Drittes Kapitel

[584] Die Philosophie seines Pommers und Ulrikens Schattenriß schienen ihm seine vorige Tätigkeit wieder eingehaucht zu haben: er machte noch denselben Tag Anstalt, sich Bekanntschaften, Gönner und Freunde zu verschaffen, die ihm mit Rat und Unterstützung beistehen sollten, und erfuhr von seinem hypochondrischen Freunde, daß er Bekanntschaften von dieser Art in einem gewissen Italienkeller machen könnte, wo er des Abends jederzeit Leute finden würde, die viel durch Empfehlung vermöchten.

Wie dauerte ihm der Nachmittag so ewig! und wie flog er, sobald es dunkel war, nach dem Keller! Er wagte eine halbe Bouteille Wein daran und hoffte, daß ihm diese Ausgabe durch die neuen Bekanntschaften wieder ersetzt werden sollte. Ein merkurialischer Mann von unendlichem Geschwätze sprach für die ganze übrige Gesellschaft: man fragte sich ringsherum zischelnd, wer der Fremde wäre, selbst der Schwätzer hielt mit seiner Predigt inne, und da Herrmann ein Kleid mit einer schmalen Tresse trug, wurde die Neugierde so allgemein rege, daß man schlechterdings dahinterkommen wollte. Ein junger Kaufmann redete ihn an, gab ihm seine Adresse und erbot sich, ihn mit allen seinen Waren, die er nach der Reihe her sagte, zu bedienen; Herrmann dankte sehr freundlich. – »Sie wollen hier studieren?« hub der Sprecher der Gesellschaft an: die Frage wurde mit einem der höflichsten Ja beantwortet. – »Kann ich Ihnen irgendworinne dienen«, fuhr jener mit geläufiger Zunge fort, »so werde ich mir eine Ehre daraus machen. Ich wollte, daß[584] Sie schon ausstudiert hätten: ich habe itzt eine Versorgung für Sie, die Ihr Glück machen würde. Die Kaiserin von Rußland hat an mich geschrieben, ihr einen Informator für den Sohn ihrer ersten Kammerfrau zu schaffen: ich schwöre Ihnen zu Gott, wer den Platz bekömmt, der hat sein Glück gemacht: straf mich Gott! es kann ihm gar nicht fehlen. Die Kaiserin ist seine Pate und hat mir sehr viele Komplimente gemacht – ich habe den Brief nicht bei mir, aber ich kann ihn zeigen –, sie schreibt überaus gnädig, daß man sieht, es muß der Dame sehr am Herzen liegen, daß ihre Kammerfrau wohl versorgt wird: sie fängt ohngefähr so an – Monsieur, la reputation, dont Vous jouissez par toute l'Europe – und so weiter in diesem Tone fort. Oder wäre denn das nicht etwas für Sie? der erste Kammerherr beim König in Schweden braucht einen Sekretär. Sehn Sie, da wäre wieder Ihr Glück gemacht: Sie dürfen ja, straf mich Gott! dem Herrn nur sagen, was für eine Stelle im Reich Sie haben wollen, so sagt er's dem Könige, und ich weiß, der König interessiert sich überaus für den Herrn: er hat selbst die Gnade gehabt, mich grüßen zu lassen, und empfiehlt mir die Sache wie seine eigne. Ich habe Ihre Majestät meine untertänigste Bereitwilligkeit versprochen, aber noch hab ich, so wahr ich lebe! keinen Menschen gefunden, der so gut dafür wäre wie Sie: Sie sind gut gewachsen, und Ihr Glück ist gemacht, dafür lassen Sie mich sorgen! Ich pariere hundert Dukaten, Sie sind in einem halben Jahre Reichsrat, oder was sie nun dort haben. Nach China gehn Sie doch nicht, das weiß ich schon: aber ich habe auch einen schönen Auftrag. – Apropos, meine Herren«, fuhr er in einem Atem fort und wandte sich zur übrigen Gesellschaft, »gestern hat mir die Fürstin von ** ein Kompliment sagen lassen durch den Bereuter vom Hofe. ›Daß Er mir ja zu dem Manne geht!‹ hat sie noch aus dem Fenster nachgerufen, als er fortgeritten ist. ›Ein halb Dutzend andre Kommissionen kann er vergessen, aber nur mein Kompliment nicht.‹ – Er kam auch geradesweges vor mein Haus geritten, eh' er noch in einem Gasthof eingekehrt war. Der Mann hatte nun seine tausend Freude, mich zu sehen – den[585] berühmten Mann und den großen Gelehrten, und was er mir denn noch weiter für Komplimente machte –, er hatte gar nicht geglaubt, daß ich so aussähe wie ein andrer Mensch: ich schwöre Ihnen zu Gott, der Mann freute sich wie ein Kind: die Tränen standen ihm in den Augen, da er Abschied nahm. ›Hören Sie!‹ sagte er, ›bei Ihnen wollt ich Tag und Nacht en suite sitzen und nur zuhören: ich kann es gar nicht satt kriegen‹: – und drückte mir die Hand; und da ich ihn vollends küßte, da wollt er wie von Sinnen kommen. ›Hören Sie!‹ sagt' er, ›das ist mir so lieb, als wenn mich meine Fürstin geküßt hätte.‹ – Ha, ha, ha, ha. Er hat mir Aufträge über Aufträge mitgebracht: ich weiß gar nicht, wo ich anfangen oder wo ich aufhören soll. Hört, Leute! ich rate euch, werdet nicht berühmt! Ihr denkt, das ist lauter Glückseligkeit, wenn man von Königen und Fürsten, bald von der schönen Dame, bald von dem vornehmen Herrn Komplimente und Aufträge bekömmt: aber ich schwöre euch zu Gott, man wird seines Lebens nicht froh dabei. Bei Tische esse ich kaum sechs Bissen, so fällt mir der Brief ein – ›der Henker! dem Geheimerate hast du auch noch nicht geantwortet‹ –, und so werfe ich die Serviette hin und setze mich und schreibe an den Herrn Geheimerat. Geh ich spazieren, so bin ich kaum vor dem Tore – ›halt! hast du die Verse nach Wien doch vergessen!‹ –, gleich kehr ich wieder um, und wenn andre Leute sich belustigen und das schöne Wetter genießen, da sitz ich in meinem Stübchen und mache Verse nach Wien. Apropos –« (womit er sich zum Kellerwirt hindrehte) – »habt Ihr meine Ode auf die Leipziger Lerchen noch nicht gehört? Seht Ihr! solche Oden müßt Ihr Euch ein paar Dutzend machen lassen und Sie den Gästen vorlesen, wenn sie Lerchen bei Euch essen: da werden Euch die Leute den Keller stürmen. Die Gräfin ** war die letzte Messe hier und ließ mich zu sich rufen, sie war kaum aus dem Wagen gestiegen. Des Abends konnte ich nun nicht wegkommen, das war vorbei. Da die Lerchen kamen, fing ich an: ›Ihre Exzellenz, ich pariere hundert Louisdor, ich bezahle Ihnen die Lerchen teurer, als sie Ihnen der Wirt anschreibt.‹ – ›Wieso?‹[586] fragte sie. – ›Ich pariere tausend Dukaten, ich gebe Ihnen so viel Verse dafür, als sie alle zusammen Krallen an den Füßen haben.‹ – Sie wollte das sehn. Ich sagte: ›Haben Sie nur die Gnade, mich fünf Minuten ins Nebenzimmer gehen zu lassen!‹ – Ich ging, und hört, ihr Leute! in fünf Minuten komme ich mit fünfzig Versen zurück, daß die Dame ganz erstaunt ist. ›Hören Sie!‹ sagte sie, ›ich lasse Sie nicht mehr mit mir essen. Sie müssen hexen können: ich habe Sie zwar für einen sehr großen Mann gehalten, aber so etwas ist mir doch nicht vorgekommen.‹ – Da ich ihr nun vollends meine Verse vorlas, da ging das Erstaunen erst recht an; da wollte die Dame gar nicht aufhören zu lachen: es tat mir selber leid um sie; denn sie ist sehr korpulent und wollte nun gar nicht wieder zu sich kommen. Noch bei dem Abschiede fing sie wieder an und drückte mir die Hand sehr gnädig. – ›Ach, Sie sind ein scharmanter Mann! ein gar allerliebster Mann! man möchte sich bucklicht über Sie lachen; und solange ich hier bleibe, dürfen Sie gar nicht von meiner Seite kommen. Sie müssen jeden Morgen den Tee bei mir trinken, und hernach nehm ich Sie in Beschlag und lasse Sie nicht von mir bis zum Schlafengehn.‹ – Ich sagte: ›Ihre Exzellenz, es ist mir eine hohe Gnade, aber meine vielen Geschäfte! es warten wenigstens dreißig Briefe auf Antwort; und die Welt will doch auch befriedigt sein: ich lebe doch einmal für die Welt.‹ – ›Ach, Sie haben genug für die Welt gelebt; leben Sie nun einmal auch acht Tage für mich!‹ – Straf mich Gott! Sie hat mich des Morgens durch die Heiducken mit der Portechaise holen und des Abends wieder nach Hause bringen lassen; darüber hab ich nun alles versäumt und kann diesen Winter mit meinen Briefen nicht fertig werden: da liegen an hundert zu Hause. Ja, denk ich, wenn ich sie sehe: ihr werdet lange liegen müssen, ehe die Reihe an euch kömmt. – Stille! ich will euch meine Ode vorlesen.« –

Auf die Ankündigung hub sich einer nach dem andern in der Gesellschaft empor, um sich in die andre Stube zu begeben: allein der Deklamator stellte sich vor die Tür. – »Ihr wärt nicht wert, daß euch die Sonne beschien, wenn ihr meine[587] Ode auf die Leipziger Lerchen nicht anhörtet«, sprach er und trieb sie an den Tisch zurück. Sie mußten sich dem Zwange unterwerfen; er räusperte sich, gebot allgemeine Stille und hub an:


»Wie wenn im Ozean die hocherhabnen Wellen

Mit grimmig wilder Wut bis zu den Sternen schwellen;

Wie wenn ein schwarzer Sturm den Nationen Tod

Und steilen Felsen Angst und bange Schmerzen droht.


Die Stelle hab ich dem Virgil gestohlen: aber dieser römische Homer könnte sie nicht herrlicher ausdrücken, wenn er deutsch schriebe. Ich will euch die Stelle einmal vorlesen: sie ist überaus prächtig: aber straf mich Gott! sie hat in meiner Ode nichts verloren.« – Er holte stehenden Fußes einen Virgil aus der Tasche, las die Beschreibung eines Sturms vor und übersetzte und erklärte die Schönheiten derselben mit der wortreichsten Beredsamkeit, doch jederzeit mit einer Wendung, daß Virgil einen Grad unter seiner Ode blieb. Die Gesellschaft schlich sich, einer nach dem andern, in die andre Stube, auch Herrmann folgte dem Beispiele, und der erzgelehrte Mann las den stummen Kellerwänden bald ein Stück aus seiner Ode, bald ein Stück aus dem Virgil oder Horaz in einem unaufhaltsamen Flusse vor, stürzte mit seinen fechtermäßigen Gebärden ein paar Gläser zu Boden und wurde nicht gewahr, daß er sich selbst predigte, bis ein Fremder zur Tür hereintrat. »Setzen Sie sich! Setzen Sie sich!« rief ihm der Deklamator entgegen: es war ein guter, ehrlicher Wollhändler, der sich etwas langsam bewegte, und da er nicht gleich gehorsamte, wurde er mit gewaffneter Faust niedergestoßen. »Sind das Zeitungen?« fragte der Wollhändler phlegmatisch. – »Ja, mein lieber Freund«, antwortete der quecksilberichte Poet lachend, »Zeitungen aus dem Parnaß! Ihm zu Gefallen will ich wieder von vorn anfangen.« – Der Wollhändler horchte einige Zeit zu, allein da ewig nichts von Spaniern, Franzosen oder Engländern kommen wollte, zog er gähnend sein Taschenbuch hervor und rechnete seine Bestellungen und Wechsel durch. Der begeisterte Dichter ward über seine Verachtung grimmig, riß[588] ihm mitten im Lesen das Taschenbuch weg und warf es unter den Tisch, daß die Zettelchen wie Schneeflocken herumflogen. Der erstaunte Wollhändler wußte lange nicht, wie ihm geschah: endlich, da jener ungestört fortlas, faßte er ihn bei der Krause, schüttelte ihn und sprach, die drohende Peitsche in der Hand: »Den Augenblick les Er mir meine Zettel auf, oder der Teufel soll ihm das Licht halten.«

Der Deklamator. Herr, hab Er Respekt vor den Musen und ihren Schwestern, den Grazien!

Der Wollhändler. Was geht mich alles das Lumpengesindel an? Weiß Er wohl, daß Er hier viele tausend Taler unter den Tisch geworfen hat, die Er zeitlebens nicht bezahlen kann?

Der Deklamator. Er ist ein roher Mann. Straf mich Gott! Er glaubt wohl gar, daß seine Zettel mehr wert sind als meine Ode.

Der Wollhändler. Das denk ich! Für Seine purpurroten und hochgetürmten Quodlibets geb ich Ihm nicht einen Quark: aber mein Taschenbuch ist viele tausend Taler wert. Den Augenblick les Er auf!

Der Deklamator. Ich pariere hundert Dukaten, Er weiß nicht, wen Er vor sich hat. Ich bin der große Solstizius. Untertäniger Diener.

Der Wollhändler. Blitz! das ist ja wohl der Stizius, der mich nun sechs Messen her nicht bezahlt hat. Gut, daß ich dich habe! He da! –

Der Wollhändler rennte ihm nach, aber der große Solstizius war entwischt, und er mußte sich bequemen, seine papiernen Reichtümer selbst aufzulesen. Hinterdrein erfuhr er, daß dieser Mann nicht der Tuchmacher Stizius, sein übler Bezahler, sondern nur ein egoistischer Windbeutel sei; und Herrmann wurde von einem artigen, bescheidnen Manne gewarnt, sich nicht mit dem Aufschneider einzulassen. »Wenn Sie Rat oder Unterstützung brauchen«, sagte er, »so wenden Sie sich an ** und **; diese Männer dienen gern, soviel sie vermögen, und tun ohne Prahlerei alles, dessen sich dieser Windbeutel berühmt.« – Herrmann nahm den Rat um so freudiger an, da er schon bei dem ersten Anblicke das nämliche Urteil über den[589] Mann bei sich gefällt hatte, und trank eben das letzte Glas von seinem Weine, als sich ein anständig gekleideter Mann in seine Bekanntschaft einführte, ihn nach einigen Wendungen des Gesprächs um seine Freundschaft ersuchte und morgen zu Mittag zu sich zu Tische bat. Herrmann nahm die Partie an.

Die Gesellschaft bestund aus sechs Personen, und der Wirt führte das Wort – ein Mann von einer unendlichen, aber verworrenen Einbildungskraft und einem unpolierten Witze, der in einem Atem von Grönland nach Ostindien, vom Großsultan auf den Bullenbeißer Sultan, vom Coeurbuben zu dem Mann im Monde hinübersprang; die übrigen aßen und schwiegen und bezahlten ihm die Mahlzeit mit unaufhörlichem bewunderndem Lachen über seine phantastisch-witzigen Seiltänzersprünge. Nach Tische hatte oder gab jedermann Langeweile vor, und der Wirt trug auf ein Spielchen an: Herrmann wollte sein kleines Vermögen nicht daran wagen und machte sich unter dem Vorwande los, daß er kein Spiel verstünde; man ließ ihm seine Freiheit, ohne ihm mit einem einzigen Worte zuzureden. Als der Spieltisch schon zur Quadrille in Bereitschaft war, fing einer nach dem andern an, Quadrille langweilig zu finden und den lebhaftesten Widerwillen dagegen zu bezeugen. »So wollen wir eine kleine Bank machen«, schlug der Wirt vor: die meisten schrien Ja und lobten ihn über einen Einfall, auf welchen sie nie verfallen wären, und der übrige Teil willigte halb gezwungen aus bloßer Höflichkeit darein. Einer erzählte, daß er nun in einem halben Jahre nicht Pharao gespielt habe; der andre mußte erst überrechnen, wie lange er nicht dabei gewesen war; ein dritter brachte zwei Jahre heraus, daß er keine Karten in einem Hasardspiele angerührt hatte; und der vierte mußte sich erst besinnen, wie man es spielte. Der Wirt wurde Bankier, und Herrmann ebenso eingeladen wie vorhin, als wenn es gar nicht auf ihn abgesehn wäre: er bat, daß man ihm erlaubte, voritzt ein wenig zuzusehn, und es wurde ohne alle Schwierigkeit in sein Belieben gestellt. Man spielte äußerst niedrig: der Bankier verlor fast jedes Blatt, das[590] er umschlug. Herrmann, als er so gewinnen sah, bekam keine kleine Lust, mit zu gewinnen; und da der höchste Satz nur zwei Groschen sein sollte und also die Gefahr so sehr klein war, so konnte er unmöglich der Versuchung widerstehen, sein Glück auf die Probe zu stellen. Sobald er Anstalt machte zu setzen, wollte man aufhören, und nur aus Höflichkeit gegen ihn verlängerte man das Spiel. Er gewann in einem fort: in der Hitze des Glücks wurde von allen das Gesetz, das den höchsten Satz bestimmte, merklich überschritten; und binnen einer Stunde war die kleine Bank gesprengt und Herrmann beinahe funfzig Taler reich. Ein andrer erbot sich zwar, Bank zu machen, aber niemand hatte den mindsten Appetit dazu. Die Gesellschaft ging auseinander und küßte sich so herzlich bei dem Abschiede, als wenn sie in Jahr und Tag nicht wieder zusammenzukommen gedächten. Herrmann wurde von seinem neuen Freunde auf ein Kaffeehaus eingeladen, des Abends abgeholt und verlor die Hälfte seines Gewinstes wieder: so weh es ihm tat, sie nicht wieder erobern zu können, weil er nicht mehr bei sich gesteckt hatte, so verbiß er doch seinen Ärger und ging mit gezwungner Mäßigung nach Hause. Dreimal hatte er schon seine übrige Barschaft in den Händen, um mit ihr zum Spieltisch zurückzugehn, und dreimal zog ihn sein guter Genius warnend zurück.

Der Verlust ließ ihn nicht ruhig schlafen; nicht sowohl aus Eigennutz und Gewinnsucht, als vielmehr, weil ihm seine Ehre beleidigt schien, empfand er ihn so hoch und beschloß noch in derselben Nacht, den folgenden Tag die Hälfte seines Restes daranzusetzen, um seinen Ehrgeiz wieder zu versöhnen. Er war der erste auf dem Kaffeehaus, spielte an der Bank seines Freundes, den er nunmehr aus allen Umständen für einen Spieler von Profession erkannte, und gewann über achtzig Taler. Der Mann besuchte ihn den morgenden Nachmittag und erkundigte sich mit einer Neugierde nach seiner Herkunft, Familie und seinen Vermögensumständen, als wenn er ihn über Artikel verhören wollte, doch auf eine so gute Art, daß er allen Schein einer lästigen Zudringlichkeit[591] vermied. Er merkte wohl aus Herrmanns Verlegenheit und stotternden Antworten, daß sein Reichtum nicht sehr erheblich sein mußte und daß er daher keine Prise war, wie er sie in ihm suchte: kaum war er soweit mit seinen Fragen gekommen, als er ihn durch überhäufte Freundschaftsbezeigungen so treuherzig machte, daß er seine Verlegenheit wegen seines Auskommens in ziemlich unverhüllten Ausdrücken gestund. Der Spieler, der ihn bis auf die letzte Faser ausgezogen hätte, wenn er bei Gelde gewesen wäre, legte ihm eine Börse auf den Tisch. »Hier, mein Freund!« sprach er, »spielen Sie aus dieser Börse, bei welcher Bank Sie wollen! den Gewinst teilen wir: den Verlust trage ich.« – Herrmann war über eine so unerwartete Freigebigkeit erstaunt, weigerte sich, sie anzunehmen, und wollte dafür danken, als sein Freund ihn mit den Worten verließ: »Wir sehen einander heute auf dem Kaffeehause.«

Wer war nun froher und der Glückseligkeit näher als Herrmann? – Er fand in der Börse vierzig Louisdor und war beinahe willens, gewisse zweihundert Taler besser anzuwenden als zum ungewissen Spiel: allein sein Freund hatte sie ihm nur zu diesem Endzwecke geliehen, und er glaubte, einen Diebstahl zu begehn, wenn er sie zu einem andern anlegte. Er spielte viele Abende hintereinander mit steigendem und fallendem, doch nie mit ausgezeichnetem Glücke, speiste täglich bei seinem Freunde, der eine Art von offner Tafel für den Zirkel seiner Freunde hielt, und Glück und Vergnügen verdrängten Kummer, Unruhe und beinahe auch Ulriken, wenigstens dachte er nicht mit so wehmütigem Verlangen mehr an sie; und wenn es geschah, tat er es mehr mit der Empfindung eines Versorgers als eines Liebhabers. Die neue Laufbahn, in welche ihn die Gewinnsucht seines Freundes hingeleitet hatte und worinne ihn die Großmut des nämlichen Mannes erhielt, brachte ihn unvermeidlich auf den Plan, sich auf einem so angenehmen Wege ein kleines Vermögen zu erwerben, alsdann Ulriken aufzusuchen und in einem unbekannten ländlichen Winkel sparsam mit ihr davon zu leben. Er teilte den Vorsatz seinem Freunde mit, der[592] in vierzehn Tagen schon zu einer so brüderlichen Vertraulichkeit mit ihm gelangt war, daß keiner dem andern ein Geheimnis verschwieg: er billigte den Plan überaus und versprach alle mögliche Beihülfe.

Die Freundschaft wurde noch inniger durch ein Verdienst, das sich Herrmann zufälligerweise um ihn erwarb. Er hörte eines Abends ein Komplott wider seine Bank machen, die die Zusammenverschwornen schlechterdings sprengen wollten: er benachrichtigte seinen Freund davon, daß er die nötigen Maßregeln dawider nehmen konnte, und aus Dankbarkeit versprach dieser, bei dem ersten glücklichen Streiche, den er machen würde, ihm zu Errichtung einer eignen Bank eine Summe zu geben, die er nicht wieder bezahlen sollte, im Fall, daß er unglücklich damit wäre.

Auch diese Gelegenheit erschien. Einen reichen Livländer lockte man auf die nämliche Weise ins Garn, wie Herrmann gekirrt wurde, da man nur sein bordiertes Kleid, und seine leere Börse nicht, kannte: der junge Mensch wurde durch den kleinen Gewinst, den man ihn anfangs machen ließ, so hitzig und durch den nachfolgenden Verlust so aufgebracht, daß er sein Glück schlechterdings zwingen wollte und in einem Niedersitzen alle Wechsel verlor, die er in Leipzig zu seinen Reisen nach Frankreich und England teils heben, teils stellen lassen sollte. Den Tag darauf dachte er seinen Verlust einigermaßen wieder zu erobern und verlor an einen andern Spieler um die Hälfte soviel als gestern, gegen einen Wechsel; der arme Unglückliche stellte ihn mit Tränen und hätte in der Angst und Betrübnis seine Seele verpfändet, wenn es verlangt worden wäre. Arnold – so hieß Herrmanns Freund – ließ den jungen Menschen täglich bei sich speisen und erlaubte ihm nicht anders, als unter seiner Aufsicht zu spielen: er streckte ihm von Zeit zu Zeit einige Louisdor vor, um bei andern Banken vielleicht das Reisegeld nach Hause zu gewinnen, allein das Glück blieb sein entschloßner Feind: alles Vorgestreckte ging den vorigen Weg. Arnold ermahnte ihn täglich, wieder nach Hause zu reisen, weil der Termin seines Wechsels bald verflossen war. »Sie kommen augenblicklich[593] in Verhaft«, sagte er ihm unaufhörlich, »und Sie haben mit einem harten, geizigen Manne zu tun.« – Nichts half: der unglückliche Junker getraute sich nicht, vor seinem Vater zu erscheinen, und wußte doch auch keine andre Partie zu ergreifen. Arnold riet ihm, Kriegsdienste zu nehmen; allein dazu fand er in seinem weichen, zarten Körperchen nicht den mindesten Beruf. Sein Hofmeister, der bei einem Freunde etliche Meilen von Leipzig zum Besuch war, getraute sich gleichfalls nicht, vor einem Vater zu erscheinen, dessen ihm anvertrauter Leibeserbe alle seine Wechsel verspielt hatte, und antwortete dem jungen Herrn gar nicht auf den Brief, worinne er ihm seinen Unfall klagte, sondern nahm aus Verzweiflung die Flucht. Über der Unentschlossenheit des Junkers rückte der Zahlungstermin heran, und was man ihm prophezeit hatte, erfolgte: auch hier schlug sich Arnold ins Mittel, zwang den Gläubiger durch vieles Zureden, daß er sich mit der Hälfte der schuldigen Summe befriedigen ließ, und streckte sie dem Schuldner auf einen weit hinausgestellten Wechsel vor: der junge Mensch wurde durch diese Güte so gerührt, daß er einen kleinen Ring, den ihm Fräulein Renatchen zum Andenken ihrer Gewogenheit auf die Reise mitgegeben hatte, aus der innersten Beinkleidertasche zog und ihm mit Tränen der Dankbarkeit zum Geschenk überreichte. Arnold, als er erfuhr, welchen Wert der Zuneigung der Ring für seinen Besitzer hatte, lehnte das Geschenk von sich ab, bestellte die Post für ihn, versah ihn mit Reisegeld und übergab ihn einem livländischen Kaufmanne, der ihn in die Hände des gnädigen Papas liefern sollte. Noch den Abend vor der Abreise fährt dem unbesonnenen Jünglinge der Spielgeist in den Kopf: er besaß noch zwanzig der auserlesensten, hellglänzendsten Kremnitzer Dukaten, die dem teuren Kinde die gnädige Frau Mama von ihrem Spielgelde nach und nach zurückgelegt und in einem roten, saubern Beutelchen von Gros de Tours, worauf sie mit eigner Hand das Familienwappen in Gold stickte, als einen Notpfennig auf den Weg mitgegeben hatte, mit dem Befehle, diesen Schatz, wo möglich, unversehrt wieder zurückzubringen. Um dem Befehle[594] desto leichter zu gehorchen, nähte der Herr Sohn nach seinem ersten großen Verluste dies Beutelchen in der linken Uhrtasche fest und glaubte, daß es der Satan selbst nunmehr nicht wegstehlen sollte: auch widerstand er die ganze übrige Zeit tapfer allen Versuchungen, den Gefangnen zu erlösen, sah jeden Abend bei dem Schlafengehen darnach, ob seine Fesseln noch unversehrt wären, und in Gesellschaft, wo er ging und stund untersuchte alle fünf Minuten seine linke Hand das Befinden des roten gestickten Beutelchens. An jenem unglücklichen Abende führte ihn die Dankbarkeit auf das Kaffeehaus, um seinen Freund Arnold noch einmal zu umarmen: Arnold warnte ihn vor dem Spiele, allein er glaubte sich über alle Reizungen erhaben und trat an einen Tisch, um bloß zuzusehn: da stand er, sah neidisch Summen gewinnen und verlieren und zappelte vor Begierde! Bald kraute er sich hinter dem Ohre, bald nahm er den Hut ab und fächelte sich – er glühte am ganzen Leibe von dem innerlichen Kampfe –, seine Linke deckte unaufhörlich das rote Beutelchen, arbeitete zuweilen an den Zwirnbanden, um sie loszureißen, und stund hastig wieder davon ab, wenn ihm die Möglichkeit, die schönen Dukaten zu verlieren, einfiel. Lange drehte er sich so in dieser ängstlichen Unentschlossenheit herum: endlich gab die Leidenschaft seinem Herze einen Stoß: er foderte von dem Marqueur ein Messer, trat in einen Winkel und schnitt die ganze Uhrtasche heraus, um sich nicht zu lange dabei aufzuhalten. Grinsend vor Freude trat er an den Tisch, das Beutelchen in der Linken, setzte eine Maria Theresia nach der andern und verlor sie: seine Dukaten waren so hervorstechend, daß ihnen der Tailleur einen besondern Platz anwies und jedermann mit Bewundrung nach ihnen hinblickte. Itzt prangten sie alle zwanzig vor dem Bankier: dem Junker traten die Tränen vor Ärger in die Augen. »So mag der Teufel den Beutel auch holen!« sprach er weinerlich, nahm eine Karte und setzte das rote Beutelchen darauf: der ganze Tisch lachte, der Tailleur schlug um, und mit der ersten Karte war auch das rote Beutelchen in seiner Gewalt. Der unglückliche Jüngling[595] schlug sich an den Kopf, weinte und jammerte: das ganze Kaffeehaus versammelte sich, die schönen zwanzig Dukaten und das schöne Beutelchen zu beschauen: auch Arnold erschien und fragte nach der Ursache seines Wehklagens. »Ach, der gnädigen Mama rotes Beutelchen!« rief er unaufhörlich mit bangem Trauertone, schlug die Hände über den Kopf zusammen und stürzte sich zur Tür hinaus. Arnold lief ihm nach und wich nicht von seiner Seite, bis er auf dem Postwagen saß, damit er nicht sein Reisegeld noch obendrein verspielen sollte.

So handelte dieser sonderbare Mann beständig: er lebte vom Raube im eigentlichen Verstande und teilte seinen Raub mit andern, die weniger hatten als er: wen er nicht plündern konnte, den beschenkte er, oder plünderte die Leute und erzeigte ihnen hinterdrein die größten Wohltaten, interessierte sich so brüderlich für sie wie für diesen Junker und verschwendete durch seine aufrichtige, gutgemeinte Vorsorge oft die Hälfte der Beute wieder an denselben Menschen, dem er sie abgenommen hatte. Jede Betrügerei verabscheute er im Glücke, aber in der Not war ihm keine zu verächtlich, wenn sie nur ein wichtiges Objekt betraf: überhaupt konnte er nie im kleinen arbeiten, und er kannte keine andre Niederträchtigkeit, als kleine Summen durch schlechte Mittel zu erobern suchen: dies nannte er Beutelschneiderei. Seine größte Stärke war die Kunst, junge und alte, erfahrne und unerfahrne Leute zum Spiel zu verleiten, und zwar so unmerklich, daß sie die Absicht der Verleitung gar nicht argwohnten. Seine Leidenschaften waren Verschwendung und Liebe, für deren Befriedigung er jeden Streich unternahm, und oft gesellte sich auch ein gewisser Ehrgeiz hinzu, daß er sich schmeicheln konnte, einen gesetzten oder vorsichtigen Menschen überlistet und wider seinen Willen zu einer Handlung gebracht zu haben, die er zu vermeiden suchte. Der nämliche Ehrgeiz schien ihn größtenteils auch bei seinen verliebten Unternehmungen zu regieren; die seinen Anerbietungen mutig widerstund, konnte auf seine Freigebigkeit sichre Rechnung machen, ohne daß er die mindeste Erkenntlichkeit[596] dafür verlangte, und er verließ gemachte Eroberungen sogleich wieder, weil ihm der Sieg keine Mühe kostete. War er einmal aus Mitleid oder innerer Zuneigung jemandes Freund geworden, dann dünkte ihm keine Aufopferung, keine Gefahr, keine Arbeit zu groß, um seinem Freunde zu helfen oder Vergnügen zu machen.

Davon war Herrmann ein lebendiger Beweis: von der Minute an, da er sich das Geständnis seines Mangels entwischen ließ, wurde Arnold sein unermüdeter Freund und Wohltäter, besonders nachdem er aus der Nachricht, die ihm Herrmann eines Abends von dem Komplotte wider seine Bank gab, schließen konnte, daß der junge Mensch Zuneigung für ihn fühlte: einen solchen Beweis wartete er gemeiniglich ab, und auch ein geringerer Dienst, als ihm Herrmann tat, war ihm hinlänglich dazu. Seinem Versprechen gemäß schenkte er ihm von dem Gewinst, den der livländische Junker einbrachte, die Hälfte, um selbst Bank zu halten. Das Glück breitete seine Flügel über Herrmann aus und träufelte Gewinn und Reichtum auf ihn herab: er legte sich von Zeit zu Zeit einen Teil seines Gewinns zu Ausführung seines Plans mit Ulriken zurück und wiegte sich wie ein auserwählter Günstling in dem Schoße der Freude und der süßesten Hoffnung. Allmählich verlor er freilich seinen verliebten Zweck ganz aus dem Gesichte und spielte nicht mehr, um zum Besten seiner Liebe zu gewinnen, sondern um zu spielen. Seine ganze Tätigkeit wurde auf diesen Punkt hingerissen und seine Leidenschaft so überspannt heftig, daß ihn selbst Arnold darüber tadelte. Wie bald waren nun Musen und Wissenschaften aus seinem Kopfe verscheucht! Bald wollte er spielen, um nebenher studieren zu können, wollte immer morgen den Anfang machen, und immer erschien nur der künftige Morgen für das Spiel: bald verwarf er das Studieren als einen Umweg, um zu Ulrikens Besitze zu gelangen, und hoffte, nach einem halbjährigen Gewinnen schon genug beisammen zu haben, um mit ihr in philosophischer Stille und Genügsamkeit den Rest seines neunzehnjährigen Lebens auf dem Lande zuzubringen: er schwankte bald zu diesem, bald[597] zu jenem Plane; jeder Tag brachte einen neuen hervor, bis sie endlich samt und sonders verdrängt und nur Spielen sein Denken, Trachten und Begehren wurde.

Quelle:
Johann Karl Wezel: Hermann und Ulrike. Leipzig 1980, S. 584-598.
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