XII

Südfrankreich. Lyon; Avignon; Arles, Halluzination in Toulon. Nervenkur; Nizza. Zweites Rom. Albanergebirg. Teatro Capranica

[163] Wenn ich an meine Welschlandreifen mit Hans Kugler zurückdenke, und mich erinnere oder auch in alten Aufzeichnungen finde, wie viel wir, damals beide Nervenmärtyrer, unter diesen ersehnten und geliebten Genußstrapazen gelitten haben, bald der eine, bald der andere, und oft beide zugleich; und wie insbesondere Hans nach jedem lebensseligen Aufschwung, wie wenn er dem Teufel eine Schuld zu zahlen hätte, immer wieder seinem innewohnenden Dämon verfiel: so überkommt mich eine Rührung, die mir jeder edle Sinn wohl nachfühlen mag. Wie oft und wie gründlich haben wir unsre Luft gebüßt; wie vieles ward bei uns als Torheit bestraft, was bei andern nichts als natürliche Ausübung des Jugendrechtes, selbstverständliche Kraftbetätigung ist. Und dieser herrliche Mensch, mein Hans, was für eine Herkulesarbeit war sein ganzes Leben! Nicht nur jede dieser Reisen, auch die große Reise zum Tod. Er vollbrachte sie aber mit einem Humor, den wohl kein Herkules hatte, und mit einer vornehmen, unerschöpflichen Liebenswürdigkeit, die ich immer wieder bewundern mußte, bis zur letzten Stunde.[163] So war er denn auch der beste Reisekamerad, der ut denken ist; wie viel er auch unterwegs zu erdulden und sanft zu klagen oder heroisch zu verschweigen hatte.

Wir wollten diesmal Rom auf einem längeren Umweg erreichen und auch dasjenige Stück von Südfrankreich sehen, das gleichsam ein zweites Italien ist. So zogen wir, am 4. Oktober (1864) von München aufgebrochen, über den Genfersee, den wundervollen, ins Rhonetal hinein und zunächst nach Lyon, um doch auch die Hauptstadt des Südens zu besuchen. Hier erlebten wir die erste Überraschung, deren einem in Frankreich so manche wird; aber gleich eine so gründliche, daß ich fürchten muß, mancher meiner Leser glaubt mir nicht. Wir kamen abends an, es nachtete schon; am Bahnhof keine Droschke, nicht eine! Für alle die Reisenden, die ausstiegen – eine hübsche Menge – standen zwei Omnibusse da; aber nicht so zum Einsteigen, o nein, das duldete die bureaukratische Schreibseligkeit des Galliers nicht, von der ich hier die erste Probe erlebte. Es gab da einen Schalter, an dem man »Queue machte« und für die Omnibusfahrt in die Stadt geschriebene Billette kaufte; das dauerte fast eine Stunde, bis die Zeremonie beendet war. So kamen wir in die zweite Stadt des französischen Kaiserreichs.

Um auch etwas gutes zu sagen, füg' ich gleich hinzu: in den französischen Hotels, von Genf an und so weiter, lebte man wirklich »wie Gott in Frankreich«; es war Hotelpoesie zu nennen; den Segen dieses Bodens und das Talent der Bewohner, diesen Segen auszubeuten, haben wir an jeder Wirtstafel genossen und gepriesen.[164] Diese guten, menschenfreundlichen Weine, wie Wasser auf den Tisch gestellt; diese unvergleichlichen Früchte, Birnen, Feigen, Trauben! Durch das schöne Rhonetal, bis zum Mittelmeer, zog dann freilich auch der besondere Windgott der Provence, der schneidige Mistral mit, der gern drei, auch neun Tage weht; der einzige, dem es gelang, Hans und mich gleichsam zu entzweien: mir stärkte dieser himmelblaue Nordwind die Nerven, daß es eine Luft war, ihm brachte er Erkältung, Mißvergnügen, Elend. Am heftigsten begrüßte er uns in der Hauptstadt der Provence, Avignon; doch Hans, seiner Herkulesarbeit obliegend, genoß tapfer mit. Wir freuten uns an dieser ersten Stadt, die einen stark italienischen Eindruck machte; an dem alten Palast der Päpste, einem riesenhaften Festungsschloßbau mit labyrinthischen Gängen, gewaltigen Wölbungen, tiefen Gefängnissen; an den herrlichen Uferfelsen, die man schön (wenn der Mistral einen nicht in die Rhone wehte) von der langen Brücke sah; auch an dem gegenüberliegenden Villeneuve, das wir wie ein Märchen aus Tausend und eine Nacht durchwanderten: ein zur Zeit der Päpste groß gewordenes Dorf, das nun ein gespenstisch verödetes, halbverlassenes Städtchen war. Dann kamen wir in Nimes zur Antike, die wir in Vienne und Orange nur im Vorbeigehen gesehn; wie römisch ward uns vor und in der prächtigen Arena, wie griechisch vor dem alten Tempelchen, der Maison carrée, zu Mut. Aber das Größte war uns Arles, eine erstaunlich charaktervolle, von ihrer Geschichte wie mit Zungen redende, durchaus italienisch anmutende, etwas verfallene Stadt;[165] mit ihren zum Teil uralten Mauern, ihren schönen Frauen (so viel Schönheit bei so kleiner Menschenzahl hab' ich sonst nirgends gesehn), mit ihren großartigen antiken und mittelalterlichen Überresten ein kleines Rom. Das merkwürdig wohlerhaltene Theater, die Arena mit den mittelalterlichen Türmen und den der Zeit trotzenden Gewölben, das Portal und der Klosterhof von St. Trophime, endlich die Champs Elysées und die wunderschöne Kirchenruine daselbst – – hab' ich das alles damals zu hoch geschätzt? Nein, ich glaube nicht. Ich hatte oft ein Heimweh nach Arles, hab' es heute wieder.

In Toulon erlebte ich endlich die Lösung des Rätsels (sozusagen), das mich seit jener Frankfurter Nacht noch immer nicht ganz freigegeben hatte: Erscheinung oder Halluzination? Hans und ich schliefen in demselben Zimmer, er in einem großen Himmelbett; es begann wohl eben die Morgendämmerung, als ich erwachte. Vor mir stand oder schwebte ein Kopf, ähnlich wie damals, geisterhaft, die Augen auf mich gerichtet, geheftet. Ich starrte ihn an; er wich langsam zurück, gegen Hansens Himmelbett; dort verschwand er oder verging. Das erschreckte mich zuerst in meiner Schlaftrunkenheit, ja, es entsetzte mich; mich durchfuhr ein traumtoller Gedanke: Hans ist tot! Sein Geist hat mich aus dem Schlaf geweckt! – Ich horchte, ob ich ihn atmen hörte. Eine Weile hört' ich nichts. Endlich – – hörte ich ihn zuerst? oder wachte mein Vetstand zuerst? Das weiß ich nicht mehr. Ich fühlte aber, und aus dem Fühlen ward erlösendes Begreifen: Was dir als Zurückweichen erschien, war ja nur Vergehen![166] wie das Abbild eines hellen Fensters vergeht, das dir in den dann geschlossenen Augen eine Weile blieb, das ein Nachbild war. Dieser Kopf war nur in dir. Der Frankfurter auch. Du hattest zu viel Blut in den Augen, oder an den Nerven – oder was sonst. Es war ein im Wachen geträumter Kopf. Ob es nun Geister gibt oder nicht, du hast noch keinen gesehn!

So ungefähr kamen die Gedanken. Hans atmete; und ich atmete auf. Der ich immer nach Freiheit des Geistes und der Seele lechzte, von diesem Gespenst war ich frei!

Aber nun galt es noch, die immer wieder lauernden Geister meiner Nervenkrankheit auszutreiben; und wie viel da noch zu tun war, ahnte ich doch nicht. Hans war brüderlich bereit, mit mir ein paar Wochen in Nizza zu bleiben, damit ich dort eine wirkliche Kur begänne; und in dem französisch gewordenen Nizza angelangt, besuchte ich einen mir empfohlenen deutschen Arzt, Doktor Lippert, der mich mit aller Gründlichkeit untersuchte, aber (wie ich vorher wußte) nichts als reizbare Nerven fand. Er verordnete oder riet eine mir einleuchtende kombinierte Kur: Wasser, Gymnastik und Obst, zunächst Trauben, so lange es deren gab, dann Birnen, dann Orangen. Ich rieb mich jeden Morgen mit Meerwasser ab, das man mir aus der nahen seichten Brandung holte. An der Gymnastik und dem Traubenessen nahm Hans mit vielem Vergnügen teil. Wir durchschweiften das Land, studierten das Volk, sahen den Kaiser von Rußland, der über die französische Besatzung (fast alles dekorierte Leute; die Veteranen hatten ihn in der Krim besiegt) Revue abhielt, sahen[167] später auch den Kaiser Napoleon, der nicht mehr sechs Jahre herrschen sollte und wohl auf dem Gipfel seiner Macht, seines Glückes stand. Ich las römische Dichter und Tacitus; Arria und Messalina traten mir zu einer dramatischen Phantasie zusammen; es fehlte aber noch die entscheidend verbindende Gestalt: die sollte mir erst später zwischen Rom und Neapel kommen. Endlich brachen wir auf, »gen Rom«. Eine herrliche Meerfahrt auf dem Dampfer Espresso an der Riviera di Ponente entlang, vom Morgen bis zum Abend, führte uns nach Genua, das, in der Dämmerung allmählich aus dem Nebelduft heranwachsend, dann im Dunkel der Nacht märchenhaft beleuchtet, uns als Vorposten Italiens in all seiner Pracht empfing.

Nach ein paar Wochen verreisten wir, um in Bologna und vor allem Florenz recht der Kunst zu leben. Wie viel man in Florenz genießen und lernen kann, brauch' ich nicht zu sagen; daß wir es wieder ein wenig übertrieben, sagt sich der werte Leser wohl selbst. Die stärkste Florenz- und Toskanaempfindung überkam uns an einem himmlisch verklärten Nachmittag und Abend in Fiesole; die gewaltigste und andächtigste Erhebung wohl vor Michelangelos Medicäergrabmälern in San Lorenzo. Zuletzt sehnten wir uns beide nach Arbeit und Ruhe. Am 17. November waren wir wieder in Rom. »Wohltuendes Heimatsgefühl!« schrieb ich dort am ersten Tag.

Zu unserm Schmerz fanden wir aber diesmal keine passende gemeinsame Wohnung; wir mußten uns trennen, ich mietete mich an der Piazza de' Cappuccini ein, in einem großen, Winterwärme versprechenden[168] Zimmer, mit wohltuendem Blick in einen Kamelien-und Orangengarten. Hier trieb ich nun mein Wesen als Nervenheilkünstler weiter; ich hatte mich mittler weile rastlos zum Zimmerturner ausgebildet, und jeden Morgen und Abend arbeitete ich mit und ohne Hanteln, in möglichst vielseitigen Bewegungen, lange, nackt, bei offenem Fenster; oft auch von Sonnenstrahlen getroffen – eine Art von Sonnenbad. Ich lebte also schon damals so, wie jetzt zu meiner Freude die vielen Tausende leben; seit Jahren ich auch, von neuem, und zu meinem Segen. Bald begann ich auch die Birnenkur, der später die Orangenkur folgte. Daneben setzte ich freilich auch das nervenverbrauchende, anstrengende Leben draußen und zu Hause fort, ohne das ich mich nicht würdig fühlen konnte, in Rom zu sein. Ich erlebte ja jeden Tag, auf Stadt- und Volk- und Kunstwanderungen, daß ich hier noch unermeßlich viel aufzunehmen hatte. Ich wurde ein eifriger Kostgänger der Bibliothek der deutschen Künstler in der Villa Malta, ich las fast alle griechischen Dichter, den ganzen Herodot, den ganzen Polybios, Burckhardts Cicerone, Vasari, ungezähltes andres dazu. Ich diente meinen Malerfreunden oft und immer wieder als Modell, Studium, Bild; wovon freilich das meiste mißlang. Ich wanderte aber auch mit ihnen weit und breit umher, was den Nerven nicht Verzehrung, sondern Stärkung war und das »unaussprechliche Glück meines Lebens« (wie ich im Januar in mein Tagebuch schrieb) wundervoll erhöhte.

So weckte eines Tages, am ersten Dezember, eine belebende Tramontana plötzliche Sehnsucht, in die[169] Berge zu gehn; Hans Kugler, Marées, Metzener und.ich, nichts als Zahnbürste, Kamm und Seife in der Tasche, brachen am schönsten Morgen auf und zogen zur Via Appia hinaus, um die ganze Gräberstraße entlang und so durch die Campagna fort nach Albano zu schlendern. Die Sonne durchwärmte die Winterluft, sie legte rings ihren Finger auf alles, was schön war; wir studierten uns von Grabmal zu Grabmal weiter; ich beobachtete Nahes und Fernes für eine phantastische Dichtung, die in mir erwacht war und deren Helden ich in seiner Schwermut- und Menschenfluchtzeit hier in der Campagna leben ließ. So kamen wir langsam, erst nach vielen Stunden, nach Albano hinauf; genossen den weiten Blick aufs Meer, die italienischeste Abendseligkeit, dann auch noch die Nacht auf einem Spaziergang nach Ariccia zu. Früh aber am andern Morgen wanderten wir weiter, Himmel und Erde lockten zu sehr. Auf der Galleria di Sotto, dem schönen Steineichenweg, gingen wir nach Castel Gandolfo, dem Sommersitz der Päpste (damals noch; jetzt verlassen sie den Vatikan nicht mehr) und an den altvulkanischen, feierlich prächtigen Albanersee; weiter nach Marino, das mich wie ein kleineres Orvieto überraschte, mit der schönen tiefen Schlucht, dem malerischen Weg hinauf, den Hütten und Schweineställen rechts im dunkelbraunen Fels – alles aufs anmutigste und heiterste an die Antike erinnernd. Dann aufwärts nach Roccadi Papa, einem verräucherten, jähen Felsennest, das in der Nähe von Schritt zu Schritt malerischer ward und unter seiner stolzen, grauen, mit Steineichen wie mit einem nickenden[170] Helmbusch verzierten Kuppe fast wie ein steingewordenes Märchen erschien. Auch diese Kuppe erstiegen wir, von einem Dorfjüngling geführt, der uns unterwegs belle donne anbot. Riesenhafter Blick! Über Wolkenschatten und absinkendes Vorland hinweg auf das in der Tiefe sonnenglänzende Rom, rückwärts auf den verfinsterten Albanersee und das von Arbeiterfeuern rauchende »Lager Hannibals«. Doch wir hatten noch ein Ziel, den Monte Cavo, den Gipfel des Albanergebirgs, den altheiligen Berg. Auf der antiken heiligen Straße, deren Basaltlavasteine der Fuß noch wie in römischer Zeit betritt, stiegen wir hinaus. Bis hierher war es ein Wundertag, eine Perlenkette, nun schien aber der lichtspendende Nordwind durch einen tückischen Afrikaner abgelöst: die Aussicht nach Süden hatten Wolken und Nebel verschleiert, nur hie und da ein Riß, ein flüchtiger Durchblick, und heraufsteigende Schwüle griff uns an die Nerven.

Indessen erfolgte ein allgemeiner Beschluß: Coraggio, Mut und Fidelität! Wir wollten zur Nacht nach Nemi hinunter; den Weg durch die Wälder wußten wir nicht, einen Führer hatten wir nicht, Menschen sahen wir nicht, wir stiegen aber singend und uns verirrend übermütig vergnügt hinab. Überraschend schnell kam der Lohn der Götter: die Luft ward wieder hell und frisch, und mit improvisiert fugiertem Gesang: »Die Tramontana hat gesiegt! Die Tramontana hat gesiegt!« stürmten wir weiter. Es war eine kunstlose Gefühls fuge, so sangen sich vielleicht einst marschierende West- und Ostgoten durch Italien durch; Palestrina hätte es schöner gemacht, wir machten es[171] germanischer. So verirrten wir uns endlich richtig nach Nemi hin. Vor dem Eingang in das Dorf, an dem alten, efeubewachsenen Tor und den violettbraunen Ziegenstallhöhlen umflammte uns die wunderbarste Abendsonnenbeleuchtung, fast wie künstliches Licht bei Nacht; alles brannte. Begeistert, berauscht zogen wir in diese Herrlichkeit ein. Die Licht- und Feuerverschwendung wärmte freilich nicht; es war tüchtig kalt. Nach unserm tapferen Nachtmahl froren wir in unsern Betten. Es gab deren nur zwei, ein großes und ein kleines. Die drei Maler legten sich in das Riesenbett; mich, den Auch nochnichtsgewordenen, ließen sie großmütig allein in dem andern schlafen.

Der nächste Tag brachte schönstes Wetter und den unendlich lieblichen, wie von Homer gedichteten Nemisee. In der Morgenkälte, innerlich durchsonnt, wanderten wir den malerisch poesievollen Weg an den See hinunter, der so tief und still in seiner Kraterhöhle liegt. Alles wirkte griechisch, die so kühn wie schön aufgebauten Mühlen, halb im, halb am Fels, über uns die in der Sonne glänzenden Mauern und Häuser von Nemi zwischen den bewaldeten Felsen, unten am Wasser die Üppigkeit, die Riesenefeustämme, die sich um Feigenbäume und Erlen wie Schlangen erdrückend herumlegten und sie mit ihrem dunkelgrünen Gebüsch wie mit Hecken umkleideten; die vorhängenden und vorkriechenden Erlen im See, die Erdbeerfelder am Fuß der edelbraunen Gesteine und herbstbraunroten Laubbäume, die tausend Schlingpflanzen auf Hecke, Fels und Baum; und überall die hohen[172] Ufer in der Morgensonne leuchtend. Immer schauend, staunend versank ich in mich: der Nemisee dichtete an meinem »Portovenere« weiter. Nach langem, oft verweilendem Schlendern stiegen wir zu dem erwärmenden Sonnenschein von Genzano hinauf; wanderten nach einem stärkenden Frühstück, Kastanien und Nüsse knabbernd, nach Ariccia weiter, auf der tiefer gelegenen schönen alten Straße, die sich um die neue herumschlängelt. Entzückende Baumstudien nach allen Seiten; wir verglichen die immergrünen und die deutschen Eichen, die wie wetteifernd dastanden; zuletzt entschieden wir uns: beide gleich vollkommen! Von Ariccia zogen wir nach Albano weiter und dann wieder nach Ariccia zu rück; wir umwanderten es fast von allen Seiten, drangen in die engen Täler ein; die genießenden Augen fanden keine Ruhe. Die Abendsonne gab uns wieder ein großes, seuerwerkendes Fest. O ihr seligen Tage! – Endlich Abschied nehmend, mit raschen Schritten gingen wir zum Bahnhof von Albano. Schnellzugfahrt bei Halbmondschein durch die dunkle, geisterhaft beleuchtete Campagna; mit improvisiertem Chorgesang, wie auf dem Marsch nach Nemi, Einzug in das ewige Rom.

So durchwanderte ich zu anderen Zeiten, besonders an Feiertagen, mit den Malerfreunden das tote oder das lebendige Rom, um das hereinströmende Landvolk zu studieren oder den Papst und die hohe Geistlichkeit bei ihren Kirchenfesten zu sehn. Am Heiligabend, nach dem gemeinsamen Abendessen im »Carlin«, durchzogen wir die nächtliche Stadt: Kapitol, Forum, Vestatempel,[173] Tiberbrücke, Ghetto – alles gewaltig, geisterhaft, ergreifend. Zuweilen suchten wir auch das Römervolk im Theater auf; so feierten Hans Kugler, Füßli und ich einen Januarssonntag im Teatro Capranica, wo wir, da das Haus überfüllt war, eine Loge nahmen. Ein echt italienischer Theaterabend (von. halb acht Uhr bis Mitternacht); Sonntagsvolk, die ganzen Familien bis zu den kleinsten Kindern hinab, Säuglinge an der Mutter Brust; die Zuschauer immer mitspielend, durch herzhafte Äußerungen sittlichen Unwillens oder Beifalls, oft mit Pfeifen und Schreien, auch kecke Witzworte fehlten nicht. Der Bösewicht des Stücks konnte in den letzten Akten kaum mehr zu Worte kommen; desto herzlicher achtete und ehrte man einen edlen Räuber, der den befrackten und mit einem Ordensband im Knopfloch geschmückten Intriganten mehrmals majestätisch herunterkanzelte. Dieser Räuber war denn auch der Titelheld: il formidabile leone di Oblaja. Das Salz des langweiligen fünfaktigen Dramas war Stenterello, der Hanswurst (im florentinischen Dialekt), der besonders Verkleidungen liebte und immer mit ungeheuren manierierten Brauen und dicken Mund- und Backenfalten erschien. Auf das Schauspiel folgte ein Ballett – das Publikum war selig – und zum Schluß eine brillantissima Farsa (Posse): Stenterello in verschiedenen Verkleidungen, seinen Herrn verhöhnend und prellend, so grob wie im Puppenkasten. Die Freude der Zuschauer stieg auf ihren Gipfel.

Von dem Gestank, der das Theater erfüllte, lasset mich nicht sprechen.[174]

Unterdessen ging ich auch meinen eigenen dramatischen Phantasien und Entwürfen nach; neben der Dichtung »Die Geschwister von Portovenere«, die immer wieder auftauchend fortwuchs, gestaltete sich ein Blücherdrama (das ich später in München unter dem Titel »Frieden im Krieg« schrieb) und ein Trauerspiel »Gracchus der Volkstribun«. Der Plan reiste schon, zur Ausführung konnte er in Rom nicht kommen: dazu hätte nicht nur Zeit und Muße, auch die Nervenkraft noch gefehlt. Auch zog mich von meinem Brüten und Formen, Dichten und Versemachen immer wieder die Sehnsucht zu den Meistern der bildenden Künste hin, die hier so viele Kirchen, Museen und Galerien füllten. Meine Malerfreunde kopierten sie, Lenbach, Marées, Fitger und Hans; ich suchte sie auf meine Weise in mir festzuhalten. War mir sonst wohl Tizian der Wunderreichste geworden, hier wuchs mir Michelangelo über alle empor; er, der obendrein auch noch die Peterskuppel in den römischen Himmel hineingedichtet hatte. In der sixtinischen Kapelle überwältigte er mich mehr und mehr; der »erhabene Gigant«, sein Moses, machte ihn mir übermenschlich groß. »Es ist nie etwas ähnliches geschaffen worden!« schrieb ich in mein Reisebuch.

Soll ich auch noch vom Karneval reden? Es ist hundertmal geschehn. Wer ihn erlebt hat, dem bleibt etwas; wer ihn nie erlebt hat, kann doch ruhig sterben. In mir entwickelte und steigerte sich, da der März nun kam, eine neue Sehnsucht: endlich auch Neapel zu sehn und alles, was dazu gehört. Eine Weile war Lenbach fast entschlossen, mich zu begleiten;[175] ihn hielten dann doch seine Arbeiten fest. Hans wollte mit; dann wollten aber seine Nerven nicht, die ihm immer wieder Teufelspossen spielten. Zuletzt sagten beide: wenn's möglich ist, so kommen wir nach! Mich trieb die Unruhe fort, allein. Ich fühlte zu tief, daß ich da unten am Golf von Napoli noch Großes zu erwerben, Schätze fürs Leben zu erobern hatte.[176]

Quelle:
Wilbrandt, Adolf: Aus der Werdezeit. Erinnerungen. Neue Folge, Stuttgart, Berlin 1907, S. 163-177.
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