[252] Der sinesische Übersetzer bedauert, daß er, alles Nachforschens ungeachtet, das Buch mit den goldnen Buchstaben, welches Danischmend für den Sultan Gebal verfertigen lassen mußte, nicht habe zu Gesichte bekommen können. Er vermutet, man habe am Hofe zu Dehly ein Staatsgeheimnis daraus gemacht, oder (welches allerdings noch wahrscheinlicher ist) daß es der goldnen Buchstaben und des prächtigen Bandes wegen in die königliche Kunstkammer gelegt, und durch diese gar zu große Hochschätzung der Welt eben so unnütz gemacht worden sei, als wenn man es unter eine von den Pyramiden bei Kairo vergraben hätte. Da wir also außer Stande sind, die vermutliche Neugier unsrer Leser durch Mitteilung eines Buches zu befriedigen, welches (wenn es anders bei der bekannten Ausraubung des mogolischen Schatzes durch Thamas Kuli-Kan nicht nach Ispahan gekommen ist) vielleicht noch immer in irgend einem Winkel der kaiserlichen Schatzkammer zu Agra verborgen liegt: so bleibt uns nichts übrig, als den wohl meinenden Danischmend seine Erzählung von der Regierung des Königs Tifan fortsetzen zu lassen so gut er kann.
»Alle Nachrichten«, fuhr er fort, »welche sich aus den blühenden Zeiten des scheschianischen Reiches erhalten haben, vereinigen sich, den Zustand desselben unter Tifans Regierung als den glückseligsten, worin sich jemals eine Nation befunden habe, abzuschildern. Alles, was uns die alten Fabeln oder Überlieferungen von dem wonnevollen Leben der ältesten Menschen unter der Regierung der Götter melden, wurde in dieser bewundernswürdigen Regierung wahr gemacht. Die Fremden, welche Scheschian zu Isfandiars Zeit gesehen hatten, und im dreißigsten Jahre der Regierung Tifans wieder dahin kamen, konnten kaum sich selbst bereden, daß dies das nämliche Land und das nämliche Volk sei. Alle Provinzen dieses weit grenzenden Reichs standen in voller Blüte; das Land und die Städte wimmelten von fleißigen, wohl gesitteten und fröhlichen Einwohnern; und unter diesem fast unzählbaren Volke herrschte eine Ruhe, eine Sicherheit, eine Eintracht, welche, in Verbindung mit der immer regen Tätigkeit und allgemeinen innerlichen Bewegung, unbegreiflich schien. Das Volk ehrte seine Obern, und liebte[252] seinen eignen Zustand; der Adel schien seiner Vorzüge durch die Tugenden würdig, womit er den Gemeinen vorleuchtete. Kein Richter bog das Recht, kein Finanzeinnehmer stahl, kein Statthalter sog seine Provinz aus. Die Gelehrten hatten – Menschenverstand, die Kaufleute – Gewissen, und (was Ihre Hoheit zu glauben Mühe haben werden) sogar die Priester – Verträglichkeit und Menschenliebe.«
»Nun wahrhaftig«, rief Schach-Gebal, »wenn dies nicht durch Feerei zuging, so möchte ich wohl wissen, wie Tifan es machte, solche Verwandlungen zu bewerkstelligen!«
»Durch die einfachste und natürlichste Operation von der Welt«, sagte Danischmend – »vorausgesetzt, daß ein Fürst die Macht, die Einsichten und den guten Willen Tifans, und einen Ratgeber wie Dschengis habe – mit Einem Worte: durch gute Gesetze.
Dieser erhabenste Teil des königlichen Amtes, und in den damaligen Umständen Scheschians der wichtigste, beschäftigte den Sultan Tifan in den ersten Jahren seiner Regierung mehr als alles übrige. Er bediente sich hierbei anfangs fast ganz allein der Beihülfe seines alten Freundes. Denn so ein weitschichtiges Werk die Gesetzgebung für ein ganzes Volk ist, so schickt sich doch kein andres Geschäft weniger dazu, von vielen Köpfen bearbeitet zu werden.40
Die erste Frage war: Ob man sich begnügen sollte, die alten Gesetze und Gewohnheiten des Reichs zu verbessern, oder ob zu Erzielung der allgemeinen Wohlfahrt eine ganz neue Gesetzgebung vonnöten sei?
Dschengis war für die letzte Meinung. ›Ein altes, übel gebautes und beinahe schon gänzlich zerfallnes Gebäude‹, sagte Dschengis, ›muß nicht geflickt, es muß vollends eingerissen, und nach einem bessern Plane neu aufgeführt werden.‹
Nach diesem Begriffe arbeiteten Tifan und Dschengis das Gesetzbuch aus, dessen ich gestern bereits erwähnte; und sobald, mit Zuziehung eines Ausschusses der rechtschaffensten Männer, welche die Regierung Tifans aus der Verborgenheit hervor gelockt hatte, die letzte Hand daran gelegt worden war, wurde es im dritten Jahre Tifans öffentlich kund gemacht, und – weil der König Mittel gefunden hatte, den ansehnlichsten Teil der Priesterschaft auf seine Seite zu bringen – ohne einigen Widerstand in allen Provinzen des Reiches eingeführt.«[253]
»Du verstehst unter der Priesterschaft vermutlich keine andre«, sagte Schach-Gebal, »als die Priester des blauen und des feuerfarbnen Affen. Wir kennen diese Herren; und ich begreife alles eher, als wie es Tifan anfing, um sie auf die Seite der gesunden Vernunft zu bringen. Dein Tifan konnte ein wenig hexen, das laß ich mir nicht ausreden!«
»Freilich trugen die Umstände vieles bei, sein Unternehmen zu erleichtern«, versetzte Danischmend. »Die ältesten und eifrigsten Verfechter beider Parteien waren teils durch die Verfolgung unter Isfandiarn, teils durch die bürgerlichen Unruhen aufgerieben worden. Die jungen Priester, welche nun den größten Teil des Ordens ausmachten, glaubten an die Gottheit des blauen oder feuerfarbnen Affen nicht stärker als die ehmaligen ägyptischen Priester an die Gottheit des Apis und des Krokodills; hingegen hatten sie große Ursache zu glauben, daß der Rest von Ansehen, worin sie noch bei dem Volke standen, in kurzem völlig verschwinden würde, wenn sie sich der gesunden Vernunft und dem gemeinen Besten, welche offenbar aus Tifans ganzer Gesetzgebung atmeten, entgegen stemmen wollten. Zudem hatte man nicht vergessen, sie in den geheimen Unterhandlungen, welche vorher mit ihnen gepflogen wurden, zu überzeugen, daß sie bei der neuen Einrichtung mehr gewinnen als verlieren würden; und wirklich machte sie die neue Gesetzgebung zu einer so unentbehrlichen, ehrwürdigen und in jeder Betrachtung so glücklichen Klasse, daß sie, ohne offenbar wider sich selbst und den Staat zugleich zu arbeiten, sich nicht entbrechen konnten die Absichten des Königs zu befördern.
Das Buch der Pflichten und Rechte wurde also« – –
»Ohne Unterbrechung, Herr Danischmend«, rief der Sultan, »besitzt Ihr ein Exemplar von diesem Buche?«
»Bisher«, antwortete der Philosoph, »hab ich unter allen indianischen Handschriften in der Bibliothek Ihrer Hoheit weiter nichts als einen unvollständigen Auszug davon hervor stochern können, der aber, wie es scheint, von guter Hand herrühret. Indessen halte ich's für keine Unmöglichkeit, daß sich nicht in irgend einem Teile der Welt das Buch selbst oder wenigstens eine Übersetzung davon auftreiben lassen sollte.«
»Ich zahle zehntausend Bahamd'or um ein vollständiges Exemplar davon«, sagte Schach-Gebal.
Danischmend war nicht geldgierig; und wenn er es auch gewesen wäre, so kannte er den Sultan seinen Herrn. Ich zahle zehntausend Bahamd'or für dies Buch, wollte in seiner Sprache weiter nichts[254] sagen, als: Weil es, wie ich höre, nicht zu haben ist, so möcht ich es haben, es koste was es wolle!
Der Philosoph versprach also – nicht, das Unmögliche zu versuchen (wie man bei einer gewissen Nation, die in allen ihren Komplimenten sehr hyperbolisch ist, zu sagen pflegt), aber doch, alles Mögliche anzuwenden, um die preiswürdige Neugier Seiner Hoheit zu befriedigen. »Inzwischen«, fuhr er fort, »da es gleichwohl ungewiß ist, ob dieses Buch überhaupt noch in der Welt zu finden sein mag, so wird es Ihrer Hoheit, wie ich hoffe, nicht zuwider sein, aus dem besagten Auszug einen ziemlich umständlichen, und, wenn mich nicht alles betrügt, interessanten Begriff von den vornehmsten Gesetzen und Anordnungen des Königs Tifan zu erhalten.«
»Keinesweges«, sagte Schach-Gebal: »je eher, je lieber!«
»Das ganze Gesetzbuch war in zwei Hauptteile abgeteilt. Der erste begriff die Pflichten und Rechte des Königes; der andere die Pflichten und Rechte der Nation, sowohl überhaupt, als in allen ihren besondern Gliedern betrachtet.
Der erste Teil bestand aus mehr als zwanzig Hauptstücken. Nichts war darin vergessen, was zur genauesten Bestimmung der königlichen Vorrechte gehörte. Dem Könige waren darin alle die Grundregeln vorgeschrieben, welchen er in Ausübung dieser von seinem Amte unzertrennlichen Vorrechte genugzutun hatte. Sogar seine Hofhaltung und die Einrichtung seines häuslichen Lebens wurde darin an eine gewisse Form gebunden, welche, ohne die Könige mit einem unanständigen und unleidlichen Zwange zu belegen, ihren Begierden Schranken setzte, und ihnen gegen die Weichlichkeit und Untätigkeit der meisten morgenländischen Fürsten zum Verwahrungsmittel diente.
›Es ist‹ (sagte Tifan im Eingange des ersten und wichtigsten Teiles seiner Gesetze), ›es ist ungereimt, während daß man die Rechte und Schuldigkeiten der Bürger aufs genaueste aus einander setzt, die Rechte und Pflichten des Fürsten, von welchen doch das Wohl des ganzen Staats abhängt, unentschieden und schwankend seiner eigenen Willkür, oder der Auslegung und Bestimmung unzuverlässiger und mit keinem entscheidenden Ansehen bekleideter Rechtsgelehrten zu überlassen. Es ist ungereimt, während daß dem Privatmanne vorgeschrieben ist, wie er sich in jedem möglichen Verhältnisse mit seinen Mitbürgern zu betragen habe, die besondern Beziehungen des Fürsten gegen den Staat zweideutig zu lassen, und, indessen das Gesetz den Bürgern in Erwerbung und Verwaltung ihrer[255] Güter alle mögliche Schranken setzt, dem Monarchen das Eigentum seines ganzen Volkes preis zu geben. Belehren uns nicht die Jahrbücher des menschlichen Geschlechtes, wie gefährlich diese widersinnige Nachlässigkeit insgemein für das Glück der Völker, und von Zeit zu Zeit auch für die Ruhe der Fürsten und für die Sicherheit ihrer Thronen gewesen ist? Es ist falsche Politik, sich einzubilden, daß es gefährlich sein könnte, der Majestät durch die genaueste Bestimmung ihrer Rechte die Hände zu binden, und das Volk zu einer beständigen Vergleichung der Handlungen seiner Obern mit der Richtschnur derselben zu berechtigen. Weise Gesetze schränken die königliche Macht in keine andre Grenzen ein, als ohne welche das gemeine Wesen, dessen oberste Diener die Könige sind, immer in Gefahr wäre, von ihnen selbst, oder wenigstens von den Dienern seiner Diener gemißhandelt zu werden. Die ganze Schöpfung wird von ihrem Urheber (wiewohl er, und Er allein, im eigentlichsten Verstande ein unumschränkter Herr ist) nach Gesetzen regiert. Welcher irdische Monarch kann sich für berechtigt halten, willkürlicher regieren zu wollen als Gott selbst? Und wenn dieser oberste Monarch seine Wirksamkeit bloß darum an Gesetze gebunden hat, weil er vollkommen weise und gut ist: aus welchem Bewegungsgrunde könnten Könige, die doch nur Menschen sind und über ihresgleichen herrschen, ungebundene Hände verlangen? – Etwann um Gutes zu tun? Das Gesetz zeichnet ihnen dazu die sichersten Wege vor. Es erspart ihnen die Mühe und die Gefahr, aus tausend Abwegen, die vor ihnen liegen, den rechten Weg auszusuchen; und anstatt sie dem Tadel des Volkes auszusetzen, dient es ihnen zum Schilde gegen alle Mißdeutungen, Vorwürfe und Anmaßungen desselben.‹
Diesem Grundsatze gemäß erklärt und bestimmt Tifan im ersten Kapitel die Pflichten und Rechte des königlichen Amtes überhaupt. Die monarchische Verfassung, in so ferne sie durch weise Gesetze eingeschränkt ist, verdient den Namen der vollkommensten Regierungsart eben darum, weil sie der göttlichen am nächsten kommt. Da es vergebens sein würde, eine vollkommnere erfinden zu wollen; so verordnet Tifan, daß Scheschian zu ewigen Zeiten durch einen König regiert werden solle. ›Der König‹, sagt er ferner, ›hat seine Majestät nicht von der Willkür des Volkes, sondern von dem erhabenen Charakter eines sichtbaren Statthalters des obersten Weltbeherrschers. Alle seine Pflichten entspringen aus diesem Charakter, und alle seine Rechte aus – seinen Pflichten. Denn jede Pflicht schließt ein Recht an alles dasjenige,[256] ohne welches sie nicht ausgeübt werden kann, in sich. Sobald ein König von Scheschian unglücklich genug wäre, seine Pflichten abzuschütteln, so hätte er in dem nämlichen Augenblick auch seine Rechte verloren.
Der Vorzug, selbst der Schöpfer seiner Untertanen zu sein, ist ein unterscheidendes Vorrecht der Gottheit. Nichts desto weniger kann der König in gewissem Sinne der Schöpfer seines Volkes werden, indem er die Vermehrung desselben so viel immer möglich ist begünstiget; und dies ist seine erste Pflicht.
Die zweite, worin er sich nicht weniger als einen Nachahmer der Gottheit zeigt, ist die unverwandte Vorsorge, seinem Volke (vorausgesetzt daß dieses es an der pflichtmäßigen Anwendung seiner eigenen Kräfte nicht ermangeln läßt) Unterhalt und Überfluß des Unentbehrlichen zu verschaffen. Wenn auf diesem ganzen Erdenrunde Menschen sind, die an dem Unentbehrlichen Mangel leiden, so liegt es wahrlich nicht an der Kargheit der Natur; denn diese hat Vorrat genug, zehnmal mehr Menschen, als sich jemals zugleich auf ihrer Oberfläche befunden haben, reichlich zu ernähren. An den Statthaltern der Gottheit ganz allein liegt die Schuld; denn in ihren Händen liegt die Macht, einer allzu großen Ungleichheit vorzubauen; dem Müßiggang keine Duldung zu bewilligen; den Fleiß aufzumuntern; für den möglichsten Anbau der Ländereien zu sorgen; Vorratshäuser für künftige Notfälle zu unterhalten; den Provinzen zum Umsatz und Vertrieb ihrer Produkte alle von ihnen abhangende Bequemlichkeit zu verschaffen; und (was die unentbehrlichste Bedingung der Bevölkerung sowohl als des Wohlstandes eines jeden Staates ist) die Sitten ihrer Völker zu bilden, und, wenn sie einmal gut sind, sie rein und unverdorben zu erhalten.‹
Auf diese Weise entwickelt Tifan nach und nach alle übrige Pflichten, welche aus der großen Pflicht der Vorsorge für den Staat entspringen, und deren jeder in der Folge ein eignes Hauptstück gewidmet ist. Er bezeichnet sie durch kurze allgemeine Formeln, in welchen, mit eben so viel starken Zügen als Worten, der König als Gesetzgeber, als Richter, als Verwalter der Staatswirtschaft, als Beschützer des Staats, als Aufseher der Religion und der Sitten, als Beförderer der Wissenschaften und Künste, und, was den Grund zu allen diesen Verhältnissen legt, als der allgemeine Vater und Pfleger der Jugend des Staats, dargestellt wird.
Nichts kann feierlicher sein als die Apostrophe an die Könige[257] seine Nachfolger, womit er dieses Hauptstück schließt. – ›Welch ein Umfang von großen, von äußerst wichtigen Pflichten!‹ ruft der erhabene Gesetzgeber aus. ›Wisset, ihr Könige, die ihr einst auf Tifans Stuhle sitzen, und den furchtbaren Eid der Treue gegen den König der Könige, und gegen das Volk, das seine Vorsehung euch anvertrauet hat, auf dieses geheiligte Gesetzbuch schwören werdet, wisset, daß meine Hand zitterte, da ich diese Pflichten niederschrieb; daß ein Schauer meine Seele durchfuhr, da ich ihren ganzen Umkreis überdachte. Diese Gesetze, welche wir beschworen haben, werden unsre Richter sein! Je nachdem wir unser großes Amt wohl oder übel verwaltet haben, wird eine Nachwelt, die uns nichts als Gerechtigkeit schuldig ist, unser Andenken ehren und segnen, oder unsre ruhmlosen Namen mit Verachtung aus dem Buche der Könige auslöschen; und wegen alles Guten, welches wir zu tun unterlassen, wegen alles Bösen, welches wir getan haben, wird dereinst ein unerbittlicher Richter Rechenschaft von unserer Seele fordern!‹
In den nächst folgenden Hauptstücken werden die besondern Pflichten des königlichen Amtes einzeln genauer entwickelt, und die Art und Weise, wie sie auszuüben, durch besondere Gesetze bestimmt. Dieser Ordnung zu Folge macht die gesetzgebende Macht des Königs den Gegenstand des zweiten Hauptstückes aus. Es werden darin die Fälle angegeben, in welchen der König berechtiget ist neue Gesetze zu geben, nachdem sie von den Vorstehern der Stände geprüft und dem Buche der Pflichten und Rechte nicht entgegen stehend befunden worden. Hauptsächlich aber beschäftigt sich Tifan darin mit Anordnung der Mittel, wodurch die Gesetze in jener immer lebhaften Wirksamkeit erhalten werden können, ohne welche der Staat von der besten Gesetzgebung wenig Nutzen ziehen würde. Zu diesem Ende wird nicht nur (wie oben bereits erwähnt worden) dem Ausschusse der sämtlichen Stände des Reiches das Recht zugestanden, in ihren gesetzmäßigen Versammlungen die Beschwerden, welche durch Übertretung oder Mißbrauch eines Gesetzes veranlaßt würden, dem Könige vorzulegen: sondern es werden auch für jede Stadt, und jeden der kleinen Bezirke, in welche die Provinzen zu diesem Ende abgeteilt worden, besondere Aufseher angeordnet, deren Amt ist, auf die Befolgung der Gesetze genaue Acht zu haben, jede Verletzung derselben anzumerken, und alle Monate darüber an den Oberaufseher der ganzen Provinz umständlichen Bericht zu erstatten, damit von diesem sogleich an den König selbst berichtet, und dem Übel mit den gehörigen Mitteln in Zeiten begegnet werden könne.[258]
Übrigens wird in diesem Hauptstücke allen und jeden Einwohnern von Scheschian bei Strafe der ewigen Landesverweisung untersagt, Auslegungen oder Glossen über das Buch der Pflichten und Rechte zu verfassen, oder irgend ein darin enthaltenes Gesetz, unter welchem Vorwand es auch geschehen könnte, zu einem Gegenstande der Privatuntersuchung zu machen. Und falls jemals über den Verstand eines Gesetzes, oder die Anwendung desselben in einem besondern Falle, ein billiger Zweifel entstehen sollte; so kommt zwar dem Könige das Recht der Auslegung oder Erklärung zu: jedoch soll dieselbe in keinem andern, wiewohl ähnlichen, Falle angezogen oder zur Richtschnur genommen werden; es wäre denn, daß sie, mit Einwilligung der Stände des Reichs, die Form und Kraft eines ewig gültigen Gesetzes erhalten hätte.
Im dritten Hauptstück wird die Bevölkerung des Staats als einer der wichtigsten Gegenstände der königlichen Vorsorge betrachtet. ›Die ganze bisherige Verfassung von Scheschian‹ (sagt Tifan) ›der Despotismus der Regierung, die Religion der Bonzen, die unmäßige Größe der Hauptstadt, der Mangel an Aufmerksamkeit auf den Zustand der Provinzen, die Unterdrückung und Ausplünderung des Volkes durch Abgaben, die der Einnahme desselben nicht gemäß waren und durch die bloße Art des Bezugs schon unerträglich wurden, endlich der zügellose Luxus, und die Verderbnis der Sitten; dieser Zusammenfluß von Übeln hatte das Reich binnen einem Jahrhundert unvermerkt auf die Hälfte seiner ehemaligen Einwohner herab geschmelzt, als die letzten Jahre Isfandiars und die darauf erfolgte Zerrüttung das allgemeine Elend vollendeten. Die Entvölkerung der Städte und der verödete Zustand ganzer Provinzen hat die Einführung fremder Kolonien unentbehrlich gemacht. Aber weder dieses noch irgend ein anderes von den Mitteln, die von einigen Fürsten in solchen Fällen angewandt worden sind, kann die abgezielte Wirkung tun, so lange jene Übel fortdauern, von welchen die Entvölkerung eines Staates die notwendige Folge ist, oder sobald ihnen der Zugang wieder eröffnet würde. Das gründlichste und unfehlbarste Bevölkerungsmittel ist demnach eine Gesetzgebung, durch welche nicht die Zufälle der Entvölkerung überpflastert, sondern die Ursachen derselben mit der Wurzel ausgerottet werden.‹ – Dieses war eine der großen Absichten der Gesetze Tifans: und da das ganze System derselben alle zu Hervorbringung dieser Absicht erforderlichen Mittel in sich faßte; so blieb den folgenden Königen nichts übrig, als mit der genauesten Sorgfalt über der Beobachtung dieser Gesetze zu halten, und jeden Mißbrauch,[259] der sie unvermerkt hätte unkräftig machen und untergraben können, sogleich im Keime zu ersticken.
Übrigens läßt sich aus einer Stelle dieses Kapitels schließen, daß Tifan auch in den Ehegesetzen der Scheschianer beträchtliche Änderungen vorgenommen habe. Allein da sie ein besonderes Hauptstück des zweiten Teils seines Gesetzbuchs ausmachen: so läßt sich, bis man eine vollständige Abschrift desselben gefunden haben wird, weiter nichts davon sagen, als daß der ehelose Stand durch Tifans Gesetze niemanden verstattet wurde, der nicht eine angeborne oder zufällige körperliche Untüchtigkeit von der unverbesserlichen Art gerichtlich erweisen konnte.«
»Aber, Herr Danischmend«, sagte der Sultan, »ich möchte wohl wissen, wie du mir den Zweifel auflösen wolltest, der mir in diesem Augenblicke gegen Tifans Grundsätze über die Bevölkerung einfällt. Ich setze voraus (was doch in der Tat kaum zu glauben ist), daß er wirklich alle physischen, politischen und sittlichen Hindernisse, welche der Vermehrung eines Volkes nachteilig sind, glücklich aus dem Wege geräumt habe; was wird die Folge davon sein? Seine Scheschianer werden sich vermehren wie die Kaninchen; in kurzem werden sie nicht mehr Raum genug haben neben einander zu wohnen; und der bloße Mangel an Unterhalt wird endlich eine ärgere Verwüstung unter ihnen anrichten, als Despotismus, Schwelgerei, Bonzen, Tänzerinnen, Ärzte und Apotheker zusammen genommen nicht anzurichten vermocht hätten. – Wie oft, sagt man, muß sich ein Volk ordentlicher Weise verdoppeln, Danischmend?«
»Die Auflösung dieser Frage«, versetzte Danischmend, »hängt von einer Menge zufälliger Umstände ab, welche das verlangte allgemeine Zeitmaß, in so fern es richtig sein soll, unmöglich zu machen scheinen. Gleichwohl, da sich mit gutem Grunde voraussetzen läßt, daß unter einem Volke, wie wir uns das neue Geschlecht von Menschen, welches die Gesetzgebung Tifans in Scheschian bildete, vorstellen müssen, das ist, unter der gesundesten, nüchternsten, mäßigsten, fröhlichsten und gutartigsten Nation von der Welt, die Leute natürlicher Weise ungleich länger leben, und die Ehen viel länger fruchtbar sind als bei allen andern Völkern: so können wir, deucht mich, ohne Bedenken annehmen, daß sich die Anzahl der Einwohner Scheschians unter besagten Umständen in hundert Jahren wenigstens zweimal verdoppelt haben müsse; und dies macht freilich in zweihundert Jahren eine ungeheure Summe aus.«
»Und woher sollen alle diese Menschen ihren Unterhalt nehmen?«[260]
»Ich setze (vermöge einer Berechnung, womit es unschicklich wäre Ihrer Hoheit beschwerlich zu fallen) voraus, daß Scheschian, auf dem Grade der Vollkommenheit wozu Tifan den Anbau des Landes brachte, vermögend war, wenigstens hundert Millionen arbeitsamer und mäßig lebender Menschen zu ernähren.«
»Dies nenn ich viel, Herr Danischmend, wofern Ihr Euch nicht verrechnet habt. Aber setzen wir immer, daß es so gewesen sei; woher sollen zweihundert, vierhundert, achthundert, sechzehnhundert, und alle die unzähligen Millionen, welche am Ende der zwanzigsten Generation vorhanden sein werden, ihren Unterhalt bekommen? Ich wollte wetten, daß zuletzt nicht einmal Luft genug in der Welt wäre, sie zu nähren, wenn sie auch von bloßer Luft leben könnten.«
»Und dazu kommt noch ein Umstand«, sagte die schöne Nurmahal, »der dem armen Danischmend eine Gelegenheit entzieht, wodurch er die Anzahl seiner Scheschianer von Zeit zu Zeit merklich hätte vermindern können. Wenn Tifans Nachfolger ihrem Vorbilde nur einiger Maßen ähnlich waren, und wenn sich also die Verfassung, welche dieses Reich von Tifan empfing, einige Jahrhunderte erhalten hat, wie man von so einer vollkommenen Gesetzgebung nicht anders erwarten kann: so ist nicht begreiflich, wie Scheschian in dieser ganzen Zeit in einen Krieg von einiger Bedeutung hätte sollen verwickelt werden können. Wer hätte sich unterstehen wollen, einen solchen Staat anzugreifen oder sich ihn zum Feinde zu machen? Und was in der Welt hätte einen König von Scheschian bewegen können, selbst der Angreifer zu sein?«
»Die Ehre seiner Krone kann den besten König nötigen, einen Krieg anzufangen, oder an den Händeln seiner Nachbarn Anteil zu nehmen«, sagte Schach-Gebal.41 »Doch, wir wollen diese Betrachtung gelten lassen was sie kann; immer seh ich nicht ab, wie sich Freund Danischmend diesmal aus der Sache ziehen wird.«
»Bald würden mir Ihre Hoheit bange machen«, erwiderte der Doktor. »Gleichwohl ist diese Bevölkerungssache so schlimm nicht als sie beim ersten Anblicke scheint. Je mehr sich die Bewohner von Scheschian vervielfältigen, je mehr Hände haben wir die Natur zu bearbeiten; eine Quelle, welche desto ergiebiger ist, je größer die Zahl derer ist die aus ihr schöpfen. Und wer kann das Maß und die Grenzen ihrer Fruchtbarkeit bestimmen? Überdies nimmt auf der[261] einen Seite mit der Zahl der Menschen auch die Summe ihrer Bedürfnisse, und folglich auch der Hände zu, die ihrentwegen in Arbeit gesetzt werden müssen und von dieser Arbeit leben; so wie auf der andern Seite Fleiß und Erfindsamkeit durch die immer nahe Gefahr des Mangels angespornt werden, die Künste zu einer Vollkommenheit zu bringen, wodurch ihnen vermittelst des auswärtigen Handels eine Menge andrer Völker zinsbar wird. Reicht endlich alles dies nicht zu; nun so werden wir uns freilich entschließen müssen, die Bienen zum Muster zu nehmen, und von Zeit zu Zeit die jungen Schwärme zu nötigen, sich andre Wohnsitze auszusuchen: es sei nun, indem ein großer Teil der Scheschianer sich einzeln in fremde Länder zerstreut, wo fleißige und geschickte Ankömmlinge allezeit willkommen sein werden; oder indem der Staat selbst Kolonien aussendet, welche sich auf entlegnen Küsten niederlassen, Künste und Sitten zu barbarischen Völkern tragen, und durch das nämliche Mittel, wodurch sie ihren eigenen Zustand verbessern, zugleich Wohltäter des menschlichen Geschlechts werden. Wie viele und große Inseln, wie viele bewohnbare Gegenden des festen Landes liegen entweder noch ganz öde, oder sind doch lange nicht so bewohnt und angebaut, daß sie nicht noch Raums genug für viele Millionen neuer Ankömmlinge haben sollten, welche, anstatt ihren Unterhalt durch die Jagd in unermeßlichen Wildnissen zu suchen, die Werkzeuge des Ackerbaues und der Künste mit sich bringen, wodurch der zehnte Teil des Bezirks worin hundert Wilde kümmerlich ihrem Hunger wehren, zu einer reichen Vorratskammer für hundertmal so viel gesittete Familien gemacht wird!«
»Sehr wohl, sehr wohl«, sagte der Sultan lächelnd: »und wenn auch dies nicht zureicht, Herr Danischmend, nun, so haben wir ja auf den Notfall noch Heuschrecken, Pestilenz, Erdbeben und Überschwemmungen, welche uns die Mühe ersparen können, eine kleine Abänderung in den Gesetzen des weisen Tifan zu machen.«
»Ich hoffe, wir werden nicht vonnöten haben, die Natur um eine so grausame Hülfe anzurufen. Sie hat schon auf eine andre Weise dafür gesorgt, daß, bei allen möglichen sittlichen Beförderungsmitteln der Bevölkerung, dennoch nicht leicht ein gefährliches Übermaß derselben zu besorgen ist. Die Vermehrung steht, nach einer allgemeinen Beobachtung, in einem selten ungleichen Verhältnisse mit der mehrern oder mindern Leichtigkeit, die das Volk hat, seinen Unterhalt zu gewinnen. Und gesetzt auch, einer von Tifans Nachfolgern hätte sich endlich genötiget gesehen, dem Verbot des ehelosen Standes etwas weitere Grenzen zu setzen: würde nicht diese[262] Notwendigkeit selbst den stärksten Beweis von der Vortrefflichkeit der Gesetze Tifans ausgemacht haben?«
»Bei allem dem«, fuhr Schach-Gebal in seinem einmal angenommenen Tone fort, »mag es in Scheschian jährlich eine hübsche Anzahl Fündelkinder gegeben haben, Herr Danischmend?«
»Eine sehr ansehnliche, allem Vermuten nach«, sagte der Philosoph: »aber desto besser für den König, oder, eigentlicher zu reden, für den Staat!«
»Wie so?« fragte der Sultan.
»Um Ihre Hoheit nicht mit Rätseln aufzuhalten, muß ich sagen, daß es, von Tifans Zeiten an, eigentlich gar keine Fündelkinder in Scheschian gab; – denn von unehelichen war die Rede nicht mehr. Tifans Gesetze hatten dafür gesorgt, daß Natur und Liebe sich niemals in der traurigen Notwendigkeit befinden konnten, das Süßeste und Werteste, was beide haben, verleugnen zu müssen. Aber in allen Städten und andern schicklichen Plätzen waren Häuser angelegt, wo die Kinder der Tagelöhner und der Dürftigen (sobald die Last der Ernährung und Erziehung derselben den Eltern zu schwer fiel) auf Unkosten des Königs erzogen wurden.«
»Dein Tifan war ein seltsamer Kameralist«, rief Schach-Gebal aus.
»Dies war er auch in der Tat, wie Ihre Hoheit aus einem der folgenden Kapitel seiner Gesetze sehen werden. Indessen fiel diese Einrichtung, durch die Art wie sie veranstaltet war, dem Staate gar nicht schwer, und verschaffte ihm hingegen einen vielfachen beträchtlichen Nutzen. In den meisten andern Staaten vereinigen sich Dürftigkeit, ungesunde Nahrung, und durchgängige Verwahrlosung der Leiber und der Seelen, aus den Kindern der Tagelöhner und der untersten Klasse der Handwerksleute eine Art von Geschöpfen zu machen, die von der dümmsten Art von Vieh kaum durch etwas andres als einige, wiewohl öfters sehr unvollkommene, Ähnlichkeit mit der menschlichen Gestalt zu unterscheiden sind. In Scheschian war es ganz anders. Da die Eltern dieser Kinder (außer einem ge ringen Beitrage, den sie zum Unterhalt derselben bis ins siebente Jahr – das ist, bis sie durch die Arbeit, wozu sie angehalten wurden, ihre Nahrung selbst verdienen konnten – von ihrem Verdienste abgeben mußten) bloß für ihren eigenen Unterhalt zu sorgen hatten, den sie durch eine nicht übermäßige Arbeit reichlich erwerben konnten: so brachten sie zu einem Geschäfte, welches die Natur zum Besten der Menschheit mit so vielem Reize verbunden hat, mehr Lust, Munterkeit und Kräfte, als man von andern ihresgleichen, unter den elenden[263] und drückenden Umständen, worin sie in den meisten Ländern schmachten, erwarten kann. Sie zeugten also auch gesundere, stärkere und schönere Kinder; und die weisen Anstalten, welche Tifan zu Erziehung derselben getroffen hatte, waren eben so viele Pflanzschulen, worin dem gemeinen Wesen nützliche Mitglieder von allen Arten gebildet wurden.
In den meisten andern Staaten würden solche Anstalten, aus Mangel kluger Einrichtung und guter Aufsicht, in kurzem ausarten, und den gemeinnützigen Zweck nur auf eine sehr unvollkommene Weise befördern. Aber hier hatte Tifan für alles gesorgt. Alle in dergleichen öffentlichen Erziehungshäusern sonst gewöhnliche Mißbräuche waren unmöglich gemacht. Diese Kinder genossen unter dem Namen der Pflegekinder des Königs den unmittelbaren königlichen Schutz. Die Könige selbst, welche das Gesetz nach dem Beispiele Tifans zu beständigen Reisen durch die verschiedenen Provinzen des Reichs verpflichtete, kamen von Zeit zu Zeit, den Zustand ihrer Pflegekinder zu untersuchen, und die geringste Untreue oder Saumseligkeit auf Seiten der Personen, welche als Bediente oder als Lehrmeister und Aufseher bei diesen Häusern angestellt waren, wurde so scharf bestraft, ein pflichtmäßiges Betragen hingegen, nach Verfluß einer gewissen Zeit, so wohl belohnt, daß Fremde, welche diese sonderbaren Stiftungen sahen, sich nicht genug darüber wundern konnten – daß es so leicht sei, gute Anstalten in der besten Ordnung zu erhalten.«
»In der Tat, ich lasse mir diese Einrichtung gefallen«, sagte Schach-Gebal. »Aber was machte Tifan mit so vielen Pflegekindern?«
»Es scheint nicht, daß er jemals über ihre Menge verlegen gewesen sei«, antwortete Danischmend. »Die stärksten aus ihnen wurden zum Soldatenstand, oder zu andern Verrichtungen, welche vorzügliche Leibeskräfte erfordern, erzogen; und die unfähigsten waren doch immer zu irgend einer mechanischen Arbeit gut genug. Ein großer Teil ging als Dienstboten in die Häuser der Edeln und Begüterten über; mit einem andern Teile wurden die Fabriken besetzt, welche Tifan in großer Anzahl angelegt hatte; und diejenigen, bei denen man eine Anlage zu höhern Talenten, oder den Genie irgend einer schönen Kunst entdeckte, wurden in dem gehörigen Alter ausgeschossen, und in andern ihrer Fähigkeit angemessenen Anstalten zu ihrer Bestimmung zubereitet.«
»Danischmend«, sagte der Sultan, »merke dir, daß wir nächstens das weitere von dieser Sache sprechen wollen. Du sollst mir einen[264] Plan vorlegen, – verstehst du mich? Gute Beispiele verdienen Nachfolger. Für heute haben wir genug.«
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