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[250] Sie laden mich ein, zu Ihren Lesern von dem neuen, »mir befreundeten« Reichskanzlerpaar Bülow zu sprechen; und in diesem Fall redet das Herz mir zu. Ich glaube, daß in diesem Augenblick auf der Erde nicht viele Paare leben, die für Dichter und Menschen ein so betrachtungswürdiger Anblick sind; und denken Sie nicht, daß mich da die Freundschaft blendet; ich habe wohl über wenige Menschen so viel und so eindringlich gedacht. Freilich kenn' ich den Grafen Bernhard Bülow lange nicht so gut wie die Gräfin Marie, hab' mit ihm nicht so viele Stunden, wie mit ihr Tage verlebt; und ich war schon seit Jahren ihr Freund, als ich den jungen Diplomaten Herrn von Bülow in ihrer Wiener Wohnung kennen lernte. Ich trat ein und sah neben der schwarzhaarigen, dunkeläugigen, zierlichen Italienerin – damals Gräfin Dönhoff – einen mittelgroßen blonden Germanen mit heiter leuchtendem Gesicht und einem lachenden Grübchen im Kinn. Sie stellte uns einander vor; dann schwebte sie in ihrer unendlich jugendlichen, sizilianischen Lebhaftigkeit zur Tür, um irgend eine häusliche Pflicht zu erfüllen. »In zehn Minuten,« sagte sie mit ihrem anmutigen Humor, »bin ich wieder hier; bis dahin müssen Sie sich kennen und lieben!«[250]
Nun, so schnell ging's wohl nicht; es ging aber dann seinen guten Weg. Bernhard von Bülow kam uns freilich zunächst auf lange aus dem Gesicht, der Gräfin Dönhoff und mir; er kam von Wien nach Athen, von da nach Berlin, wenn ich nicht irre, vom Meister Bismarck zu lernen; jedenfalls hat er wie ein richtiger Jünger die hohe Bismarckschule durchgemacht. Er ward an die deutsche Botschaft in Paris versetzt, blieb dort lange Zeit; jene erste Wiener Bekanntschaft aber ward erneuert, es wuchs eine Neigung fürs Leben daraus, und in der Lutherschen Kirche in der Dorotheergasse zu Wien wohnte ich 1886 der Trauung der ehemaligen Gräfin Dönhoff mit Herrn von Bülow bei. Wunderbar verschiedene Menschen, wenn man nur auf den Stempel sah, den die Natur ihnen aufgedrückt! Sie, die Italienerin, auf Sizilien geboren, an spanische Augen und Gesichter erinnernd, von höchster Beweglichkeit des Mienenspiels, der Glieder, zumal in der ersten Frauenjugend einer reizenden, welthungrigen Flamme gleich, aber auch ganz Musik, am Klavier eine Künstlerin; er vom Musiksinn fast verlassen, sonst ein echter Deutscher, Arbeiter, Denker, Lerner, mit dem lebensfrohen Humor des Niedersachsen, aber auch mit der tiefen, verhaltenen Leidenschaft, die in den großen Deutschen wohnt. War in ihr, der Principessa di Camporeale, das Vaterlandsgefühl vor ihren seelischen und geistigen Trieben so zurückgetreten, daß sie sich von Jahr zu Jahr inniger zu uns gesellte und in deutscher Musik, deutscher Philosophie, Kunst und Denkart fast wie unsereins lebte, so brannte dagegen in ihm eine patriotische Flamme, die auch heute brennt; ein Ehrtrieb,[251] ein Wesenstrieb, für die Erhöhung des deutschen Namens, die Ausbreitung der deutschen Kraft zu leben. Wie viel er auch von den andern Völkern lernen und sich in ihre Werte vertiefen mochte – auch darin grunddeutsch – ich glaube, ihm konnte nie ein anderer Gedanke kommen, als so bereichert und erweitert seinem Volk, seinem Staat zu dienen.
Doch wie viel Unsichtbares lebt in uns, das zuletzt doch noch stärker als das Sichtbare wirkt! In einer tiefen Neigung von Mensch zu Mensch waltet wohl dieses Unsichtbare in seiner reinsten und höchsten Kraft, in seiner langsam, aber sicher umschmelzenden, »heimlich bildenden Gewalt«. An diesem Paar wenigstens, von dem ich rede, zeigte sich's, und immer wieder, so oft ich sie sah. Es war ein Ineinanderwachsen, das ohne ein geheimes organisches Wollen wohl kaum zu denken ist; ein Sichzusammenleben, das nun wohl zu der schönsten Harmonie gediehen ist, die man lieben Freunden wünschen mag. Mögen diese Freunde mir verzeihen, daß ich hier davon spreche; gehört es doch mit zum Bild, wie Aug' oder Hand. Graf Bülow ist im stande, mit ernsthaftem Gesicht zu sagen, was in ihm Gutes sei, verdank' er seiner Frau; und die Gräfin, in der einst jener Welthunger brannte, die alles erfragen, alles erleben, alles enträtseln wollte, die sich als reizend ungebärdiges Ich in heißer, unbefriedigter Entwicklung zu verzehren schien, sie lebt jetzt für das eine, den einen, als könnt' es nicht anders sein; sie, die geborene »Poesie«, ist sein Finanzminister geworden, sein Unterstaatssekretär, in ihrer Künstlerseele blüht seine Politik. Das wuchs so von Jahr zu Jahr, wie er an[252] seinen Aufgaben wuchs. Als ich die beiden vor bald vier Jahren in Rom als Botschafter und Botschafterin sah, war Frau von Bülow nur erst sein »Finanzminister«, mit Hilfe eines italienischen Gelehrten und alten Freundes das Haus im großen Stil verwaltend; die Politik ward noch fern von Rom in Berlin gemacht, der Palazzo Caffarelli auf dem Kapitol, der Sitz der deutschen Botschaft, war in seiner schönen halblauten Stille noch ein Stück Paradies. An diesem wunderbaren Erdenpunkt, unter den Palmen und Winterrosen des Südens, auf einem märchenhaft weiten Weg über Stuttgart, Wien, Petersburg, Bukarest in ihre Heimat zurückgekehrt, ihr altes Rom in ihr deutsches Herz aufnehmend, fühlte sie sich wohl auf dem Gipfel des Glücks, das sie mit leise zitternder Freude genoß. Denn am Himmel stand schon die große Wolke: der »Minister« drohte. Statt der geschäftigen Muße des Botschafters die Arbeitsüberlast und statt Rom Berlin! »Genieß es, genieß es jeden Tag,« sagte er zu ihr, »so lang wir dies Paradies noch haben. Damit du nicht einmal bereust: hätt' ich's mehr genossen!«
Wie auch er es genoß, konnt' ich damals sehn. Während er als Staatssekretär des Äußern in Berlin kaum mehr einen andern Spaziergang kannte, als die zweihundert Schritte durch seinen Garten, von der Villa zum Amtsgebäude und zurück, wanderte er damals weite Wege durch das alte Rom, besonders durch das malerisch öde, südliche; und dort mit ihm wandernd lernte ich mehr und mehr den Umfang seines Wesens kennen. Ich sah, daß er einer von denen ist, denen wirklich nichts Menschliches fremd ist; und auch einer der[253] Freiesten: denn einen vorurteilsloseren Menschen hab' ich nie gesehn. Um so innerlichst frei zu sein, muß man wohl auch eine Fülle von Gegensätzen in sich haben, die sich unter derselben Schädeldecke wie unter einer unsichtbaren Oberlenkung vertragen, und die durch ihr Dasein stets daran erinnern, daß ebenso auch die Welt aus gottgewollten Gegensätzen besteht. Wie sich in ihm norddeutscher, phantasievoller Humor mit fast romanisch zu nennender Grazie zusammenfand, tiefgründiges und nach Menschenmöglichkeit objektives Denken mit selbstverständlich schneidiger Tatkraft, und die Härte des Tatmenschen mit der edlen Weichheit eines menschenfreundlichen Idealismus, so sah er außerhalb seines Ich die naturgeschaffenen feindlichen Elemente, die sich ewig bekämpfen, ewig einseitig und darum unzulänglich, und doch auch ewig berechtigt sind. Wer als Staatsmann auf sie einwirken, mit ihnen auskommen, sie leiten und führen will, muß sie also zuerst verstehen lernen; er muß ihren Daseinswert begreifen, muß sie aus der Vergangenheit hervorwachsen und in die Zukunft hinausdeuten sehn. Das wird oft dem Tatmenschen schwer, in dem der Wille das Mächtigste ist. Napoleon dachte alles durch Gewalt zu können, die unsichtbare Macht der deutschen »Ideologen« begriff er nicht. Auch Bismarck hat mitunter zu wenig an die elementare Kraft der Imponderabilien und zu viel an die Faust des Staats geglaubt. Von solchen Irrtümern sich frei zu halten, ist dem Grafen Bülow gleichsam das erste Gebot. Wird er etwa Fehler machen – wer macht keine? – ich glaube, aus dieser Ecke werden sie nicht kommen.[254]
Was ich seit Jahren im stillen wünschte, was aber unwahrscheinlich aussah, ist nun doch geschehn: aus dem Staatssekretär ist der Reichskanzler geworden, nach dem Kaiser der führende Mann im Reich. Aus dem römischen Rosenparadies in die Villa an der Königgrätzerstraße in Berlin versetzt, aus der seine Gräfin wieder ein Paradieschen machte, wird er nun in das Reichskanzlerpalais an der Wilhelmsstraße hinüberziehen, in dem noch der große Schatten seines gewaltigen Meisters wohnt. An Ehrfurcht vor diesem Schatten fehlt es diesem Nachfolger nicht; ich glaube aber, es fehlt auch nicht an neuen Kräften in ihm für eine neue Zeit. Mit dem Monarchen, dünkt mich, hat er vor allem den Sinn für nationale Größe gemein, der das von der Natur berufene deutsche Volk aufwärts führen und treiben will; aus seinem tiefen Weltverstand schöpft er die Kraft der Bedächtigkeit, die nur das Erreichbare zu ergreifen sucht. Denn es gibt kein schwereres Amt auf Erden, als deutscher Reichskanzler zu sein: die Wege eines Volkes zu leiten, das für vieles unsinnig begabt, für Politik oft unsinnig unbegabt, und nach langsamstem Zusammenwachsen fast zu spät auf dem Plan erschienen ist. Draußen das Mißkonzert so vieler Großmächte, die weltbegierig wie wir und von Herzen geneigt sind, uns unsere Ellbogen fest an den Leib zu drücken; drinnen der stille oder laute Widerspruch zwischen einem vielbegabten, rastlosen, temperamentvollen Monarchen und einer freigesinnten, kritischen Nation, die, lange durch »Weltbürgertum« aufgeweicht, langsam hart und deutsch wird. Sie schämt sich noch nicht genug, philisterhaft zu denken; sie kennt ihren[255] eigenen Wert noch zu wenig und läuft noch immer dem fremden nach, obgleich sie meint, es sei nicht mehr so; sie glaubt noch nicht mit fester Seele an ihren Beruf auf der Welt. Spricht man ihr von »Größe«, von »Weltpolitik«, so wird sie leicht argwöhnisch aufgeregt: »Uferlose Pläne!« »Laßt uns zu Hause!« »Zu Hause ist genug zu tun!« Und alles Kleine und Große in uns, unsre Kleinheimatsliebe, unsre Landsmannschaften, unser Fraktionsgeist, unsre ehrenhafte Sittlichkeit, unser Gerechtigkeitssinn, alles widerspricht gern dem Ruf, den doch die Weltgeschichte uns zuruft: Werdet, was ihr werden sollt, ein großes, ein welterleuchtendes Volk! Vielleicht das Volk aller Völker!
Ich glaube, Graf Bülow hört diesen Ruf ganz so stark und so laut wie ich; mein vaterländisches Herz schlägt allemal besser, wenn ich an ihn denke. Aber »Entsagung!« oder »Beschränkung!« steht gleichsam vor ihm auf die Luft geschrieben, wo er geht und steht. Wie viele Menschen mag er wohl in Deutschland kennen, die so feurig, so ganz von Herzen am deutschen Weltberuf hängen wie ich? In der heranreifenden Jugend, hoff' ich, gibt es schon viel so warmes Blut; aber der Reichskanzler von heute muß mit den Deutschen von heute leben. »Uferlose Pläne!« Er dürfte keine haben, auch wenn er wollte; sie stürben in der deutschen Luft.
Wie oft mag er wohl, die Ungeduld einer großen Seele bezähmend, sagen: »Nicht im Trab! Im Schritt!«
Das deutsche Reichskanzleramt ist auch arbeitsschwer. Schon daß wir ein Bundesstaat sind, mit so vielen Fürsten und Regierungen, macht die Maschine reich an Rädern und Riemen; zudem ist der Reichskanzler[256] auch preußischer Ministerpräsident, ein Posten, der schon allein genügte. Alle Feinheit der Arbeitsteilung, alle Hingebung, Genauigkeit und Aufopferung der Unterbeamten, von der mir die Gräfin nur mit Bewunderung erzählt, kann doch nicht aus der Welt schaffen, daß Graf Bülow einer der geplagtesten Menschen ist. Mancher Tag vergeht, wo ihn die Gräfin erst am Abend sieht, wenn er aus den Amtsgebäuden zur Hauptmahlzeit kommt; zuweilen dann so ermüdet, daß er nicht mehr reden mag, daß die stumme Gegenwart der ewig jungen Lieblichkeit der geliebten Frau seine Erholung ist. Nur bei der weisen Mäßigkeit seiner Lebensweise – es würde jedem guten Deutschen weh tun, zu sehn, wie wenig Wein er sich gönnen darf – kann dieser doch so gesunde Körper diesen täglichen Kampf bestehn. Hat aber so ein Tag ihn nicht erschöpft und sieht er am Abend gute Freunde um sich an der Tafel, welche die Gräfin stets mit Blumen schmückt, hernach in seiner großen Bibliothek, wo die großen Zigarren brennen, dann blüht in diesem Sohn der Elbe die goldenste germanische Heiterkeit auf, die auch noch das ernsteste Gespräch verklärt, auch zwischen den sorgendsten Gedanken aufblitzt. Dann wird sein Humor wohl plötzlich zum Dichter: von einer politischen Tagesfrage sprechend hält er auf einmal eine Rede gegen sich selbst – »wenn ich der und der wäre, da würd' ich dem Bülow – –« und mit der ganzen grimmigen Beredsamkeit eines dieser scharfen Oppositionsmänner schleudert er sich eine Philippika ins Gesicht; jedes Wort lebendig. Oder er verläßt auch die Politik und sein leichtgeweckter Witz flattert wie ein harmloser Schmetterling[257] umher. »Donna Maria« oder »Mariechen« hört stillglücklich zu; ich kenne keine Frau, die reizender zuhört als sie. Ich kenne auch keine Frau, von der ein so wunderbarer, zusammenschmelzender Doppelduft ausginge: der Duft der vollkommensten Edeldame und der reinsten Menschengüte. Lassen Sie mich's nur sagen, Donna Maria. Ich kenne auch keine vornehmer und rührender unveränderliche, unfordernde, immer gleiche Freundin als Sie.
Wie lange werden sie im Reichskanzlerpalais wohnen, Graf und Gräfin Bülow? Noch sind sie nicht drin; noch ist wohl nicht all die Seife verbraucht, die der Kaiser mit humorvollem Ernst der Gräfin zum Reinmachen des Palais »zu Füßen legte«, als er bei ihnen zu Abend war. Werden sie viele Jahre drin wohnen? Graf Bülow ist längst Philosoph: auf den Tag des Endes ist er stets gefaßt; denn auf den Staatsmann sind tausend Pfeile gerichtet. Mit dem ernst heiteren Sinn, mit dem er alle Vergänglichkeit betrachtet, hat er schon vor Jahren seinen geliebten »Finanzminister« gefragt: »Wenn wir einmal nichts mehr sind, können wir dann von unserem bißchen Rente leben?« Gräfin Marie hat genickt: »Einfach und in Venedig, ja!« Venedig ist nun der halb ernste, halb scherzhafte Zukunftstraum des Hauses. Das traumstille Venedig, der geborene Hafen eines »stillen Mannes«. Ich soll auch hinkommen.
O möchten viele Jahre vergehn, glücklich für das Reichskanzlerpaar, glücklich für das Deutsche Reich, eh dieser Traum zum Leben erwacht![258]
1 Für die Osterbeilage der »Neuen Freien Presse« geschrieben.
2 Zum achtzigsten Geburtstag des Fürsten auf Wunsch der »Neuen Freien Presse« geschrieben.
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