenheit seine Jugendjahre zubrachte, gab ihm immer mehr Geringschätzung der äußerlichen Vorzüge und seiner Ehrbegierde immer mehr die Richtung, die sie bereits anderswoher empfangen hatte. Die republikanischen Ideen, die er aus seiner Lektüre in seinen Gipssenat übertrug und seiner Phantasie so geläufig machte, daß er mit der lebhaftesten Teilnehmung Empörungen dämpfte, Rebellen züchtigte, Gesetze vortrug und verwarf – diese beständige Wachsamkeit über Angelegenheiten eines so großen Körpers wie das römische Volk: die Handlungen der Antonine, der Titus, der Marc Aurele, die halbe Welten beglückten – alle diese Ideen erweiterten immer mehr den Zirkel, den die Imagination seiner Tätigkeit vorzeichnete.

Seine so erzeugte, so gebildete, so gelenkte, so gestärkte Ehrbegierde mußte unter den Schicksalen, die ihn nach seiner Entfernung von des Grafen Schlosse trafen, unaufhörliche Neckereien ausstehen: bald rief sie ein günstiger Sonnenblick aus ihrem Winkel hervor, und gleich mußte sie vor einem Unglück oder einer andern Leidenschaft wieder zurückkriechen: durch solche unaufhörliche Krisen wurde sie mitten unter der Herrschaft der Liebe und des Vergnügens wach und munter erhalten. Itzt waren die Begeisterungsszenen der Liebe fast alle durchlaufen: er wußte, wieviel Wahres und wieviel Einbildung in ihren Freuden ist; Not und Verlegenheit hatten ihn das Verhältnis ihrer Täuschungen zu der wirklichen Welt außer ihm gelehrt: was war natürlicher, als daß die Ehrbegierde, die bisher nur als Dienerin und allein zum besten der Liebe gearbeitet hatte, sich itzo nach gemindertem Widerstande zur Selbstherrscherin in seiner Seele erhob und die Liebe unter sich erniedrigte? – Man kann nicht entschlossner sein, als er es unmittelbar nach der Durchlesung jenes Briefes war, dem Rufe, den er enthielt, nicht zu folgen.

Sonderbar, daß itzt die Liebe dem Ehrgeize so hülfreich die Hände bot, als der Ehrgeiz vorher der Liebe gedient hatte! Der nämliche Brief eröffnete auch seiner itzigen herrschenden Neigung eine schmeichelhafte Aussicht, die er bei dem[728] ersten Durchlesen desselben ganz übersah: er gab ihm Hoffnung zu einem Platze bei einem Präsidenten, der ein ganzes Land eigenmächtig regierte: wozu konnte ein solcher Platz nicht führen? – Kaum hatten seine Gedanken diesen Pfad betreten, so lief schon seine Einbildungskraft auf ihm bis ins Unendliche fort: so entschlossen er anfangs war, nicht an einen Ort zu gehn, wo die Liebe seinem Emporkommen Eintrag tun könnte, so notwendig, so heilsam schien es ihm nach einer zweiten Überlegung, diesem Orte sobald als möglich zuzueilen. »Der Zwang, welchen wir unsrer Liebe auferlegen müssen, wird sie in den Schranken halten, die Ulrikens Glück und das meinige fodert«, sagte er sich zu seiner Bestärkung in dem neuen Entschlusse, brachte eilfertig seine Angelegenheiten vollends zustande, nahm von Fräulein Hedwig und seinem Vater Abschied und begab sich auf die Reise.

Er hatte im ersten Feuer seiner Entschließung nicht bedacht, daß Madam Dormer die vormalige Vignali war, in welchem Verhältnisse er ehemals mit dieser Frau stund und mit welchen Gesinnungen er sich in Berlin von ihr schied. Kurz vor der Ankunft fiel ihm dies erst ein, und noch mehr fühlte er es bei dem Empfange: doch Madam Dormer hatte nicht aufgehört, Vignali zu sein, sondern wußte immer noch mit ihrer vorigen Feinheit ihre Empfindungen zu verbergen, eine entgegengesetzte Miene anzunehmen und andern eine solche Gemütsverfassung mitzuteilen, als sie haben sollten. Sie schwatzte Herrmanns mißtrauische Zurückhaltung sehr bald hinweg und stimmte ihn auf den weniger vertraulichen, aber offnen, ungezwungnen Ton, den er itzt gegen sie annehmen sollte. Sie lehrte ihn die Kunst, Dendriten zu polieren, und verschaffte ihm einen, der die Schlacht bei Molwitz nach dem Leben vorstellen sollte, machte den Obersten begierig, den Besitzer dieses seltnen Kunstwerks kennenzulernen, und der Weg zu Ulriken war offen: der Oberste fand zwar diese Vorstellung seiner Lieblingsschlacht weniger natürlich als die andre, die er schon besaß, zweifelte sogar, ob sie es sein möchte, allein er nahm doch den Stein mit vielem Danke an und bezeugte dem Geber des Geschenkes überaus viele[729] Gewogenheit, die sich durch Herrmanns warmen Eifer für die edle Polierkunst und die weitläuftigen Kenntnisse, womit er prahlte, täglich vermehrte: der Oberste freute sich, ein so tüchtiges Subjekt in seine Werkstatt zu bekommen, nahm ihn wie einen wandernden Gesellen in Arbeit und lobte allenthalben, ohne weitre Beweise, den großen Kopf und die herrliche Talente dieses Fremden. Weil in dem kleinen Städtchen der gute und böse Ruf eines Menschen den Umlauf in einem Nachmittage so völlig machte, als wenn er von der Kanzel verlesen worden wäre, so wies man schon den andern Tag, nachdem Herrmann des Obersten Bekanntschaft gemacht hatte, mit Fingern auf ihn, und bei Hofe und in der Stadt wurde allgemein von nichts als dem neuangekommnen Menschen mit dem großen, gescheiten Kopfe gesprochen: die Mädchen lauerten an den Fenstern auf ihn, und die Mannspersonen gingen aus, um ihm zu begegnen. Madam Dormer tat das ihrige redlich, die allgemeine Aufmerksamkeit bei Leben zu erhalten, und erinnerte den Präsidenten bei der nächsten Gelegenheit an sein Versprechen: er gestand zwar, daß er die Wundergaben des vorgeschlagnen Subjekts von dem Obersten Holzwerder selbst erfahren habe, aber demungeachtet wollte er vorsichtig verfahren und seine Entschließung noch ein halbes Jahr verschieben. Madam Dormer bat um Erlaubnis, ihren Klienten zeigen zu dürfen: – »Das ist nicht nötig«, war die Antwort. Sie ließ das Gespräch sogleich fallen und erkundigte sich sehr ehrfurchtsvoll nach des Herrn Präsidenten Turteltauben: sie mußte sie in eigner Person besuchen. – »Der junge Mensch«, fing sie an, »von dem ich vorhin sagte, wird für Ihre Täubchen sehr brauchbar sein, wenn er noch die Gnade erlangt, in Ihre Dienste zu kommen: er hat überhaupt starke Kenntnisse von den Vögeln und besitzt auch sehr viele Geheimnisse, ihre Krankheiten zu heilen, verlorne Stimmen wiederzuschaffen, und besondre Geschicklichkeit, den Pips zu benehmen.« – »Was?« rief der Präsident, »den Pips zu benehmen? das weiß er? Er soll kommen, gleich zu meinem Kanarienvogel kommen: das arme Tier hat ihn auf den Tod. Er muß ein kluger Kopf sein.« – »Allerdings!«[730] antwortete Madam Dormer. »Er hat sich auf dem Lande mancherlei Kenntnisse dieser Art erworben: er ist stark in der Ökonomie.«

Der Präsident. Ökonomie versteht er? Das ist ja ein Mensch, wie ich ihn haben will. Er muß ein gescheiter Kopf sein.

Madam Dorner. Eine Zeitlang hat er sich auch mit Wettergläsern abgegeben –

Der Präsident. Auf die Wettergläser versteht er sich? Das ist mir gerade recht: ich habe itzo nur vier aufgestellt, aber ich kann doch nicht damit herumkommen, und mein Schreiber bringt mir beständig falsche Beobachtungen. Der Mensch ist auf die Art recht für mich gemacht: es muß ein gescheites Kerlchen sein. Es tut mir recht leid, daß ich ihn nicht gleich annehmen kann: aber ich habe unterdessen nach Leipzig, Göttingen und Altorf geschrieben, daß man mir auf diesen berühmtesten Universitäten die besten Subjekte aussuchen und vorschlagen soll; denn ich möchte doch gern einen ganzen Kerl haben, der in allen Wissenschaften wohl beschlagen ist: die Ökonomie muß er aus dem Fundamente verstehn; in der Physik, Mathematik und Jurisprudenz muß er völlig zu Hause sein, eine hübsche, leserliche Hand schreiben, ein paar Sprachen sprechen, besonders lateinisch und französisch – denn in den Sachen, die er mir abschreiben muß, kommen sehr oft lateinische und französische Wörter vor –, und hauptsächlich sich auf Wettergläser und Vögel verstehen.

Madam Dormer. Aber Sie brauchen so notwendig einen Sekretär –

Der Präsident. Ja, das seh ich nunmehr wohl ein: ich habe mir vorher gar nicht eingebildet, daß er mir so nötig ist: aber ich muß doch warten, bis die Subjekte von den drei Universitäten ankommen, damit ich das Auslesen habe und dasjenige wählen kann, das in allen Wissenschaften wohl beschlagen ist. Ich gebe einen ansehnlichen Gehalt: er soll jährlich vierzig Taler bekommen, und wenn er noch ein paar Wissenschaften mehr versteht, als ich verlangt habe, kömmt es mir auf zehn Taler nicht an: alsdann soll er funfzig haben. –

Ob man gleich das Gespräch noch eine kurze Zeit in diesem[731] Tone fortsetzte und darauf dem Gimpel einen Besuch abstattete, mit welchem der Herr Präsident um die Wette pfiff, so konnte doch Madam Dormer für diesmal mit allem ihrem Betreiben nicht weiterkommen Desto glücklicher war der Oberste bei der Fürstin: er nützte eine ihre guten Launen, als sie sich auf einem Vorwerke befand, wo sie mit den ländlichen Beschäftigungen zuweilen so angenehm spielte wie Ulrike sonst auf ihrem Bauergütchen und jedesmal so aufgeräumt war, daß sie nichts abschlagen konnte: sie gewährte dem Obersten ohne alle Weigerung sein wohlabgepaßtes Ansuchen und befahl auf der Stelle, die Baronesse herauszuholen, welches auch ohne Verzug geschah. Ulrike war mit der Landwirtschaft besser bekannt als die übrigen beiden Hofdamen, deren Kenntnisse sich nicht über die Milch erstreckten, von welcher sie die Sahne zum Kaffee abschäumten; und durch die Emsigkeit und Erfahrenheit, womit die neue Hofdame alles angriff, gewann sie in einem Nachmittage die völlige Gnade ihrer Gebieterin. Die Gesichter der beiden weniger erfahrnen Fräulein wurden von Minute an so übertrieben süß wie ihre Herzen bitter: allein da Ulrike die Herzen nicht sehen konnte, pries sie sich in ihrem neuen Posten darum glücklich, weil sie die Gnade ihrer Fürstin und die Freundschaft ihrer Kolleginnen besaß.

Sonach war Herrmanns Vergnügen schon wieder aus: so eingeschränkt und gezwungen auch sein Umgang mit Ulriken bisher gewesen war, so sah er sie doch täglich und konnte zuweilen durch versteckte Reden und verstohlne Blicke die alte Vertraulichkeit erneuern. Das Polieren der Dendriten wurde ihm nunmehr langweilig und der Oberste mit ihm unzufrieden, weil sein Fleiß erkaltete: Madam Dormer vermochte mit aller Kunst und Verschlagenheit nichts über den Präsidenten: der Gimpel, nach welchem sie geschrieben hatte, blieb auch ewig außen: wer sollte in solchen Umständen nicht verdrießlich werden? Was Herrmanns Verdruß erleichterte, war der Umgang seiner Wirtin und ein geheimer Briefwechsel mit Ulriken, wobei Madam Dormer das Postwesen besorgte. Aus den vornehmsten, die Ulrike[732] schrieb, sollen hier solche Stellen einen Platz finden, die Schilderungen ihrer gegenwärtigen Lage und der Personen enthalten, die auf ihr künftiges Schicksal den meisten Einfluß haben werden.


den 6. November.


– – Es lebe der Hof. So glücklich bin ich noch nie gewesen als itzo – versteht sich, insofern ich's ohne Deinen Umgang sein kann! Die Fürstin begegnet mir so vertraulich, mit so freundschaftlicher Zärtlichkeit, daß es mich rechte Mühe kostet, den Abstand zwischen ihr und mir nicht zu vergessen: sie beschenkt mich sehr oft, aber immer mit Putze: wenn's nur Geld wäre, daß ich es mit Dir teilen könnte! Freilich ist sie sich sehr ungleich, und in ihren trüben Launen bekömmt man so viele empfindliche Bitterkeiten als Liebkosungen und gnädigste Freundlichkeiten – wie mein Mädchen sich ausdrückt – in den heitern Stunden. Das bin ich von Onkel und Tante noch gewohnt: die Gnade genieß ich wie den Sonnenschein; ich wärme mich daran und bin munter und vergnügt, daß die liebe Sonne so hübsch warm scheint: kömmt ein Donnerwetterchen der Ungnade, ein Platzregen, ein wenig Schnee mit kleinem Hagel vermischt- ›immerhin!‹ denk ich; ›es regnet und hagelt und donnert ja nicht das ganze Jahr: wenn das Übergängelchen vorbei ist, will ich mich wieder an der Sonne trocknen.‹ – Also steh ich unbeweglich und gefühllos da wie ein Baum und lasse mich geduldig naß- und vollregnen: komm ich zu meinen beiden Freundinnen, dann wird das Herzeleid weggetanzt, weggesungen, weggeplaudert. Ich habe Dir schon einmal geschrieben, daß die jüngste unter meinen Kolleginnen entsetzlich wild ist: bis zur Unerträglichkeit ist sie es zuweilen: die Alte spielt alsdann die weise Hofmeisterin und lehrt und ermahnt so lange, bis sie von der Lustigkeit angesteckt wird und die tollen Streiche mitmacht, die sie vorher verboten hat. Fräulein Ahldorf – das ist die Jüngste – hat eine ganz eigne Neigung, auf Steckenpferden zu reiten: jeder Stock, der ihr in die Hände kömmt, muß ihr zum Steckenpferde dienen: auf Stecken reiten, Rosinen und Mandeln aus der Tasche essen und sich über die Leute aufhalten,[733] sind die drei Hauptzüge ihres Charakters. Ehegestern traf ich sie bei einem solchen Ritte an: sie trabte auf dem Blondenstocke in dem Zimmer herum, die alte Limpach saß am Tische und arbeitete und kiff und brummte über das Reiten wie sonst meine Gouvernante Hedwig: wenn das Knurren gar zu unleidlich wurde, legte ihr die Ahldorfin bei dem Vorbeireiten eine Rosine oder Mandel auf den Tisch, die die Alte wie ein Eichhörnchen aufpickte, und solange sie mit dem Essen beschäftigt war, welches bei ihr etwas langsam zugeht, schwieg die Strafpredigt. Endlich, da das Knurren gleich wieder anging, sobald die Bestechung verzehrt war, hatte die Ahldorfin die Bosheit und bot ihr einen Schecken, wie sie den weißen Stock nennte, zu einer Kavalkade an: die Alte stritt und schmälte und wehrte sich wie vor einem Verbrechen; aber die boshafte Ahldorfin, die sie kennt, drang so lange in sie, bis sich die Gesetzpredigerin bereden ließ und einen kleinen Trab versuchte: so geht's der schwachköpfigen Alten jedesmal, daß sie sich am Ende für ihre heilsamen Lehren auslachen läßt. Um das Gelächter zu vermehren, kam der Goldmacher dazu, der Altgesell in des Obersten Fabrik: der elende Mensch ist der allgemeine Narr des ganzen Hofs: sobald er erscheint, führt die Ahldorfin ihre Steckenpferde gleich in den Stall, um ihn herumzutummeln. Das Mädchen hat alle kriegerische Neigung von ihrem Vater geerbt, der, glaub ich, General gewesen ist; denn sie spielt mit nichts lieber als mit Soldaten und Kanonen. Der Apotheker, der ein Tausendkünstler sein will, bringt ihr immer ganze Taschen voll Musketiers, Grenadiers, Reiter und Kanonen, aus Kartenblättern geschnitten: das alte Kind stellt alsdann mit der Ahldorfin die Kartenarmee in Schlachtordnung, und sie brauchen Erbsen statt der Kanonenkugeln, womit sie auf die armen Papiermänner losfeuern, daß sie Hals und Beine brechen: sind die beiden feindlichen Heere sämtlich daniedergeschossen – denn gewöhnlich kömmt auch nicht ein Mann mit dem Leben davon –, so kanonieren sich die beiden Heerführer, und der arme Apotheker zieht meistens den kürzern: wenn seine Gegnerin ihre Erbsen verschossen[734] hat, wirft sie ihm Rosinen, Mandeln, Schnupftuch, Schere und was sie sonst in den Schubsäcken oder in der Nachbarschaft um sich findet an den Kopf: für die Limpachin ist dieser letzte Teil der Komödie der interessanteste, und sie beweist sich außerordentlich geschäftig dabei. So vertreiben wir uns die Zeit in den itzigen ewigen Winterabenden: zuweilen wird Blindekuh oder ein andres Spiel von diesem Schlage gemacht; aber bei jedem ist der Apotheker die lustige Person, auf dessen Unkosten gelacht wird. Mir ist der Mann dadurch, daß er sich mit so großem Vergnügen von jedermann zum Narren gebrauchen läßt, äußerst verächtlich geworden: er macht freilich den weisen Unterschied, daß er niemanden Spaß mit sich treiben läßt, der nicht wenigstens von Adel ist; aber er kömmt mir wegen dieses Unterschiedes nur noch kleindenkender und armseliger vor, weil er von der Würde eines Menschen gar kein Gefühl haben muß. Ich kann nicht mit ihm reden; und er nimmt mir's sogar übel, daß ich ihn nicht zum Narren habe, und schilt mich deswegen stolz. Überhaupt weiß ich nicht, warum ich hier allgemein für stolz gehalten werde: bin ich's denn wirklich? Bei dem Onkel tadelte man mich beständig, weil ich zu lustig und zu gemein sein sollte; und hier muß ich mir unaufhörlich Stolz und Ernsthaftigkeit vorrücken lassen. Freilich ist es wohl war, ich muß mich meistens zum Lachen zwingen, wenn die andern beinahe den Atem verlieren, und mit den Leuten wie der Apotheker, deren es hier eine Menge gibt, kann ich mich unmöglich einlassen: sie sind so plump oder so dumm, daß sie mir zu ekelhaft werden, um etwas Lächerliches an ihnen zu finden. Zum Glücke muß ich oft bei der Fürstin sein und ihr aus einem Romane oder andern Büchern erzählen. Sie gibt mir das Lob, daß ich sehr gut erzähle; und sie hat das eigne Unglück, daß sie weder selbst lesen noch vorlesen hören kann: sie läßt also die Bücher kaufen, ich muß sie lesen und ihr das Gelesene wiedererzählen. »Es klingt nicht so natürlich in den Büchern«, sagt sie, »als wenn mir's jemand mündlich erzählt.« – Am liebsten hört sie Feenmärchen und Gespensterhistorien: je ungereimter und abenteuerlicher, je[735] lieber: ich habe die Zeit her des Zeugs so viel lesen müssen, daß ich alle Nächte von Ogern, Kobolden, Hexen, bezauberten Prinzessinnen und geflügelten Drachen träume. Von den Büchern, wo sich die Leute lieben und heiraten, will sie gar nichts hören: das nennt sie Alfanzerei, verliebte Possen. Aus Trauerspielen läßt sie sich am liebsten erzählen, wenn sie recht gräßlich sind: im Komischen sind Holberg und Molière ihre Leibautoren, aber der letzte nur szenenweise. Wenn sie selbst liest oder sich vorlesen läßt, muß das Buch französisch und nicht stark sein. Nichts wundert mich so sehr, als daß sie im Französischen für die besten Sachen, und im Deutschen nur für die schlechten Geschmack hat: ich stimme überhaupt selten mit ihren Urteilen überein, ob ich es gleich nicht merken lassen darf: was mir nur mittelmäßig scheint, hält sie immer für das schönste. Am höchsten steigt meine Verwunderung, wenn sie sich mit einen von den privilegierten Narren abgeben und über ihre plumpen Einfälle lachen kann, als wenn es die sinnreichsten Bonmots wären: der Apotheker und einer von den Laufern müssen sich zuweilen in ihrer Gegenwart schrauben, wie es hier genennt wird, und die Schrauberei geht oft so weit, daß der eine dem andern einen Bart macht, ein Bein stellt oder ihn mit Kot bewirft, daß er nicht aus den Augen sehen kann. Mein Unglück ist es, daß ich die Widrigkeit, die ich bei solchen Lustbarkeiten empfinde, unterdrücken und noch obendrein mitlachen muß. – – –


den 16. November.


– Die Fürstin ist wirklich eine vortreffliche Frau und hat sich heute so sehr in Gunst bei mir gesetzt, daß ich ihr ihren übeln Geschmack in den Vergnügungen herzlich gern vergebe. Sie fuhr spazieren, und ich mußte sie begleiten: wir stiegen aus, um in dem Sonnenscheine herumzugehn, den sie ungemein liebt. Ein Bauer näherte sich uns und bettelte. »Warum bettelt Ihr?« fragte die Fürstin, »Ihr seid ja gesund und auch nicht schlecht in Kleidung.« – »Das will ich Ihr wohl sagen«, antwortete der Bauer, »aber Sie muß mich nicht verraten. Unser Amtmann straft gern; und wenn man nur einen[736] Schritt der Quere tut, so rasselt gleich der Amtsdiener an der Haustür. Ich hab ihn, mit Ehren zu melden, einen Scheißkerl geheißen, und dafür soll ich ihm zwei Taler bezahlen. Sie ist ja die Fürstin: sag Sie doch dem Amtmanne, daß er mich ungeschoren läßt: aber er riecht das bißchen Geld, das ich itzt vom Markte nach Hause bringe. Ich wollte mir's also von Ihr ausbitten, daß Sie bei dem Herrn Amtmann ein gutes Wort für mich einlegen möchte, Frau Fürstin, damit er mir nachsieht und mich nicht pfänden läßt: ich will's herzlich gern wieder gleichmachen.« – Die Fürstin lächelte und befahl mir, ihm zwei Taler zu geben. »Da!« sprach sie, »bezahlt Euerm Amtmanne den Ehrentitel, den Ihr ihm gegeben habt.« – »Ach!« sagte der Bauer äußerst treuherzig, »Sie gibt sich gar zu viele Mühe. Hat Sie kein schlechter Geld? Dies ist für den Amtmann zu gut. Sie tut sich aber doch auch keinen Schaden, wenn Sie mir soviel Geld gibt?« – Eine so originale Mischung von Einfalt, Treuherzigkeit und bäuerischem Witze veranlaßte die Fürstin, daß sie sich lange mit dem Menschen unterhielt: er gab ihr etliche Aufträge an den Fürsten, daß er ihm die Felder nicht vom Wilde möchte abfressen lassen und die Saat nicht mit der Falkenhetze zugrunde richten. Die Fürstin entledigte sich des Auftrages, und die Falkenhetze wurde stark belacht: ob die Erinnerung etwas fruchten wird, steht dahin, wiewohl der Fürst solche offenherzige Beschwerden der ländlichen Einfalt sehr wohl aufnimmt.

Weil ich mich so gut auf Ökonomie verstehe, bin ich die Almosenpflegerin geworden, und jeder Arme in der ganzen Stadt, der sich des Bettelns schämt oder seine Dürftigkeit nicht bekanntwerden lassen will, meldet sich bei mir und empfängt wöchentlich so vielen Zuschuß, als die Armenkasse verstattet, worüber ich Rechnung führen muß. Für mich ist dies die liebste unter allen meinen Beschäftigungen: nur schade, daß die monatliche Summe, die ich in meine Kasse empfange, zu klein und die Zahl der Armen zu groß ist! die Portionen werden etwas klein: aber ich halte alle Tage um Vermehrung an, und ich hoffe, sie zu bekommen. Niemand[737] weiß außer der Fürstin und mir, wer aus meiner Kasse etwas erhält: ich freue mich die ganze Woche auf den Sonnabend, wo meine Vögelchen sich jedesmal ihr Futter holen.


den 22. November.


– O Heinrich, in welcher Verlegenheit bin ich heute gewesen. Fürst und Fürstin sprachen zusammen: ich stund an der Seite, ohne auf ihr Gespräch zu hören: auf einmal wurde es äußerst lebhaft, und wie ich meine Aufmerksamkeit darauf richte, höre ich, daß sie von Mädchen sprechen, welche die Liebe zu einem Fehltritte verleitet hat. Schon der Inhalt der Unterredung brachte mein ganzes Blut in Bewegung, und die grausame Strenge, womit die Fürstin sich wider solche unglückliche Schlachtopfer der Liebe erklärte, machte, daß ich am ganzen Leibe zitterte. Der Fürst urteilte viel billiger und behauptete, daß sie meistens Mitleiden, aber keine Strafe und noch weniger Haß und Verachtung verdienten: die Fürstin hingegen versicherte mit der größten Hitze, daß sie eine solche Person nicht eine Minute um sich dulden könnte. Ihr Gemahl machte ihr lachend den Einwurf, daß sie nicht wüßte, ob nicht vielleicht alle ihre Fräulein und Jungfern solche Personen wären. »Wer weiß«, sprach er und wies auf mich, »ob nicht gar dies stille Schäfchen schon einmal Mutter gewesen ist.« – »Den Augenblick jagt' ich dich fort, wenn ich nur das mindste dergleichen von dir erführe«, sagte sie drohend und entrüstet zu mir. – »Wir haben das arme Mädchen ganz rot gemacht«, fing der Fürst nach einer Pause an und sah mir steif ins Gesicht, um mich noch roter zu machen.

– »Für diese wollt' ich wohl selber gutsagen«, setzte er hinzu, »das ist die Unschuld, wie sie leibt und lebt.« – »Wir wollen's wünschen«, gab die Fürstin mit einem Tone zur Antwort, der mich verdroß. Meine Angst während der ganzen Unterhaltung kann ich Dir nicht beschreiben; und in solcher Angst schwebe ich fast jeden Tag; denn die Fürstin spricht von keiner Sache lieber und jedesmal mit gleicher Heftigkeit und Barberei. Barberei ist es wirklich, wenn Personen ein so strenges Urteil sprechen, die selbst nie in der Versuchung gewesen sind, noch wegen der genauern unaufhörlichen Aufsicht darinne[738] scheitern können. Ihre Tugend kostet ihnen nichts als das bißchen Kampf wider die Regungen der Natur: sie haben nie mit den mannigfaltigen Einladungen der Liebe, mit den überraschenden Gelegenheiten, mit den überwältigenden Eindrücken gestritten, die in jedem niedrigern Stande möglich sind: der Vogel im Käfig kann sich freilich rühmen, daß er kein verbotnes Hanfkorn genascht hat. Hätte die strenge Moralistin nur einmal die Gewalt der Liebe und die zauberischen Künste der Gelegenheit empfunden wie ich, o wie würde sich ihre richterliche Unbarmherzigkeit mildern! Täglich bin ich auf der Folter: immer fürcht ich, itzt wird das Gespräch auf deinen Fall kommen; und wenn eine ähnliche Geschichte wie die meinige erzählt wird, dann denk ich immer, itzt wirst du dich verraten: mannigmal bilde ich mir sogar ein, daß die Fürstin meinetwegen so häufig darüber moralisiert. Wie schwer drückt eine verheimlichte Schande! Wie auf Stacheln steh ich, vor Furcht entdeckt zu werden. – –


den 30. November.


– Nachgerade fange ich an, mein itziges Leben ein wenig seltsam zu finden. Gestern blitzten und hagelten Verweise und grämliche Reden auf mich herab: nichts konnt ich rechtmachen: wenn ich nur eine Miene verzog, traf mich ein derber Ausputzer; und gleichwohl durft ich nicht vom Flecke gehn, damit meine gnädige Dame jemanden hatte, an dem sie ihre üble Laune auslassen konnte. Bald sollt ich das, bald jenes holen lassen: nun kam es nicht hurtig genug: da traf mich das Unglück, daß das Mädchen, welches ich geschickt hatte, nicht fliegen konnte: langte die Sache endlich an, so war ihr die Sehnsucht wieder vergangen oder es gab etwas daran auszusetzen: es mußte etwas anders geholt werden: unterdessen änderte sich die Lust wieder; hurtig wanderte ein zweiter Bote dem ersten nach, um ihm Gegenordre nachzutragen, und ein paarmal schickte ich dem zweiten einen dritten nach, und wenn sie alle drei ohne Atem wiederkamen, dann hatten sie alle drei den Weg umsonst gemacht. Etlichemal hatte ich[739] alle Leute ausgesandt, die Befehle von mir annehmen: der Fürstin kam eine neue Grille ein, aber ich konnte niemanden auftreiben, dem ich den Auftrag zumuten durfte, ob ich gleich allenthalben herumrennte: nun wurde ich ausgezankt, erstlich, daß ich nicht gleich wiedergekommen war; zweitens, daß ich die Leute alle ausgeschickt hatte; drittens, daß alle die ausgeschickten Leute zu langsam gingen. So willkommen ist mir noch kein Abend gewesen als der gestrige, der dem durchschmälten Tage ein Ende machte: wie ein Züchtling, der den ganzen Tag Farbenholz geraspelt hat, begrüßt ich die Nacht und mein Bette.

Heute früh stand der Himmel offen und regnete nichts als Gnade und Freundlichkeit auf mich herab: ich wurde bei allem um Rat gefragt, und was ich vorschlug, gefiel allemal: wie ein Orakel mußte ich über die unbedeutendste Kleinigkeit meine Meinung sagen, und meine Meinung war die einzig richtige in der ganzen Christenheit: ich hätte ihr raten können, die Schuhe an die Hände zu ziehen, und es wäre gewiß geschehen. Jeden Augenblick ließ sie mich zu sich rufen: gestern jagte mich die üble Laune herum und heute die große Gnade. Den Beschluß machte ein sehr ansehnliches Geschenk – ein vortreffliches Kleid und Geld, das ich nicht besser anwenden kann, als wenn ich Dir's mit diesem Briefe überschicke. Könnt ich Dir jeden Tag soviel verdienen, so trüg ich jeden Tag mit Freuden so eine Tracht üble Laune wie gestern.


den 9. Dezember.


– Himmel, das ist nicht auszuhalten: ich entlaufe. So ist keine Viehmagd in ihrem Leben ausgescholten worden wie ich vor zween Tagen: mein Herz bebt mir noch vor Ärger: ich glaubte, ein Gallenfieber zu bekommen, so übel hab ich mich seitdem befunden; und kannst Du Dir einbilden, warum? – Der Fürst begegnete mir im Korridor und fragte mich, wohin ich so eilfertig wollte: ich antwortete, und aus der Frage und Antwort wurde ein Gespräch, das ich in der Minute wieder vergaß, so geringfügig war es, und bei dem Abschiede klopfte er mich auf die Backen. Der Himmel weiß,[740] welch schadenfrohes Geschöpf es sieht und der Fürstin mit Verschönerungen hinterbringt. Fünf Minuten darauf werde ich zu ihr gerufen und wie ein Delinquent auf Tod und Leben verhört. Ob ich mit dem Fürsten gesprochen hätte? – »Ja.« – »Warum? wie lange? was?« – Die Fragen waren mir alle schwer zu beantworten, wenigstens mußte ich mich vorher lange besinnen, weil ich die Sache nicht für so wichtig hielt, um nur einen Augenblick Aufmerksamkeit darauf zu verwenden: ich erzählte indessen alles aufrichtig, was mir einfiel. Daß sie mir ein Wort geglaubt hätte! Ich sollte wer weiß wieviel heimlich gesprochen haben, das ich mich zu gestehen schämte: ich sollte nicht leugnen, und gleichwohl konnte ich nichts gestehen: also mußte ich ganz geduldig die bittersten Verweise und Drohungen über mich ausschütten lassen. »Geh mir aus den Augen!« war die gnädige Beurlaubung.

Ganz ohne einen Schatten von Schuld, um einer wunderlichen Einbildung willen so empfindlich zu leiden war für mich so angreifend, daß ich mich in mein Zimmer verschloß: die Tränen strömten mir aus den Augen, und der Ärger wühlte in allen meinen Eingeweiden herum. Ich wünschte mich mit jedem Pulsschlage auf Dein Bauergütchen in Kummer und Mangel zurück: ich aß dort kümmerlich, aber doch in Freiheit und ohne Unrecht zu leiden: was nützt mir hier der Überfluß, wenn mir jeden Bissen Verdruß, Ärger und Unruhe verbittern? – O wie leicht war alle mein bisheriger Kummer gegen den Schmerz einer so unwürdigen Behandlung!

Die Hauptveranlassung dazu mochte wohl sein, weil sie wider ihren Gemahl aufgebracht war: er hatte ihr kurz vorher widersprochen, und nichts kann sie weniger ertragen als Widerspruch: da sie ihren Zorn an ihm nicht auslassen durfte, nahm sie die nächste Gelegenheit und entledigte sich ihrer Galle an mir. Sie ist außerordentlich argwöhnisch in dem Punkte, worüber sie mit mir zankte; und so artig und gesittet der Fürst spricht, so vermeide ich doch alle Unterredung mit ihm, so sehr es sich ohne Unanständigkeit tun läßt; und gerade muß ich sie nicht vermeiden können, da es am gefährlichsten[741] war! Das Gerüchte geht sehr stark, daß er Madam Dormer seiner Vertraulichkeit würdigen soll: ich habe sie vor dem Unwillen der Fürstin gewarnt, wenn diese Nachricht zu ihren Ohren gelangte; allein sie antwortete mir sehr stolz: »Den Unwillen fürchtete ich nicht, wenn ich sonst Lust hätte, das Gerüchte wahr zu machen.« – Sie verläßt sich ein wenig zu sehr auf die Gnade der Fürstin, die ihr freilich sehr gewogen ist, weil sie alle Zeitungen am Hofe und in der Stadt zusammenträgt. Diese unendlichen Klatschereien, womit sich jedermann in Gunst setzen oder die Zeit vertreiben will, sind mir das Unausstehlichste nächst den Hofnarren, die ohne Narrenkleid so zahlreich herumlaufen: so gut, als wenn man alles unter freiem Himmel täte, wird man beobachtet, und die kleinste Posse läuft gleich von Ohr zu Ohr: in der nächsten Minute weiß schon der ganze Hof, was man in der vorhergehenden gedacht hat.

O lieber Herrmann, wenn Du nicht glücklicher bist als ich, so sind wir's beide nicht. Ich habe meinen Ärger verbeißen und heute schon wieder den ganzen Vormittag um die Fürstin sein müssen: aber ich gab mir nicht die geringste Mühe, meinen Verdruß zu verhehlen, ob es gleich nicht sehr hofmäßig ist. Madam Dormer maßt sich an, die Aussöhnung bewirkt zu haben, und riet mir, um Vergebung zu bitten. »Weswegen?« antwortete ich. »Daß ich unschuldigerweise ausgehunzt worden bin?« – Sie rümpfte die Nase und ging. Die Frau ist unleidlich hofmännisch geworden. – –

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Johann Karl Wezel: Hermann und Ulrike. Leipzig 1980, S. 726-742.
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