III

[116] Hans Makart und Wien! Die sind nicht zu trennen. Nähme man Makart aus dem Wien der Siebzigerjahre weg, so hätten die ein anderes Gesicht, sie schauten nüchterner, farbloser drein. Ich weiß wohl, dieser kleine große Mann ist nicht so groß, wie er damals erschien; der Makartrausch hat geendet, wie so viele Räusche; und neben den alten Farbenmeistern, mit denen man ihn damals begeistert verglich, steht er jetzt stark verblaßt und entkräftet da. Aber das ist wahr und gewiß, daß er zu jener Zeit wie einer von den Zauberern, den Magiern wirkte, mit deren Hervorbringung die Natur sich sozusagen eine Feiertagsfreude macht, wenn sie auch keines ihrer großen Worte damit sagt; daß er durchaus genial erschien und in dem Schein doch auch Wahrheit war. Es war an ihm alles so selbstverständlich; er stieg aus dem dunklen Urwasser wie eine Victoria regia auf, legte seine großen Blätter auf den feuchten Spiegel, öffnete seine mächtigen Blütenkelche, weiß und rosenrot, dann dunkelpurpurrot, immer glühender und blühender. Er kam und ward und entfaltete sich so mühelos wie sie. Er verging freilich auch wie sie. Einjährig ist die Wunderpflanze. Ein Ewiger ist Makart nicht. Aber die Zeit, die er hatte, die war sein. Mich dünkt, in den Menschen jener Tage, insbesondere den Wienern, war ein naturstill und naturnotwendig angesammelter Schönheits- und Farbenhunger, der nach Befriedigung seufzte, ohne es zu wissen; der am Ufer stand, als diese Königin der Seerosen aus der Zeitflut aufstieg, und in der ersten Trunkenheit der[116] Freude die Hände hob: Habemus papam! Ein Wunder ist gekommen!

Ich hatte Hans Makart schon in München gesehn, als er dort lebte; indessen kannten wir uns noch kaum, nur so von Gesicht zu Gesicht. Ich weiß, wie mein Freund Hans Kugler ihn mir zuerst im Garten des Englischen Kaffeehauses zeigte, das nun längst verschwunden ist; er saß in der Menge an einem Tischchen mit seiner jungen Liebsten, die dann seine Frau ward. Sie waren beide so »anders«; sie wie aus einem seiner Bilder herausgestiegen, fremdartig reizend, voll farbiger Lebenslust; er, der junge »Meister« (eben hatte er angefangen, berühmt zu werden), wie aus einem fernen, heißen Land gekommen, aus schwarzen, stillbrennenden, träumenden Augen in diese nordische Welt schauend, in der er nicht lebte. Er blieb wohl auch eigentlich immer der Jüngling aus der Fremde, in Wien wie in München; einer, der sich dort aufhielt, um Bilder zu malen – bis von hinten eine kalte Hand kam und ihm den Pinsel aus den Fingern zog.

Im November 1871 sahen wir uns im kaiserlichen Opernhaus wieder; er war nach Wien gezogen, ich zog im Dezember hin. Ich lernte seine Frau, seine Mutter, sein malerisch geschmücktes Haus kennen; er, der nur immer »aus dem Ärmel schüttelte«, hatte auch viele seiner Möbel, so die Stühle des Speisezimmers, selber reich bemalt. Schon damals sammelte sich eine kleine Gemeinde um ihn, Maler und Malergenossen; sie fanden zum Teil Gastfreundschaft in seinem großen, tiefen, bald auch ganz in Farbenpracht getauchten Atelier; sie zeichneten und malten dort, mit ihm, unter tausend[117] Possen, Kartons für »Gschnasbälle« der Künstlerschaft; sie halfen ihm seine großen Kostümfeste feiern, mit denen er auch ein neues Aroma in die Wiener Luft brachte. Ich erinnere mich eines besonders farbigen, phantastischen Abends in seinem Atelier, als sein früherer Meister Karl Piloty aus München herübergekommen war (im Frühjahr 1873); wir feierten ihn, ich mit, dazu Lenbach, Huber, Penther und noch ein Hause von Malern und Architekten; sie alle steckten sich in ihre Kostüme von dem vorausgegangenen Makartfest. So tafelten wir, musizierten, füllten den zauberhaften Kunstsaal mit zigeunerischen Humoren; es war eine der schön verträumten Nächte, in denen das Leben zum Märchen wird, und es Morgen werden muß, eh das Märchen endet.

Makart ist oft, wie Moltke, ein großer Schweiger genannt worden; allerdings, ein Vielredner wie sein Kunstgenosse Canon, der uns Abends aus der Kneipe hinausreden konnte, war er all seine Tage nicht. Man kennt die kleine Geschichte von Josephine Gallmeyer, die einmal in einer Gesellschaft neben ihm saß und ewig lange kein Wort von ihm hörte, bis sie endlich sagte: »Aber lieber Herr von Makart, jetzt reden wir amal von was anderm!« Er hing gern seinen Gedanken oder seinen Phantasien nach; oft war's wohl auch ein Ausruhen, wenn er lange still war, nachdem er Stunde um Stunde große Leinwände mit den Ausbrüchen seiner inneren Beredsamkeit bedeckt hatte. Ward ihm aber die Zunge gelöst, durch einen großen Gegenstand oder durch eine Sache, die ihm am Herzen lag, so konnte er unaufhörlich sprechen; zuweilen ermüdend, weil seine[118] Stimme ohne Reiz und sein Vortrag oft eintönig war. Er sprach aber mit erstaunlichem Sachverstand über viele Dinge, die nicht zu seiner Kunst gehörten, sie mußten nur überhaupt kunstverwandt sein; Architektonisches, Technisches, kurz, hart Wirkliches bearbeitete sein guter Kopf mit derselben Klarheit, mit der er seine wandbedeckenden Farbenphantasien sah. Zur Zeit der Wiener Weltausstellung setzte er mir einmal sehr beredt und einleuchtend auseinander, wie man die große Rotunde hätte machen sollen und mit demselben Rohstoff, denselben Mitteln hätte machen können; ich hatte den Ein druck, daß ein erfahrener, auch hinlänglich nüchterner Meister dieser Kunn zu mir sprach. Mit demselben Eindruck hab' ich ihn eines Abends, im Wirtshaus, mit dem großen Architekten Semper stundenlang über Theaterbau reden hören; es nahm sich aus, als hätte er viel darüber gebrütet, wie eine Bühne am zweckmäßigsten, einfachsten herzustellen sei. Nichts Phantastisches in allem, was er sagte, nur gesunder Verstand; Raumweisheit möchte ich es nennen.

So bewunderte ich ihn auch einmal, als wir Abends im »Grand Hotel« beisammen saßen, mit uns Lenbach, noch ein paar Freunde und einer der hervorragenden Wiener Kunstkritiker mit seiner Frau. Makart ergriff die Gelegenheit, diesem Mann, dessen Aufsätze ihn wohl zuweilen geärgert hatten, einmal seine Meinung zu sagen; er tat es nach seiner Art gradeaus, ohne jeden Umschweif, eintönig heruntermachend. Er schüttete sein Malerherz aus über diese doch eigentlich unberufenen Leute, die selber nicht malen und nicht meißeln und nicht bauen könnten und doch über alles, was die[119] andern machten, so gemütlich dreist zu Gericht säßen, so gern über Dinge schrieben, die sie nicht verstünden, und es nie zu merken schienen, wenn sie sich blamierten. Man konnte nicht offener, unverblümter sprechen. Er tat es aber mit so vollkommener (eintöniger) Ruhe, so sachlich, so unpersönlich, so ungewollt ritterlich, daß die Sache nicht wie ein Gewitter, sondern wie ein heiterer Herbstabend verlief. Der Angegriffene nahm es mit guter Art hin, seine Frau blieb sitzen; wir andern glitten allmählich ins Allgemeine hinüber, ich weiß nicht mehr wie; und spät und zufrieden trennten wir uns wie gute Kameraden nach einer gemütlichen Sitzung.

Nein, er konnte reden! Nur Briefe schreiben konnt' er nicht. Dafür hatte er andere Leute, Mitglieder der Makartgemeinde; besonders einen Nichtkünstler, der sehr an ihm hing, in seinem Atelier zu Hause war; der sich auf einem Teppich in die Luft hinaufprellen ließ, wenn es den übermütigen Malern gefiel, der Makarts Geschäfte besorgte, seine Telegramme verfaßte, seine Briefe schrieb. Er hieß nicht Meyer, er hieß anders; doch warum soll ich ihn nicht Meyer nennen. Als ich im Sommer 1874 mit meiner Frau in Tegernsee wohnte und Lenbach von München her für ein paar Tage zu uns gestoßen war, kam plötzlich auch Makart angefahren; er war wohl durch Lenbach aufgefordert worden, wir erwarteten ihn aber noch nicht. Jetzt sprang er vor unserm Gasthaus vom Wagen; wir drei standen oder saßen grade vor der Tür; freudige Begrüßung. Nach dem ersten Willkomm sagt Lenbach: »Hättst aber auch ein Wort schreiben können, um dich anzumelden; oder wenigstens telegraphieren, damit wir dir nicht etwa[120] aus dem Weg reisen: ich komm' dann und dann!« Makarts kleine Gestalt reckte sich, er erwiderte redlich empört: »Ah, das hat der Meyer vergessen!«

Weshalb sollte er schreiben? Er war zum Malen geschaffen. Wenn man ihn in seiner Werkstatt hantieren sah, den zierlichen Mann in dem schwarzen Samtgewand, schwarzhaarig, schwarzäugig, ein Zwerg gegen die Riesenleinwand, an der er seine Künste trieb, aber sie so unbekümmert beherrschend, als machte er das alles durch eine Zauberkraft, so konnte man wohl phantasieren: da steht ein kleiner Wundermann aus dem Wunderberg, von Gott oder vom Teufel mit geheimer Magie begabt. Nicht als hätte er wie dergleichen Volk keine Seele gehabt; er hatte eine, er konnte lieben, er konnte wohl auch hassen – zwar dieses zweite weiß ich nicht. Sein Herz konnte sich erwärmen und erhitzen; und ich glaube, an Freunden wie Lenbach hing es bis zum letzten Tag. Ich werde auch nie vergessen, mit welcher erschütternden Freude er mich grüßte und aus seinem offenen Wagen sprang, als ich ihn zum letztenmal sah, in den Jammerzeiten, da sich sein Geist schon umnachtet hatte. Er kam und schüttelte mir die Hand; wir waren uns lange nicht begegnet, er hatte nur einmal seine zweite Frau in mein Haus geführt. Es leuchtete so warm in seinen unheimlich lächelnden Augen, daß es mich doppelt ergriff. So grüßte er dann auch noch im Weiterfahren zurück, mit dem letzten Lächeln.

Ein Herz hatte er gewiß; aber wie einer, der von der Natur einen gemessenen Auftrag hat. Erwarte und fordere man doch nicht von diesen die gleiche Wärme für einzelne Menschen wie von den Auftragslosen;[121] sie verbrauchen von ihrer Wärme zu viel für den Befehl der Natur.

Makart war aber einer der Hilfreichsten, wenn er zugleich im Dienst seines Auftrags stand, wenn er irgendwie Schönheit erzeugen, Schönheitssinn verbreiten konnte. Er hatte einen rührenden, hingebenden Eifer, Kostüme für andere zu zeichnen, zu begutachten, mitzuschneidern, mit Nadel und Schere; er nahm sich auch dann wie ein Wundermännlein aus dem Wunderberg aus. So kleidete er die Wolter mit an, als sie meine Messalina spielen sollte; so stand er vor seinen großen Kostümfesten stundenlang im Vorsaal seines Ateliers und arbeitete an den Prachtgewändern seiner weiblichen Gäste. Auch meine Frau hat ihn in besonderen Fällen für ihre Burgtheaterkostüme befragt; es war, als hätte er immer Zeit. Seine Großtat auf diesem Gebiet habe ich leider nicht erlebt, den Festzug zur Jubelfeier des Kaiserpaars; nach allen Schilderungen und Nachbildungen eine Welt von Schönheit.

Er kämpfte auch, wie die Maler so gerne, für malerische Neuerungen in der äußeren Erscheinung der Menschen; so für blonde und rotblonde Perücken oder Haarfärbungen wie im Tizianschen Venedig. Seine Frau war die erste, die ihm darin seinen Willen tat; einige andere folgten wohl, auch hochgeborene Damen versuchten es mit Makartschen Perücken. Es blieb aber beim Versuch, sie kehrten zur Natur zurück.

Als er seine erste Frau verloren hatte – traurig früh – blieb er viele Jahre Witwer; ich sah ihn seitdem sehr viel häufiger, in Familien oder in Wirtshäusern, zumal in unserer »Stadt Frankfurt«, wo er[122] ungezählte Abende mit Malern und Malerfreunden verbrachte. Mit einer Schar davon, auch Lenbach darunter, zog er für den Winter 1875 auf 1876 nach Ägypten; daß er auch dort viel Leinwand verbraucht hat, muß ich nicht erst sagen Wie viele bekleidete und unbekleidete Studien voll Makartscher Farbenlust hab' ich nach seiner Heimkehr in seiner Werkstatt gesehn!

Das denkwürdigste seiner großen Feste, wenn auch nicht das schönste, war wohl das Märzfest 1875, das er Richard Wagner zu Ehren gab; der Maler dem Musiker, wie denn ja diese beiden Künste innig zusammenhängen, gleichsam schwesterlich. Wagner war nach Wien gekommen, um eines seiner für Baireuth werbenden Konzerte zu geben; er hatte am 1. März seinen »Kaisermarsch« und (mit Hilfe der Materna) drei Bruchstücke aus der »Götterdämmerung« aufgeführt. Ihn feierte am 3. in den Prachträumen des »kleinen Hans« eine gewaltige Menge, hauptsächlich Adel und Kunst. Hellmesberger, der Vater, der vortreffliche Geiger, spielte mit drei andern vom Opernorchester Beethovens letztes Quartett; Rubinstein (der falsche) eine Paraphrase nach Wagner, ich weiß nicht was. Der Gefeierte, der eine gewisse seelenberauschende Farbenpracht, der Samt und Seide so liebte, ging in dieser Makartschen Farbenmusik mit humoristischem Neid herum; »das hat nun so einer!« seufzte er heiter, »so ein Maler hat das!« Dieser Festabend konnte doppelt gelten, er führte ihn auch wieder mit Semper zusammen, seinem alten Freund, dem er sich lange entfremdet hatte; hier in Wien hatte man eine Versöhnung der beiden Meister zu stande gebracht. Spät, in der[123] Morgenfrühe, als nur noch wenige Gäste im Vorsaal um eine Tafel versammelt saßen (ich gehörte immer gern zu den wenigen), saßen die beiden sich gegenüber, offenbar bemüht, den Ton der früheren Jahre zu treffen. Es waren aber doch andere Menschen, die sich da in die gereiften und gealterten Augen sahen; mit einer Art von Wehmut schaute und hörte ich zu. Wagner suchte Semper für die Kelten zu interessieren, mit denen er sich damals beschäftigte, ich weiß nicht, warum; Semper blieb aber keltenkühl. Ich war's auch. Ich verzichtete endlich auf mein altes Vergnügen, den Rücken des vorletzten zu sehn, und brach auf, fuhr heim.

Auf diesem Fest hatte Lenbach dem verwitweten Makart geholfen, den Wirt zu machen; er tat's musterhaft. Viel später hat er selber, in München, den Meister Wagner, den Sieger von Baireuth, in seinem herrlich ausgeschmückten Atelier gefeiert; auch mit der Zunge, mit einer wohlgesetzten Rede; das hatte sich der Hans nicht getraut.

Ach, wie ist das alles wunderlich weh. Ich schreib' es so hin – Makart, Lenbach – und wieder Lenbach – und mir ist, als werde der es dann lesen, gedruckt in der Zeitung, wie er im vorigen Jahr noch meinen Ostergruß »Franz von Lenbach« las. Jetzt liest er nichts mehr. Was mein Ostergruß noch hoffte, ist nun so still und begraben wie er. Zu all den jungen und alten Meistern, von denen ich hier rede, ist auch er gegangen. Dieser lebendigste der Menschen, auch er lebt nicht mehr!

Von ihm schreiben und nicht für ihn?

Es ist so schmerzlich – so unnatürlich.[124]

Und doch, wenn ich an jene Wiener Zeiten denke und von ihnen spreche, kann ich nicht an ihm vorbei; er steht immer da. Ob Theater oder Werkstatt, Natur oder Kunst, Gesellschaft oder mein Daheim, die große, schlanke, rasche Gestalt mit den seelendurchdringenden Augen, der einen Stirnlocke, dem geistreich herzlichen Schmuiizeln der vollen Lippen, sie wandert überall mit. Er kam so oft, er blieb so lange. Er blieb halbe Jahre, er ward fast zum Wiener; er wär's ganz geworden, wenn ein gewisser Plan, der ihn eine Weile lockte, Wirklichkeit geworden wäre, wenn man ihn gerufen hätte, die Leitung der kaiserlichen Belvederegalerie, des jetzigen Kunstmuseums, zu übernehmen. Das größere und reichere Leben Wiens zog auch ihn, wie mich. Damals war er noch in der Maienblüte, bei aller Arbeitslust einer der geselligsten Menschen, gern herumflatternd in der Fülle der Erscheinungen. Als geliebter Gast in Makarts Atelier oder als genügsamer »Konterfeihinstreicher« in der eigenen Wohnung, in befreundeter, führte er auch sein Arbeitsbienenleben; es fehlte nur noch ein letzter Entschluß.

Hätte er ihn gefaßt, wie viel hätte Wien gewonnen! Denn eine so starke, ausstrahlende Persönlichkeit, so »radioaktiv« war keiner unter allen Künstlern wie er. Mit Arnold Böcklin wäre der phantasievollste, schöpferischeste, proteusähnlichste Maler gekommen, aber ein mehr monologischer, in sich lebender und webender Mensch. Wohin Lenbach kam, da gingen sichtbare oder unsichtbare, Sonnen-, Kathoden- und Röntgenstrahlen in die Welt. Er konnte gar nicht anders als anregen, neue Forderungen aufstellen, neue Bedürfnisse wecken; der still weiterwurstelnde Schlendrian war überall sein ärgster[125] Feind. Niemand konnte sich schöner empören als er, aber er hatte nicht das Raunzen, er hatte das Bessermachen. Es war eine Tatenlust und eine Tatkraft in ihm, fast so stark wie sein Maltrieb.

So wäre er der alten Kaiserstadt nicht nur ein Schmuck und eine Ehre, wohl auch ein Reformator und Neubegründer geworden.

Wenn er zuletzt doch in München hängen blieb, so mag es ein guter Wiener beklagen; Franz Lenbach, unser geliebter Franz, hat sich nun doch an der grünen Isar herrlich ausgelebt. Er, der Bildnismaler, der für sein seelenkundiges Auge, seine aufs edelste geschulte Hand Menschen, Menschen brauchte, er saß in München im Mittelpunkt der Welt, wohin alle kommen. Die großen Straßen von Ost und West, Nord und Süd, zwischen Wien und Paris, Berlin und Rom, kreuzen sich in München. Selbst Franz Lenbachs Abgott Bismarck, zu dem er alljährlich gen Norden pilgerte, ist doch einmal zu ihm gekommen und sein Gast gewesen; in seiner kunstseligen Villa bei den Propyläen, die er mit aller Liebe seines Malerherzens zu einem kleinen Paradies gemacht, hat er den alten Heros bewirtet. Dann ward ihm noch ein größtes Glück: in dieses durch Bismarck verklärte Heim eine neue Jugend, die zweite Gattin, zu führen, mit ihr die hingebendste Liebe und den ungetrübtesten Frieden, den schönen Abendsonnenschein seines goldnen Tages.

So sah ich ihn zuletzt; so hat er sich ausgelebt, so ist er gegangen. Was sollen wir nun sagen, von denen er gegangen ist? Daß wir ihn dennoch nie verlieren können, daß er vor unseren Augen lebt und in uns.[126]

Quelle:
Wilbrandt, Adolf: Erinnerungen. Stuttgart, Berlin 21905, S. 116-127.
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