45.
An Lais.

[273] Deine Briefe müssen einen sehr betriebsamen Genius haben, schöne Lais; denn der Schiffer, der mir so eben den letzten überbringt, versichert mir, daß er die Reise von Aegina nach Cyrene, die er seit vielen Jahren zwei bis dreimal jährlich mache, in seinem Leben nie in so kurzer Zeit und mit so günstigen Winden gemacht habe, als dießmal.

Deine Neuigkeit hat mich befremdet, aber nicht im geringsten beunruhigt. Eine so boshafte Anklage, von so namenlosen[273] Menschen wie diese, kann einem Sokrates nicht gefährlich seyn, oder die Kechenäer müßten von aller Scham und Vernunft gänzlich verlassen werden. Ich kenne von den Anklägern nur einen persönlich, den Lederhändler Anytus, einen würdigen Nachfolger des berüchtigten Kleons128, nur daß er sich gegen diesen ungefähr verhält wie ein Schafsfell zu einer Hirschhaut; ob er sich's gleich ein paar hundert tüchtige Bocksfelle kosten ließ, um es in der edeln Kunst, dem übelhörenden halbkindischen alten Demos129 im Pnyx130 die Ohren voll zu schreien, so weit zu bringen, daß er sich unter den dermaligen Volksrednern so gut als ein Anderer hören lassen darf. Lykon ist ein verdorbner Schulhalter in der Rhetorik, und ich entsinne mich nicht, den Namen des Dichterlings Melitus je gehört zu haben. Was für Leute, um gegen einen Mann wie Sokrates aufzustehen! und wie fände nur ein Schatten von Wahrscheinlichkeit statt, daß die Athener den biedersten und tugendhaftesten aller ihrer Mitbürger, einen Mann dessen Name im ganzen Griechenland in Ehren gehalten wird, die Profession eines freiwilligen unbezahlten Volks- und Jugend-Lehrers dreißig Jahre lang ungestört hätten treiben lassen, um ihn erst in seinem siebzigsten deßwegen zur Rede zu stellen, und solcher albernen Beschuldigungen wegen aus der Stadt zu verweisen, oder gar zum Tode zu verurtheilen? Wie du sagst, wir haben nichts für ihn zu fürchten; die ganze Komödie wird sich, so gut als ehemals die Wolken des Aristophanes, auf eine ehrenvolle Art für ihn und auf eine so schmähliche für die drei Sykophanten endigen, daß sie uns hinter drein Stoff genug zum Lachen geben soll.[274]

Wir haben, meines Wissens, keine Nachtigallen in Cyrene. Ich werde mich also, sobald ich hier loskommen kann, auf den Weg machen, um die deinigen noch singen zu hören bevor ihre Zeit vorüber ist. An Sirenen fehlt es auch bei uns nicht; aber ich kenne keine schlimmere als die schlaue Lysandra, von welcher du den armen Eurybates zu erlösen gesonnen scheinst. In der That wär' es eine verdienstliche That, und, um eine der schönsten Historien daraus zu machen, brauchte es nichts, als daß der edle Kodride131 großmüthig genug wäre, keinen Ersatz von dir zu fordern, oder, wie der gute Kleombrot, sich am geistigen Ambrosia deines bloßen Anschauens genügen ließe; wiewohl zu befürchten ist, daß so materielle Wesen, wie die Athenischen und Korinthischen Eupatriden, es bei einer so leichten erotischen Diät schwerlich lange aushalten möchten.

Du wirst von Learch vernommen haben, daß ich nicht so glücklich war, den Aritades noch am Leben anzutreffen. Ich habe einen sehr gütigen Vater, Cyrene einen ihrer besten Bürger an ihm verloren. Seine Jugend fiel in eine Zeit, wo die Lebensart bei uns viel einfacher, die Sitten reiner, die Verhältnisse unter Verwandten, Nachbarn und Mitbürgern enger und herzlicher waren als heutzutage. Aritades blieb dem Genius seiner bessern Zeit getreu, ohne von der jetzigen Generation zu verlangen, daß sie vorsetzlich wieder so weit zurückschreite, als sie in allem unvermerkt vorwärts gerückt ist. Wahrscheinlich hat der traurige Ausgang unsrer letzten Revolution den Faden seines Lebens früher abgerissen als die Natur es wollte. Das Vordringen des republikanischen Kriegsheers in den letzten Tagen Aristons nöthigte ihn, sich in die Stadt[275] zu flüchten und seine Güter der Verheerung Preis zu geben. Natürlicherweise treffen die Folgen dieses Unfalls auch mich. Ich werde nicht reich genug zurückkommen, um meine gewohnte Lebensart in die Länge fortsetzen zu können; und ich sehe eine Zeit voraus, wo ich mich vielleicht werde entschließen müssen, entweder bei der Philosophie des Sokrates zu hungern, oder meine von Hippias gelernten Künste wuchern zu lassen. – Doch, diese Zeit ist noch fern genug, und im nächsten Jahrzehnt wenigstens soll es mir nicht an Mitteln fehlen, den Lebensplan, den ich mir für diese Periode gemacht habe, vollständig und gemächlich auszuführen. Sey also von dieser Seite unbesorgt für mich, meine Liebe; ich werde in zehn Jahren so viel Vorrath für die Zukunft gesammelt und so große Fortschritte in der Kunst zu leben gemacht haben, daß ich mit beiden auszulangen hoffe, wenn ich auch so alt wie Tithon würde.

Mein Bruder ist zu tief in die Geschäfte seiner einzigen Liebschaft, unsrer aus dem politischen Medeenkessel132 neuverjüngt herausgestiegenen Republik verwickelt, als daß ihm Muße zu seinen Privatangelegenheiten übrig bliebe. Aber Eros und Aphrodite verhüten, daß ich hier so lange ausharre, bis unsre Erbschaftssache bei Drachmen und Obolen ausgeglichen ist! Ich gedenke mich mit irgend einer mäßigen Summe abfinden zu lassen, um desto eher in Aegina anzukommen, wo ich meinen edlen Freund Eurybates (unter uns gesagt) lieber zu deinen schönen Füßen als in deinen Armen überraschen möchte.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke. Band 22, Leipzig 1839, S. 273-276.
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