Episches Intermezzo

Das Tulpenschiff.

Um des grauen Städtchens Mauern läuft der alte Festungsgraben,

Ausgefüllt mit stillen Gärten, drin die ersten Frühlingsgaben

Hyazinthen blühn und Tulpen und am Hausspalier Glycinen,

Die mit übersüßem Dufte locken zu sich her die Bienen.


Eine Kornelkirschenlaube wölbt im schönsten sich der Gärten,

Lieblingsspielplatz eines Knaben, der hier, selten mit Gefährten,[191]

Oft allein auf rundem Tische stellt die Reihen der Soldaten,

Kleine, bleierne Figürchen, ihm ein Heer von großen Taten.

Was in Schlachten je vollbrachten Truppen hochberühmter Sieger,

Nachgeahmt ward hier es eifrig mit dem Zwergvolk dieser Krieger,

Und dieselben Uniformen, die heut Waterloo bedeuten,

Schmücken morgen trotz'ge Punier, die den Adler Roms erbeuten.


Doch es stehn seit ein'gen Tagen manchmal stundenlang die Glieder

Der Armeen unbeweglich. Lesend auf ein Buch sieht nieder

Der belockte Schlachtenlenker, und es glühn ihm heiß die Wangen

Ob der Welt voll hoher Wunder, die im Buch ihm aufgegangen.

Wohl schlecht zum Soldatenspielen paßt der Zauberkreis von Dramen,

Der geweiht ist und besiegelt von des größten Britten Namen.

Und es kämpft im jungen Geiste mit dem Hang zum kind'schen Spiele

Das Erwachen scheuer Sehnsucht, Ahnung hoher Lebensziele.[192]

Nur wenn's in den Dramen trommelt, wenn bei Azincourt die Fahnen

Mit dem tapfern fünften Heinrich ziehn einher auf blut'gen Bahnen,

Legt mit ungeduld'gem Seufzer weg das Buch der junge Knabe,

Das Gelesene zu spielen. Denn gefährlich war die Gabe

Phantasie ihm zugemessen, mit dem Triebe, zu gestalten,

Greifbar sinnlich nachzubilden, selbst zu leben, fest zu halten,

Was nur soll wie Sonnenwolken schweben durch die Himmelsräume,

Als ein hohes Fest der Geister, Blüte sel'ger Dichterträume.


Ohne Schuld wird nie verkörpert, selbst nicht in den Kunstgebänden,

Die der Mimen Spiel geweiht sind, die erhabenste der Freuden.


*


Heute las er die Tragödie von Antonius dem Großen,

Dunkel seinem jungen Geiste, dem noch sproßten nicht die Flossen,

Um schon Aphroditens Meere, die purpurnen, zu durchschneiden,

Zu verstehn, was um die Liebe Menschen wagen, Menschen leiden.[193]

Nur die äußre Pracht der Dichtung ward ein Goldnetz seinen Sinnen,

Die geblendet staunten, wie die Königin der Königinnen,

Wie Kleopatra, die üpp'ge, auf dem Prunkschiff kommt gefahren,

Dessen Wände goldne Spiegel, Seidenstoff die Segel waren.

Und, da ihn die andern Szenen, die er las, so stark nicht faßten,

Packt' ein kindisches Verlangen den verträumten Spielphantasten,

Diesen Vorgang aufzuführen mit den kleinen Bleifiguren,

(Eines Meininger Theaters ferne dämmernde Konturen!)


Schnell geordnet steht die Heerschar, die Antonius befehligt,

Und mit Doppelkreidestrichen zieht der Knabe, still beseligt,

Auf dem Tisch die Bahn des Flusses, eine Krümmung nicht vergessend

Und für das ägypt'sche Prunkschiff breit genug das Strombett messend.

Doch woher das Schiff nun nehmen? – Ei dort in den Blumenbeeten

Stehn die feuerfarbnen Tulpen! Schnell zu einer hingetreten

Und gepflückt die Sonnenkinder aus dem fernen Lande Yemen,[194]

Die im gelbgeflammten Sammet salomon'sche Pracht beschämen.

In dem Nähzeug, das die Schwester stehen ließ, sind rasch gefunden

Zwirn und Nadel und die Blätter leicht zu einem Ding verbunden,

Das mit sehr viel gutem Willen man als Schiffchen mag erkennen.

»Jetzt Kleopatra!« Schon naht sie. Wo die wärmsten Strahlen brennen

Auf den Gartenkies, hat atmend sich gesenkt ein gelber Falter.

Armer Elf! Stirbt deine Jugend um ein tausendjähr'ges Alter?

Ist dir kleinem Sonnenvogel heute früher Tod beschieden,

Weil ein schönes Weib einst wohnte fern im Land der Pyramiden?

Tröste dich! sie, die dich mordet einzig nur durch ihren Namen,

Längst ist selbst sie Moder worden, und in jener Pforte Rahmen,

Die das Reich des Todes abgrenzt, wird mit hohlen Neidesaugen,

Wenn du kommst, von deinen Flügeln sie den Duft der Sonne saugen.


Zugedeckt vom Tuch des Knaben war der Falter schnell gefangen[195]

Und sein Lebenslicht erloschen unterm Druck der Fingerzangen.

Thronend in dem Tulpenschiffchen als Kleopatra, als bleiche,

Lag jetzt des Zitronenflüglers arg zerfetzte kleine Leiche.

Doch nun fehlte noch dem Fahr/eng, was erst Reiz gibt: die Bewegung!

Und vielleicht vom ersten Morde bebt' im Knaben eine Regung,

Mehr Lebend'ges noch zu opfern seinem Spiel. Warum nicht sollten –

Da in diesem Fluß aus Kreide leider keine Wellen rollten –

Ungetüme ziehn die Barke, vier gezähmte Krokodile?

Saßen dort doch die erwünschten schon auf einem Rosenstiele!

Denn Maikäfer können füglich Krokodile 'mal bedeuten,

Wo französische Husaren Cäsar sind mit seinen Leuten.


Schwer nicht war's, die vier zu fangen, auf den Rücken sie zu legen,

Gleich Schildkröten, die auf Schiffen, ohne nur sich zu bewegen,

Aus Westindiens heißen Meeren in das ferne London reisen,

Wo als Willkomm ihrer wartet Kohlenglut und Schlächtereisen.[196]

Doch wird schneller hier das Schicksal dieser Käfer sich entscheiden.

Denn, als sie des Fadens Schlinge nicht am glatten Leibe leiden,

Als der Knoten immer gleitet, der sie soll ans Fahrzeug spannen,

Und es scheint ein Hexenwerk, sie in den Viererzug zu bannen,

Da, in ungeduld'gem Zorne, der nicht hört des Herzens Tadel,

Langt der mitleidlose Spieler nach dem Faden mit der Nadel

Und durchbohrt den Leib der Viere, die in seinen Henkershänden

Machtlos zappeln, nicht verstehend, wer sie darf so grausam schänden.

Angeschirrt sind sie gleich Rossen an den kleinen Blumenwagen,

Aber Rosse, die das Leitseil in den Eingeweiden tragen.

Doch der Knabe sieht nicht Tiere, die in Wahrheit Schweres dulden;

Fabelwesen sind die Aermsten, die ihm noch Gehorsam schulden.

Und er lenkt sie und regiert sie, treibt sie auf dem trocknen Flusse

Nach Belieben ... da – ein Wunder! Mit urplötzlichem Entschlusse,[197]

Wild gestachelt von den Schmerzen, die in gleichen Wunden brannten,

Alle vier auf einmal surrend breit zur Flucht die Flügel spannten.

Und mitsamt dem Tulpenschiffchen schnurrten die dem Tod Geweihten

In des nächsten Baumes Krone, draus viel weiße Blüten schneiten.

Flatternd zwischen diesen Grüßen aus dem luft'gen Wipfelreiche

Kam herab die Pharaonin auch, – des gelben Falters Leiche.


Mit weit aufgerißnen Augen sah der junge Missetäter

Das Geschehnis. Und ihn deuchte, daß im fernen blauen Aether

Sei das Tulpenschiff verschwunden wie einst des Elias Wagen.

Da befiel ihn der Gedanke: Vor den Thron des Höchsten tragen

Werden wahrlich diese Viere die durchbohrten Todesleiber

Und in ihrer Qual verstummend, laut verklagen ihren Treiber.

Weh! der Gott, der einst Elias zu sich hob, hat auch gegeben

Das Gebot: »Du sollst nicht töten!« Heilig, heilig ist das Leben.[198]

Und ich griff mit Mord und Marter in dies Heiligtum! zerstörte,

Was unschuldigen Geschöpfen als ihr einzig Gut gehörte,

Raubt' ihr bißchen Lebensodem dieses Gartens stillen Bürgern,

Diesen friedlichen Gesellen! bin von all den tausend Würgern,

Die Natur auf allen Zweigen hält bereit zum Tod der Schwachen

Der verworfenste, weil jene nur aus ernster Not den Rachen

Oeffnen, wenn sie diese Kleinen jagen, um sie zu verschlingen,

Während ich so großen Frevel konnt' in närr'schem Spiel vollbringen.

Weh mir! Wo ich ihresgleichen künftig seh', muß ich erröten.

Und im Herzen als mein Urteil glüht das Wort: »Du sollst nicht töten!«


Weinend bittre Reuezähren, zwischen Buch und Bleisoldaten

Legte seinen Kopf der Sünder auf den Schauplatz seiner Taten,

Auf den Tisch, und sah die Fee nicht in dem weißen Zauberschleier,

Die, sich aus der Laube Wipfel lösend, scheu zuerst, dann freier[199]

Hinter den verhärmten Knaben trat und wie ein Hauch berührte

Seinen Scheitel. Leise sprach sie, während ihre Hand sie führte

Lässig über seine Locken: »Höre, was ich dir verkünde!

Du bist mein. Und wenn du leidest, – ich verführte dich zur Sünde.

Denn ich spiegle deinem Geiste, deinen Sinnen, was dich blendet,

Und noch vieles wirst du leiden, bis die Zeit der Prüfung endet.

Doch, wenn du sie kannst bestehen, sei's in vielen, vielen Jahren,

Wenn vorbei ist deine Jugend, wenn du stehst in grauen Haaren,

Sieh, alsdann bin ich es wieder, die dir weist den Weg zur Sühne,

Die dich lehrt ein Denkmal bauen deinen Opfern, eine Bühne,

Drauf du mit bewegtem Herzen feierst dieser Kleinen Leiden,

Lehrend deine Menschenbrüder Liebe hegen, Frevel meiden.«


So die Göttin. Und der Knabe, schauernd noch in seiner Reue,

Fuhr empor. Da lag der Garten einsam. Nur des Himmels Bläue[200]

Spannte hoch sich über all den frisch belaubten Blütenbäumen,

Und es zog durchs Herz des Knaben mit der Trauer scheues Träumen.
[201]

Fortsetzung der dritten Handlung

Quelle:
Josef Victor Widmann: Maikäfer-Komödie. Frauenfeld [o.J.], S. 187-203.
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