XIV

Langsames Genesen. München. Bearbeitungen griechischer Tragiker. Mit Heyses und Kuglers. Gildemeister. Mathilde Muhr. Der Kreig von 1866. Meines Vaters Glück und Vergehn

[192] Auf derselben Etschtalstraße, auf der ich im April 1864 zum ersten Mal nach Italien gezogen war, kam ich ein Jahr später von der zweiten Ausfahrt zurück; im Anblick der braunen, wildschönen Berge, die damals auf mich hinabgeschaut hatten, durfte ich wohl fühlen, daß ich in diesem Jahr reifer, reicher geworden, gleichsam um Haupteslänge gewachsen war. Sonne und Himmel und Berge waren dieselben wie damals, aber das junge Jahr und der Wanderer vorgerückt: beide voller im Grün, beide aufgeblühter. Hatte ich vordem in Berlin, München, Frankfurt, Wien Art und Wesen der deutschen Stämme in mich aufgenommen und an so vielen Lebendigen mich emporgelernt, so war ich nun am Fremden gewachsen und in den hohen Regionen heimischer geworden, in denen die großen Toten wohnen.

Von voller Gesundheit des Körpers war ich freilich noch viel weiter entfernt, als mein jugendlicher Lebensmut wußte; Professor Nußbaum hatte mir wohl die Zahnfistel, aber nicht auch das tiefersitzende Nervenleiden[192] wegoperiert. Hier heißt es leider: Zahn um Zahn! So lange, wie du zerstört hast, mußt du wieder aufbauen! Von den unzähligen Engeln, die bekanntlich alle sieben Himmel füllen, haben einige hundert über die »allzu Rastlosen« unter den Erdenkindern Buch zu führen; mit der unerbittlichen Genauigkeit, die uns Rastlosen fehlt, verzeichnen sie jede Stunde, in der wir durch ein Zuviel von Genuß oder Arbeit sündigen, und ihre schöne Goldschrift ist grausam unvergänglich. Sie kann nur erlöschen, wenn das Abbüßen beginnt, mit dem die himmlische Geduld oft jahrelang wartet; sie erlischt nur nach dem Weltgesetz: so viel Sünde, so viel Buße; und erst wenn sie ganz erloschen ist, ist der Mensch ganz gesund.

Daß die Sache sich so verhält, das kann ich bezeugen, denn ich hab's erlebt; und nicht nur dieses eine Mal. Und ich schreibe diese meine Geschichte, um den nach mir Werdenden zur Abschreckung zu dienen; wenn es Werdende gibt, die nicht durch eigenen Schaden klug zu werden vorziehen.

In dem Gefühl, noch immer ein Genesender zu sein und nicht Kräfte vergeuden, sondern sammeln zu müssen, wich ich noch einmal dem eigenen Schaffen aus und stürzte mich in eine Arbeit, die mich schon lange gelockt, jetzt in Rom ganz gewonnen hatte: die herrlichsten und seelenvollsten Werke des Sopho kles wieder bühnenlebendig zu machen, indem ich sie, all ihr Eigenstes und Persönlichstes rettend, von dem Minderwesentlichen gleichsam befreite, das dem Vollgenuß der heutigen Menschen hinderlich ist. Der uns ewig fremde Chor der altgriechischen Tragödien bleibt uns auch ewig[193] rätselhaft: wie hat er auf der Bühne gelebt und gewirkt? Wie konnte er's erreichen, gesungen und doch ganz verständlich und mithandelnd zu werden? Wieder ins Leben rufen können wir ihn nicht. Warum ihn denn nicht durch Ähnliches, Lebendiges ersetzen? sagte ich mir. Warum nicht ebenso den Trimeter, der aus dem Geist der griechischen Sprache hervorging, durch unsern dramatischen Vers ersetzen, der für uns das ist, was für sie der Trimeter war? So gewinne ich die Möglichkeit, den alten unsterblichen Athener schöner, lebensvoller und treuer zu übersetzen, als es die Buchstäblichen konnten. Und so gewinne ich ihn wohl auch der deutschen Bühne, deren edles Vorrecht es geworden ist, die großen Schöpfungen aller großen Völker zu umfassen.

Ich warf mich auf Elektra, dann auf König Ödipus und Antigone; ich verdeutschte sie alle drei während dieses Jahres 1865, in München und in der Sommerfrische, und fügte das einzige uns erhaltene Satyrspiel, Euripides' Cyklopen, hinzu. Bei diesem antiken Schwank kam mir die Kühnheit, den Trimeter durch Prosa zu ersetzen; nur so, dachte ich, kann ich den Mausetoten so auferwecken, daß er auf unserm heutigen Theater mitleben kann! Freund Geibel, der klassische Philolog, schüttelte den Kopf dazu und wollte mir es, sozusagen, schimpflich machen; ich glaub' aber, ich hatte doch recht. Der Erfolg sprach wohl auch für mich; in dieser Gestalt ist der »Cyklop« mit Glück über eine Reihe deutscher Bühnen gegangen, zuletzt viele Male im Hamburger und im Frankfurter Schauspielhaus.

Mein Sophokles kam noch viel früher zu Ehren,[194] früher als ich gehofft hatte: kaum waren Elektra, Ödipus, Antigone und der Cyklop als erster Band meiner Bearbeitungen erschienen (1866), so warf der eben zur Regierung gekommene Herzog Georg von Sachsen-Meiningen sein Künstlerauge auf diese verwegene Neuerung (den Philologen damals ein Greuel) und führte König Ödipus und Antigone in seinem Hoftheater auf, das bald der Schauplatz seines großen, weitumwandernden Wirkens werden sollte. Er ließ den Bearbeiter einladen, als sein Gast den Aufführungen beizuwohnen (ich konnte aber nicht, weiß nicht mehr warum); und nach dem glücklichen Erfolg der ersten Abende ließ er mich ersuchen, auch den »Ödipus in Kolonos« zu verdeutschen, damit die Trilogie (wenn man sie so nennen darf) beisammen sei. Ich folgte diesem Ruf von Herzen gern, und 1867 gingen dann König Ödipus, Ödipus in Kolonos und Antigone nacheinander über die Meininger Bretter, mit tiefer Wirkung. Dasselbe ist dann nach und nach – im Lauf vieler Jahre – an vielen Bühnen geschehn; freilich kann man auch sagen: an wenigen, wenn man die Menge der deutschen Theater bedenkt. König Ödipus aber und dann Elektra haben ungezählte Male ihre ungeheure Lebenskraft und Herrlichkeit erwiesen; auch im Wiener Burgtheater, als ich dessen Direktor war und Charlotte Wolter als Elektra, Emmerich Robert als Ödipus die schönste Begeisterung weckten.

Inzwischen hatte ich 1866 auch noch Sophokles' »Philoktetes«, dann 1867 Euripides' »Medea« und »Hippolytos« in meiner Art übertragen. Diese drei sind dem Theater bisher fern geblieben; der Medea[195] und dem Hippolytos steht vor allem im Wege, daß Grillparzers Medea und Racines Phädra auf der Bühne zu Hause sind.

Nachdem ich die Meinen in der Heimat wiedergesehn, begann eine zweite Münchener Zeit, länger als die erste: sie währte von 1865 bis zum Herbst 1871, und mit ihr, kann ich sagen, endet meine »Werdezeit«. Noch jahrelang ein mit Rückfällen Genesender, hatte ich das unschätzbare Glück, mit den liebevollsten Menschen, mit Hans Kugler, Frau Klara, Paul Heyse in brüderlicher Freundschaft und wie in einer Familie zu leben; denn nachdem ich eine Weile mit Hans, dem Heimgekehrten, in einer Nebenstraße gewohnt, zogen auch wir beide in das Hornsteinsche Haus, unters Dach, und mit Paul und Frau Klara wurden wir ein Vierblatt, dessen innige Einigkeit in München fast zum Sprichwort ward. Heyses vier Kinder kamen dazu, denen Frau Klara, die Großmutter, nun als Mutter vorstand; eine allerliebste »Bande«, aus Buben und Mädels gemischt, das Haus mit Leben, Anmut, Holdheit und nicht mehr als ganz notwendiger Unart erfüllend. Vor sieben, acht Jahren, als Student, hatte ich das ältere Töchterlein, Lulu, die ersten Worte gelehrt und in frechem Unsinn das schwierige Wort »Götterknabe« und das abgeschmackte »Affebär« gewählt; jetzt machte ich mich doch nützlicher: ich half dem älteren Knaben, Franz, im Lateinischen vorwärts, ich spielte mit allen gute Spiele und schrieb zu Paul Heyses und Frau Klaras Geburtstagen humoristische Festspiele und Kinderkomödien, die ich mit den Kleinen aufführte. Wir Erwachsenen »spielten« auch, jeder sein Instrument,[196] Pinsel oder Feder; alles, was entstand, ward brüderlich mitgeteilt; freimütigste Kritik verstand sich von selbst. Frau Klara, als die lebendige Muse des Hauses – oder soll ich sie lieber dessen guten Engel nennen – wandelte in ihrer stillen Anmut unter uns herum. Zu jeder Mahlzeit versammelten wir uns, und wohl bei jeder erschien die beste Würze: Humor. Wie gut aber und wie gern wir aßen, dafür zeugt zum Beispiel ein Gedicht, das ich zu sechs Likörgläsern machte, die ich Paul Heyse 1866 zum Geburtstag schenkte; zu jedem Glas eine Strophe; drei davon seien als ein Stückchen Lebensfarbe hier mitgeteilt:


Wenn um braune Leber golden

Sich die Apfelschnitte schlingt,

Wenn der Küchel Duft, der holden,

Mit dem Blaukraut sich durchdringt,

Wenn des Reises trockne Speise

Jammert nach gewürztem Naß:

Dann ergreife, teurer Heyse,

Dann ergreife dieses Glas!


Wenn der Laberdan im Schoße

Deines Innern sich erweicht,

Wenn der Klopse Kapernsoße

Lieblich dir hinunterschleicht,

Wenn der Gorgonzola leise

Ausgefüllt dein täglich Maß:

Dann ergreife, teurer Heyse,

Dann ergreife dieses Glas!


Wenn des Saftes braune Welle

Rings um Reis und Zwetschen floß,[197]

Und der opfermutig Schnelle (Paul)

Ihn zum drittenmal genoß;

Wenn nach alter frommer Weise

Er die letzten Nüsse aß:

Dann ergreife, teurer Heyse,

Dann ergreife dieses Glas!


Übrigens war ich eigentlich der Meisteresser, so lange ich noch im Genesen war; und besonders meines Geburtstages im Sommer 1865 kann ich nur mit Lächeln gedenken. Wir waren damals in Berchtesgaden, in schön verlängerter Sommerfrische, mit edlen Freunden zusammen, der Wienerin Frau Julie Schlesinger, den Burgschauspielern Karl und Julie Rettich und dem großen Byron-Übersetzer (doch wie vieles hat er später noch mit Meisterhand verdeutscht!), dem Bremer Staatsmann Otto Gildemeister mit seiner anmutigen Frau. Julie Rettich, die große Tragödin, schon von ihrem Todesleiden gequält, das sie mit wunderbarer Tapferkeit verhehlte, entzückte uns alle durch ihr geistiges Feuer, ihre jugendliche Frische, jeden von uns in seiner Eigenart und seinem Wert zu ergreifen; Gildemeister, fast ihr Gegensatz, scheinbar nichts vom Künstler, aber höchst wohltuend kristallklarer Verstand, strahlte einen geräuschlos behaglichen Humor aus, der auf einer unerschütterlichen Gesundheit des Körpers und des Geistes ruhte. Ihn ergötzte, wie alle, mein Talent, zu essen; ich glaube, so wie damals hat es nie geblüht. Als in Gildemeisters Wohnung mein Geburtstag gefeiert ward – aufs liebenswürdigste und rührendste: große Festrede Pauls, Gedichte von[198] allen Seiten, Geschenke desgleichen – war fast die ganze Bescherung auf Ernährung gestimmt; nichts Eßbares fehlte; selbst ein Blumenstrauß, der am Tisch erschien, entlarvte sich bei näherer Betrachtung als kunstvoll aus Früchten, Wurzeln, Kohlen und Kräutern geschnitzt. Frau Chata Gildemeister hatte mir den von ihrem Gatten verdeutschten Byron auf den Tisch gelegt; aber Gildemeister hatte für sie dazu gedichtet (nachdem er den Erstling meiner Sophokles-Übersetzungen kennen gelernt hatte):


Ich sehe schon, wie du behaglich knurrst

Ob dieser Gab' in meiner schönen Linken;

Du irrst dich, Adolf! Dies ist nichts zu trinken,

Es stillt den Hunger nicht, auch nicht den Durst.

Dein Blick verdüstert sich? Du brummst, du murrst:

»Was ich nicht essen kann, das ist mir Wurst!«? –

So sei es – Wurst! Mag sie dir freundlich winken:

Die Wurst Lord Byron, Sophokles der Schinken.


So aß ich mich, wie die im Märchen durch den Pfannkuchenberg ins Schlaraffenland, allmählich in das Land der Gesundheit zurück, um dann dort als Dichter (und ewiger Student) menschenwürdig zu leben. An guter, herzerfreuender, geistbelebender Gesellschaft fehlte es mir auch außer dem Hause nicht; Lenbach kam von Zeit zu Zeit nach München heim, Böcklin ging ab und zu, mit Windscheids, Jollys, Siebolds und Heckers vereinigten sich Paul, Frau Klara und ich zu einem Kränzchen, in dem die verschiedensten geistigen Farben freundschaftlich zusammengestimmt Regenbogen spielten. Als neue Freundin trat Mathilde [199] Muhr ins Haus, deren tragisches Schicksal uns zu ihrer schon erprobten Liebenswürdigkeit und Herzenswärme auch ihre Stärke, ihre Größe zeigte. Frau Muhr, aus einem adligen, preußischen, tapferen Geschlecht, eine Nichte Blüchers, hatte gegen den Willen ihrer Anverwandten einen Maler von jüdischer Herkunft geheiratet; ihr unbeugsames Herz, ihr Menschenstolz ertrug die Entfremdung aller ihrer Geschwister, die erst viele Jahre später verging. Aber der heißgeliebte Mann starb ihr bald, noch in Jugendblüte; und kaum vier Jahre alt starb das einzige Kind ihm nach. Frau Mathilde, so tief wie je eine Mutter getroffen, so ganz wie je ein Mensch verwaist, richtete sich wie eine Heldin auf, als wäre Blüchers Geist in ihr. Es war damals (1866) noch weniger als heute Brauch, daß einem Toten auch weibliche Angehörige auf den Friedhof folgten; ihr aber verstand sich's von selbst: solange mein Kind über der Erde ist, verlass' ich es nicht! – Mich hat nicht oft etwas so erschüttert, wie diese Frau beim Begräbnis ihres Knaben zu sehn. Am Eingang des Friedhofs ausgestiegen, ging die Todeswunde, Todblasse einen langen, langen Weg hinter dem kleinen Sarge her, mit übermenschlich festem Schritt; keine Arria hätte es besser gekonnt. So marmorstarr, so willensstark blieb sie, bis ihr Paul in der Erde war. Und sie fühlte doch: ich begrab' mein Leben.

Indessen wie solche Gefühle täuschen, das bewährte sich auch an ihr: die Lebenskräfte waren zu groß, der Inhalt der Welt noch zu reich; ihr Maltalent schuf ihr ein neu gefülltes, fruchtbares Dasein, und unsere[200] und unseres Kreises Freundschaft rettete sie vor verzehrender Einsamkeit. Sie schloß sich uns noch inniger an, und wir ihr. Bald waren sie und ich auch Schachkameraden geworden; wir konnten ungefähr gleich wenig, also gleich viel. Sie war gut zu necken, und das regte Hans und mich zu immer neuen Erfindungen an. Als nach Paul Heyses zweiter Heirat Frau Klara, Hans und ich unseren eigenen Haushalt gründeten, ward Frau Mathilde vollends zur eigentlichen und ersten Hausfreundin; und in meinem letzten Münchener Sommer reiste und lebte sie ganz mit uns. Wie oft muß ich an den Tag am Mondsee (im Salzkammergut) denken, wo wir vier nicht weit vom Ufer an einem schönen Platz unter einer prächtigen Baumgruppe saßen. Es war ein warmer, sonniger Mittag, aber die dichte Laubkrone über uns gab uns erfrischenden Schatten. Frau Mathilde unterbrach denn auch endlich unsere genießende Stille: »Wie reizend das ist!« sagte sie. »Die Sonne so heiter und die Welt so warm; und unser Versteck doch so kühl!« Wir drei schwiegen weiter. Frau Mathilde wunderte sich eine Weile, dann sagte sie: »Warum stimmt mir niemand zu?« Hans blickte sie träumerisch an: »Weil sich nichts dagegen sagen läßt!«

Ich kehre zu 1866 zurück, zu dem großen Jahr, das zwischen den deutschen Großmächten die weltgeschichtliche Entscheidung und uns den Norddeutschen Bund brachte, den Vorläufer und Herold des Deutschen Reichs. Mit unendlicher Freude hatte ich 1864 die Befreiung Schleswig-Holsteins von der dänischen Herrschaft begrüßt, das fernere Schicksal dieser Provinzen[201] mit Gottvertrauen der Zukunft überlassen; was wird nun aber aus Preußen, aus Deutschland? Das lag uns, den Sehnsüchtigen, schwer und schwerer auf der Brust. Im Frühjahr 1866 flogen die ersten Sturmvögel auf; die Rüstungen in Österreich und Vreußen begannen, die diplomatischen Noten gingen wie noch abgestumpfte Pfeile zwischen Berlin und Wien hin und her, jeder schob dem andern das »Angefangen haben« und den bösen Willen zu. Es ward aber immer deutlicher: wenn nicht in Wien, dann gewiß in Berlin wollen sie den Krieg! Und wenn ihn der alte König Wilhelm, wie es schien, nicht wollte, wer konnte ihn dann wollen als sein Ministerpräsident, der bisher sv bitter gehaßte Bismarck? Mein Herz, das immer lauter, immer hoffnungsvoller schlug, begann auch für diesen Gehaßten zu schlagen; als säh' ich, wie sich um seine trotzig feste Brust der Kriegspanzer legte, wie auf seiner geheimnisvollen Stirn der eiserne Helm erschien, den die Geschichte ihren Helden auf den Scheitel drückt. Eine heilige Notwendigkeit war dieser Waffengang – und hieße er auch einstweilen Bürgerkrieg! Durch dieses blutbespritzte Tor mußten wir hindurch. Jenseits des Tors ragte das Deutsche Reich einer Gralsburg gleich in die Himmelsluft!

So fühlend und denkend, sah ich Brater wieder, meinen ehemaligen Chefredakteur, meinen herzlich verehrten Freund – und zum ersten Mal sah ich einen geschichtlich gewordenen, trennenden Spalt zwischen ihm und mir. Ich, der Mecklenburger, der Halbpreuße, sozusagen, früh mit dem Glauben an Preußens hohen Beruf getränkt, hoffte jetzt aus tiefster Brust; Brater,[202] der Süddeutsche, der Garnichtpreuße, schüttelte sein sorgenschweres Haupt und schien nur die Gefahr zu sehn. Von dem Schicksalshelm auf Bismarcks Scheitel entdeckten seine verstandesklaren blauen Augen nichts; er hielt den preußischen Junker nach wie vor für ein Schaumgebilde, er zitierte das Wort, das Napoleon III. von ihm gesagt haben sollte: ce n'est pas un homme sérieux! In unsern Wünschen waren wir einig, in unsern Erwartungen hüben und drüben. Erst die böhmischen Schlachten sollten den Spalt überbrücken, der uns am Vorabend trennte.

Ich war mit Frau Klara, Hans und dem lieblichen kleinen Klärchen Heyse in Tegernsee, in der Sommerfrische, als der Krieg begann. Ich hatte mittlerweile auch Shakespeare zu verdeutschen begonnen, als Mitarbeiter des neuen Bodenstedtschen Unternehmens; im Frühling hatte ich den Coriolanus übersetzt, jetzt wollte ich »Viel Lärm um nichts« beginnen. Aber eine fieberhafte Erregung schwelte mir im Blut. Übermütiges Draufloshoffen habe ich stets verachtet oder gehaßt; nun stand mit Österreich auch halb Deutschland gegen Preußen, und uns drückte das häßlich beklemmende Gefühl: die preußischen Heere werden von Prinzen geführt, Österreichs Feldherr ist ein Mann des allgemeinen Vertrauens, ein bewährter Held! – Wir müssen siegen, wir werden siegen, dacht' ich doch; aber wie viel blutiges Lehrgeld wird wohl vor dem Sieg gezahlt? – So kamen die ersten Schlachtdepeschen aus Böhmen, über Wien; wir lasen sie in den Münchener Blättern, die zu uns ins Gebirg flogen: die Preußen geworfen, geschlagen! Gestern bei Nachod,[203] heut bei Skalitz! Die Tegernseer jubelten. Uns ward schlecht zu Mut. Skalitz – Nachod – wir hörten von diesen Orten zum ersten Mal. Wir hatten keinen Atlas, nichts. Nur wenn wir in unser Wirtshaus zum Essen gingen, kamen wir im Vorgemach an einer großen Wandkarte von Deutschland vorüber; sie war elend, nichts als Punkte und Kreise mit Städtenamen; aber Nordösterreich war auch dabei. Ich blieb stehen und suchte Nachod und Skalitz; endlich fand ich Nachod nicht weit von Glatz. In Böhmen! So weit waren also die Vreußen gekommen; hatte man sie dann zurückgeworfen ins Glatzer Gebirg L Lag Skalitz in diesem Gebirg? Da war's nicht zu finden. Nein – landeinwärts in Böhmen lag's! Da stand's auf der Karte. Die Vreußen waren vorwärts geworfen, die Österreicher hatten rückwärts gesiegt.

So wußte ich denn, wie es stand. Noch wenige Tage, dann kam die Beglaubigung: Königgrätz.

Wohl nicht oft, seit es Schlachten gibt, hat eine so wie diese in die Menschen hineingeschlagen und ihre Meinungen umgedreht. Als hätte ein Gottesurteil entschieden, so überwältigte und verwandelte sie dieser Zusammenbruch des tapferen österreichischen Heers; er überwältigte alle, die Österreicher, die Süddeutschen und die widerspenstigen Liberalen in Preußen. Es war etwas Feierliches, darf man sagen, in dieser blitzartig hereinbrechenden Entscheidung. Es war wohl die wunderhafteste, aber auch die ersehnteste Freude meines Lebens.

Und eine reine Lösung war's: Deutschland und Österreich durch das Schwert getrennt, um sie dereinst[204] durch tiefe Erkenntnis einer höheren Notwendigkeit wieder zu verbinden.

Bismarck aber, der nun mit seinem König den Norddeutschen Bund schuf, dem seine Hasser nun zujauchzten oder sich bewundernd, widerstrebend neigten – ich konnte ihn nur noch lieben als der dankbarste der Deutschen: denn er hatte mir das freie Atmen auf dieser Erde erst wahrhaft möglich gemacht. Wie oft dachte ich wohl seitdem – als er sein deutsches Werk dann vollendet hatte –: Was du uns Deutschen warst und bist, das können hundert Herolde nicht verkündigen. Was du mir ins besondere bist, das ist unaussprechlich!

Beim Einzug der siegreichen Truppen in Berlin, am zwanzigsten September, sah ich ihn selber zum ersten Mal. Er war es, der weltgeschichtliche Held, wie ich ihn in meiner ersten Ahnung gesehn; nicht im Panzer, nur im Waffenrock, nicht im eisernen Helm, nur unter der Pickelhaube: aber wie in Erz gegossen oder aus Stein gehauen, der verkörperte Geist der Geschichte, unvergeßlich ernst und groß, daß es mein jauchzendes Herz erschütterte, so ritt er hinter seinem König durch das Siegestor.

Dann kam ich nach Rostock ins Elternhaus, und der glückselige Sohn fand einen freudestrahlenden Vater; glücklicher hab' ich ihn nie gesehn. Sein demokratisches Herz, das sich den Siegesweg des vaterländischen Gedankens wohl ganz anders geträumt hatte, war noch immer ein Jünglingsherz: die Weltgeschichte brauchte ihm nur eine Stunde Unterricht zu geben, so hatte es umgelernt. Ich sehe noch das himmlische[205] Leuchten seiner braunen Augen, sein innig dankbares Lächeln. Wie es nun gekommen war, so war's gut; und was noch nicht gekommen war, das kam gewiß!

Dieses schönste Wiedersehn war auch unser letztes; er, der unverwüstlich schien, sollte schon im Juni des nächsten Jahres vergehn. War es die zweijährige Gefangenschaft als »Hochverräter«, die sich doch tiefer in die Wurzel des Lebens eingegraben hatte, als wir alle meinten? Oder hatte er zu schonungslos – auch zu »rastlos« – in seinen Arbeiten und Studien gelebt? Er fing an zu kränkeln, dann dahinzusiechen. Ehe der Juni zu Ende ging, schlossen die strahlenden Feueraugen sich zum letzten Mal.

Erst durch einen Brief meiner armen Mutter nach dem Tod gerufen, kam ich zu spät, um ihn noch zu sehn. Nur in sein Grab konnte ich ihm nachrufen:


Sein Auge glühte jugendklar

Vom Feuer jedes hohen Strebens;

Es glühte herrlich sechsundsechzig Jahr

Und glühte jeder Luft des Lebens;

Und als er dieser Erde Glück und Weh

Mit feuervoller Seele ausgenossen,

Und nun die Kraft, die seine Brust durchflossen,

Ein überkräft'ger Wille meisterte,

Da senkte sich sein leidenvoller Blick,

Er schwand hinweg in todessücht'gem Sehnen,

Er folgte seinem gütigen Geschick,

Begrub sein Elend, ließ sein edles Bild zurück; –

Und warum fließen dennoch unsre Tränen?
[206]

Quelle:
Wilbrandt, Adolf: Aus der Werdezeit. Erinnerungen. Neue Folge, Stuttgart, Berlin 1907, S. 192-207.
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