[123] Die Empfindung des Schönen, das Schöne selbst, haben wir völlig dem Kreis des Historisch-Subjektiven vindiziert. Allein wir dürfen nicht bei diesem Satze stehenbleiben; auch das Gute, auch das Wahre gehört in dieses Gebiet. Wer es leugnet, verkennt die Geschichte und den innigen Zusammenhang des Guten, Schönen und Wahren, wie er sich geschichtlich kundtut.
Wir haben den Punkt zu bezeichnen gesucht, der auf den verschiedenen Kulturstufen des Völkerlebens als der Mittelpunkt aller geistig-sinnlichen Tätigkeiten erschien, und in welchem alle individuellen Anschauungen sich in eine große epochenartige Weltanschauung konzentrierten. Nur eine Zeit, der gar keine gemeinsame Anschauungsweise zugrunde liegt, konnte scheiden, was Gott vereinigt hat, konnte mit dürren Schulbegriffen in der geheimnisvollen Werkstatt des Lebens operieren. So wenig in solcher Zeit die Theologie mit der Religion, so wenig hat die Moral mit der Sittlichkeit, mit der Anwendung auf das öffentliche und einzelne[124] Leben zu schaffen. Was man Moral nennt, wird ein totes Abstraktum von Pflichten- und Tugendlehre, die sich den Anstrich geben, absolut gültig zu sein und jedem Menschenkinde als apodiktische Richtschnur des Handelns zu dienen. Was man Ästhetik nennt, wird ein ähnliches Abstraktum von Schönheitslehren für alle Zeiten und Generationen von der absoluten Natur moralischer Nötigungen nur dadurch unterschieden, daß diese auf einem kategorischen Imperativ beruhe, jene aber, trotz ihrer anmaßlichen Allgemeinheit, der Wahl und Willkür weiteren Spielraum öffnen. Unter den Händen der Philosophen bekam die Ästhetik eine sehr untergeordnete Stellung, wie besonders im System des Heros der kritischen Philosophie. Während Kant die Erhabenheit der Pflicht, die Majestät des Gesetzes mit kräftigen und glänzenden Farben schilderte, stand ihm das Bewußtsein und das Gefühl des Schönen ein klein wenig über den tierischen Vorstellungskräften; das Schöne selbst ist ihm etwas Begriffloses, eine gewisse Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, welche notwendigerweise gefällt, sofern sie ohne Vorstellung eines Zweckes wahrgenommen wird, eine Definition, die so einseitig als falsch ist, da die Zweckmäßigkeit, das ist das Treffen des Mittels zum Zweck, wie schon bemerkt, weder an sich die Schönheit ist, da es sehr viele zweckmäßig häßliche Erscheinungen gibt, noch überhaupt schön genannt werden kann, indem sie nur in dem Bedürftigen der Natur ihren Sitz hat. Betrachtet man mit physiologischen Augen das Innere des menschlichen Leibes, so erscheint uns[125] darin alles durch die Verhältnisse von Zweck und Mittel geordnet, was aber durchaus keine ästhetische Betrachtungsweise zuläßt. Zweck und Mittel sind dort in stetigem Übergang ineinander und zwar allerdings auf die künstlichste Weise, die auch nichts von der Willkür unserer Künsteleien hat, sondern die Notwendigkeit einer höheren Kunst. Allein alles dieses hat die Natur unseren Augen wohltätig verborgen, und wir drängen uns, um unsere Kenntnisse zu bereichern, in ihre innere Werkstätte. Nicht den Prozeß ihrer Tätigkeit, etwas viel Schöneres führt sie uns vor Augen, das Produkt derselben, in welchem alle ihre inneren Anstalten ihr Ziel erreicht haben, vollendet erscheinen, bei welchem man also gar nicht mehr von Mittel und Zweck als abgesonderten Gegenständen sprechen darf, sondern wo Mittel und Zweck ineinander aufgelöst und verflossen sind. Niemand hat dies scharfsinniger auseinandergesetzt als Solger im Ervin.
Moral und Ästhetik haben in Kants Philosophie nichts miteinander gemein; der Geschmack am Guten und der gute Geschmack sind sich durchaus fremd; es ist nicht bloß gut, das Gute zu empfinden in dem Sinn, wie es schön ist, das Schöne zu empfinden, nein, das Gute ist ein Muß, eine Pflicht, ein moralisches Gesetz, dem sich der Wille beugen und unterwerfen muß, ohne sich an der Güte und Schönheit der Tat zu erfreuen, ja, ein solches Wohlgefallen, das der Tat vorhergeht oder sie begleitet, ist verdächtig, denn Lust und Liebe sind trübe Quellen, und nur die steinernen Tafeln des Gesetzes bewahren die Welt vor dem Verfall der Sittlichkeit.[126] Denken Sie nur an eine Menge lyrischer Gedichte und insbesondere auch an die ästhetischen Abhandlungen des kantisierenden Schillers. Hier sehen Sie, wie das freie Spiel der Schönheit dem Ernst der moralischen Gesetzgebung gegenübergestellt, dort, wie die Lust mit der Pflicht in grausamem Kampfs dargestellt wird.
Solange noch Möglichkeit vorhanden ist, sagt unter anderen Schiller in seiner Abhandlung über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen: solange noch Möglichkeit vorhanden ist, daß Neigung und Pflicht in demselben Objekt des Begehrens zusammentreffen, so kann diese Repräsentation des Sittengefühls durch das Schönheitsgefühl keinen positiven Schaden anrichten; obgleich, streng genommen, für die Moralität der einzelnen Handlungen dadurch nichts gewonnen wird. Aber der Fall verändert sich gar sehr, wenn Empfindung und Vernunft ein verschiedenes Interesse haben, wenn die Pflicht ein Betragen gebietet, das den Geschmack empört, oder wenn sich dieser zu einem Objekt hingezogen fühlt, das die Vernunft als moralische Richterin zu verwerfen gezwungen ist.
Jetzt nämlich tritt auf einmal die Notwendigkeit ein, die Ansprüche des moralischen und ästhetischen Sinns auseinanderzusetzen, ihre gegenseitigen Befugnisse zu bestimmen und den wahren Gewalthaber im Gemüt zu erfahren. Aber eine so ununterbrochene Repräsentation hat ihn in Vergessenheit gebracht und die lange Observanz, den Eingebungen des Geschmacks unmittelbar zu[127] gehorchen und sich dabei wohl zu befinden, müßte diesem unvermerkt den Schein eines Rechtes erwerben.
Und nun führt Schiller die Liebe an, die er unter allen Neigungen, die von dem Schönheitsgefühl abstammen, diejenige nennt, die sich dem moralischen Gefühl als ein veredelter Affekt vorzüglich empfehle und nachdem er erst eine dichterische Schilderung von ihr gegeben, daß sie göttliche Funken aus gemeinen Seelen schlage, daß sie jede eigennützige Neigung verzehre, durch ihre allmächtige Tatkraft Entschlüsse beschleunige, welche die bloße Pflicht den schwachen Sterblichen umsonst würde abgefordert haben, ruft er auf einmal aus: aber man wage es ja nicht mit diesem Führer, wenn man nicht schon vorher durch einen besseren gesichert ist, was, beiläufig zu sagen, so viel heißt, als: man liebe nicht ohne Kants kategorischen Imperativ.
Das Beispiel, das er nun anführt, mag uns zugleich diensam sein, die Natur des Irrtums über Pflicht und Schönheitssinn aufzudecken und uns auf die richtige Spur zu leiten.
Der Fall soll eintreten, sagt Schiller, daß der geliebte Gegenstand unglücklich ist, daß es von uns abhängt, ihn durch Aufopferung einiger moralischer Bedenklichkeiten glücklich zu machen. Sollen wir ihn leiden lassen, um ein reines Gewissen zu behalten. Erlaubt dieses der uneigennützige, großmütige, seinem Gegenstand ganz dahingegebene, alles vergessende Affekt? Heißt das lieben, wenn man beim Schmerz der Geliebten noch an[128] sich selbst denkt? So sophistisch, fährt er fort, weiß dieser Affekt die moralische Stimme in uns verächtlich zu machen und unsere sittliche Würde als ein Bestandstück unserer Glückseligkeit vorzustellen, das zu veräußern in unserer Macht steht.
Der Fall ist gut gewählt, doch schützt er nicht, um den Trugschluß der ganzen Ansicht, die Willkür philosophischer Lehrsätze eines Jahrhunderts hinter der Willkür eigener Natur zu verstecken.
Wir sehen hier einen Menschen, den die Liebe verführt, dem, was er für Pflicht hält, untreu zu werden oder vielmehr, der sich eine höhere Pflicht der Liebe erdichtet, um Pflichten der Menschheit zu übertreten. Seine Neigung war an sich eine edle, sie war entsprungen aus dem Schönheitsgefühl, hatte sich gesteigert zur Leidenschaft und drohte nur als solche der Sittlichkeit und dem Pflichtgefühl gefährlich zu wer den, sie war also in ihrem Laufe eine andere geworden, das Schönheitsgefühl, das eine zarte Neigung erzeugte, und sich mit dieser verschmolz, war getrübt worden durch heftige Leidenschaft, diese aber verbindet sich bekanntlich ebensooft mit der Liebe als mit dem Hasse, diese strebt ebensooft das Häßlichste als das Schönste an, diese, wie sie die Erzeugerin alles Großen in her Weltgeschichte ist, war auch die Mutter aller Gewalttaten und Greuel, die nicht vom kalten Blut und der vertrockneten Bosheit diktiert wurden. Nicht allein die Liebe, die auf dem Schönheitsgefühl beruht, hat ihre Leidenschaften, auch die Religion hat die ihrigen, und die liebevollste unter allen, die christliche, hat sich mit den furchtbarsten gesellt[129] und ist durch sie in die blindeste Befangenheit trauriger Irrtümer gestürzt. Ja noch mehr, selbst diese kalte Pflichtenlehre, welche das moralische Gesetz mit eiserner Rute über das Gewissen ihrer Untertanen walten läßt, selbst diese kann sich leidenschaftlich äußern, und es ist mir von einem Kantianer erzählt, der mit einer Art kaltphilosophischer Wut alle Blumen der Lust und Poesie aus seinem Herzen riß und nach den Trommel-und Taktschlägen des Kantischen Moralprinzips so eifrig, wie ein neuangeworbener Rekrut, auf dem Felde der Sittlichkeit sich einexerzierte. Können wir uns nicht an der Stelle des Schillerschen Beispiels ein anderes denken, wo gerade das zur höchsten Einseitigkeit ausgebildete sogenannte Pflichtgefühl in Kollision mit den schöneren Gewalten der Liebe, sei's nun durch Begehen oder Unterlassen, empörend und abscheulich wird? Versuchen wir ein solches; denken wir uns einen ängstlich gewissenhaften Pflichtmenschen, der sich ärgert, wenn es ihm einmal widerfährt, das Gute aus Lust zu tun und das Böse aus Widerwillen zu unterlassen, der sich aber glücklich schätzt, daß er es ziemlich so weit gebracht hat, entweder seine Neigungen zu töten oder trotz seinen Neigungen (natürlich auch seinen schönen und edlen Neigungen) nur auf die strengen Gebote dessen zu achten, was er Pflicht nennt. Denken Sie sich also einen Mann, der es nach Schillers obigem Ausspruch wagen kann, sich zu verlieben. Er liebt wirklich. Der Gegenstand seiner Liebe ist ein schönes und edles Mädchen, lange geht es glücklich, lange teilt er die Neigungen der Liebe mit Pflichten der[130] Moral, bis ihn die Voraussicht eines möglichen, ja wahrscheinlichen Kollisionsfalles unruhig und ängstlich macht und die bloße Furcht, in diesem Kampfe der Liebe mehr als der Pflicht zu gehorchen, das Gebot einer Pflicht annimmt, die ihm anbefiehlt, sein höchstes Gut, die Moralität, den kategorischen Imperativ, beizeiten in Sicherheit zu bringen und sich, wenn auch mit blutendem Herzen, von dem geliebten Gegenstand loszureißen. Mag nun auch aus den Tiefen seiner besseren und schöneren Natur die Stimme der Liebe, der Ehre sich empören über das eisige Gebot einer künstlichen, mißverstandenen Pflicht, er hört sie, überhört sie, flieht, macht ein edles Wesen, sich selbst im Grunde der Seele unglücklich, triumphiert aber als guter Kantianer über den Sieg der Pflicht über die Leidenschaft, nach unserm Gefühl der sophistischen Unnatur über die menschliche Natur, welche uns unbewußter und leiser, aber desto richtiger die Pfade des Lebens führt, als ein willkürliches und erdichtetes Moralgesetz, als ein Götzenbild unserer Philosophie.
Untersuchen wir nun, worauf die Herabsetzung des Ästhetischen in dieser Ansicht, beruht, so finden wir, daß eine völlige Verkennung sowohl des Schönen als des Sittlichen ihre Quelle ist. Wesen, die schön denken und schön handeln, ist das Gute mit dem Schönen völlig identisch. Allein wenn das Leben verdirbt und von der Schönheit nur die Kunst nachbleibt, so taucht eine Moral auf, die um so unerbittlicher den Rest schöner Neigungen bekämpft, als diese wirklich, aus ihrem Zusammenhang mit dem Leben gerissen, nur zu oft in Gefahr[131] stehen, dem bloßen sinnlichen Trieb anheimzufallen und durch gemeine Beisätze entadelt zu werden. Niemand hat in solcher Zeit den rechten Mut, sich seiner Natur zu überlassen, als ob jeder fürchtete, sich in seiner Blöße zu zeigen und die schlaffen, unreinen Sprungfedern seines inneren Lebens vor den Augen der Welt aufzudecken. Aber je armseliger und nackter das Innere, desto prachtvoller ist der moralische Apparat, den man nach außen auftürmt, desto stoischer hüllt man sich in den Mantel der Entsagung, desto scheinheiliger verdammt man die nackte Natur und desto niedriger und erbärmlicher fühlt man sich im Angesicht jenes selbstgeschaffenen erhabenen Pflichtprinzips, das man weder zu erfüllen noch zu leugnen die Kühnheit hat. Nun trägt die arme Sinnlichkeit alle Schuld, nun ist die Schönheit selbst, die nicht lebendig mehr im Herzen lebt, die Verführerin, das Gewissen aber der Pilatus, der sich die Hände in Unschuld wäscht und alle Schuld auf die unbändigen Triebe wirst und auch die Phantasie anklagt, als ob sie beständig durch den Reiz ihrer zügellosen Einfälle zu Übertretungen des moralischen Gesetzes verführe. So wird unsere Seele dann vorgestellt als der Kampfplatz aller möglichen widerstrebenden Kräfte und Neigungen und über dem Gewühl und Wellen der ruhig ernste kategorische Imperativ, der quos ego donnert. Eine solche Vorstellung schickt sich in der Tat für solche Zeiten, die wir erlebt; aber sie ist gottlob nicht die natürliche und wahre, sie gehört dem Gebiet an, woraus sie stammt, dem Gebiet der Schwäche und der Unnatur. Schafft[132] uns ein kräftiges Geschlecht, sprengt die Bande, die den Krafterguß schöner Neigungen und Triebe, sündhaft gefesselt halten, befreit die Welt von den Sünden der Schwäche, und dann seht, wie viele Rudera eurer jetzigen Pflichtenlehre sich in der Umgestaltung des Lebens erhalten werden, und um wie vieles kürzer und bündiger das Kapitel von den Kollisionsfällen zwischen Moral und Trieb ausfallen wird. Aber das ist eben der Haupt-und Grundfehler unserer Moral, nur zu negieren, nur zu verbieten, nur zu vernichten, dagegen sie sich Mühe gibt, alles Treibende und Liebende in uns als das Unmoralische, als das zu Negierende, als das Sündhafte darzustellen.
Sie, der es nicht gelang, auch nur ein einziges Gebot der Liebe zu predigen, wollte es mit der Achtung und Ehrfurcht zwingen, die nach ihrer Behauptung jeder Sterbliche dem kategorischen Imperativ schuldig sei. Mein, so groß auch die Zahl ihrer Berehrer war, es fehlte schon früher nicht an solchen, die den Imperativ geradezu ablehnten, die rechte Lust zur schönen Tat empfanden, rechten Abscheu vor dem Häßlichen und denen das Schöne und Häßliche in bezug auf die Persönlichkeit eben in dem Begriff des Guten und Schlechten enthalten war. Eine solche kernhaft schöne Natur war Goethe, nie hat dieser seine Lippe oder Feder mit einem Miserere vor dem Kampf zwischen Schönheit und kategorischem Imperativ beschwert.
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