VII

[162] Wenn ich mit tiefer Dankbarkeit fühle, wie viel Bedeutendes, Schönes, Förderndes ich in Wien erlebt, wie viele nachwirkende Schöpfungen, merkwürdige Menschengebilde ich in mich aufgenommen, so stehen mir auch die Häuser vor Augen, in denen ich wie zu Hause war, die »Salons«, deren Farbe und Duft in mir weiterlebt. Laßt mich zuerst den Salon der Gräfin Marie Dönhoff nennen, die in Wien die »Musikgräfin« hieß, und die nun in Berlin als Gräfin Bülow die Gattin des Reichskanzlers ist. Ein wohl romantisch zu nennender Lebensweg! Die Sizilianerin, die in Italien aufwuchs, jetzt die Herrin in dem alten Palais der Berliner[162] Wilhelmstraße, in dem der große Deutsche Otto von Bismarck das neugegründete Reich mit seinem »alten Herrn« Kaiser Wilhelm führte.

Die Prinzessin Maria von Camporeale war aber von der Natur dazu geschaffen, diesen Weg zu gehn, wie vielleicht noch keine Welsche vor ihr. In der zarten, seinen, unendlich lebendigen Gestalt mit den dunklen spanischen Augen entfaltete sich erstaunlich früh eine deutsche Seele, die sich für Schiller begeisterte, sich in Wagner stürzte, nach deutscher Bildung hungerte, an einen schlanken blonden Deutschen ihr junges Herz gab und als Gräfin Dönhoff nach Deutschland zog. Von Stuttgart dann bald nach Wien gekommen, wo ihr Gatte zur deutschen Botschaft gehörte, bildete sie sich vollends zur Wahldeutschen aus (ohne daß sie ihr Vaterland je verleugnet hätte); sie wollte von allem wissen, was in deutschen Köpfen und Herzen arbeitet, wollte an deutscher Musik und Philosophie, an deutscher Malerei und Poesie ihren vollen Anteil haben. Im Jahr 1873 lernte ich sie kennen; es ward bald die schönste Freundschaft daraus; die schönste, weil sie nie forderte, immer gab und gönnte, und auch nach der längsten Trennung, dem tiefsten Schweigen in der ersten Minute des Wiedersehens ganz die alte war. Diese durch so viel Huldigung verwöhnte Frau war jederzeit so dankbar wie das bescheidenste »Mauerblümchen«. Mich, dem sie in diesen dreißig Jahren eine Welt von Poesie gegeben, dem sie in so manchem Sinn eine Offenbarung war, mich nannte sie ihren Förderer, Lehrer, Bildner, überschüttete mich in ihrer lebensprühend anmutsvollen Art mit vergoldenden Worten, weil ich ihrer geisthungrigen Jugend als[163] ein schon länger »Werdender« froh entgegenkam und mit dem bißchen, was ich wußte oder ahnte, ihre Flügel färbte.

Wie viele Stunden sind wir in den langen deutschen Wintern im Schnee gewandert – sie liebte auch unsere nordische Luft – und haben in ihrer oder mei ner Straße, da wo jetzt das Rathaus, der Justizpalast, das Reichsratsgebäude stehn, alles Menschliche und Übermenschliche durchmessen! Vom klein Persönlichen unberührt, ohne jeden Sinn für Klatsch, verlangte sie nur ins Wesen zu dringen, die Welt zu verstehen, sie, die schon ein Haus und zwei Kinder hatte und doch noch so jung war. Kam sie dann aber in ihren Salon zurück, in dem sie liebenswürdige und bedeutende Menschen zu versammeln wußte, so war sie die südlich frühreife Frau, der die schönste weibliche Lebenskunst zu Gebote stand. Es ward jedem wohl, mochte es nun die Frau Ministerin des Äußern, Gräfin Andrassy, oder meine Frau, die Altgräfin Salm oder Hans Makart, Fürst Rudi Liechtenstein oder Franz Liszt oder Franz Lenbach sein. Wie sie eigentlich immer Poesie umgab, so genoß man bei ihr die Poesie des Salons; anmutiger hab' ich das nie gefühlt. Sie schien nie das Wort zu führen, und man sprach und lebte doch so, wie es zu ihr stimmte und zu ihr gehörte. Man kam, von keinem Vorurteil aufgehalten, in alle Winkel, wo die »Fragen« wohnen, und doch, wie frei man sich auch fühlte, blieb man immer in einer schönen, reinen, ätherhaften Luft, die aber den Humor und das Lachen liebte. Bei der Musikgräfin gab es natürlich auch Musik; sie selbst spielte gefällig und gern, wenn wir nur wenige waren, und[164] die begeisterte Wagnerianerin spielte doch auch alles, was groß und gut war, von Johann Sebastian Bach bis heut. Ihr war aber lieber, die andern zu hören; ich hab' bei ihr Liszt, Rubinstein, Fürst Rudi Liechtenstein, Saint-Saëns, Hans von Bülow gehört.

Wie schön war es aber auch ohne Musik, bei uns oder bei ihr; da es nun einmal die Zauberkraft sein und edel gearteter Menschen ist, daß sie, wie etwa Haar und Haut einen angesprengten Wohlgeruch, so einen Seelenduft mit sich führen, der wie Kölnischwasser die Luft durchgeistet. Grobe, derbe Naturen mögen ihn nicht spüren, verwandte fühlen ihn, ob bewußt oder unbewußt. Er ist mehr als Witz, Esprit, Beredsamkeit, Schöngeisterei, Unterhaltungsgabe; er ist das Beste vom Besten, und alle die Kräfte, die ihm etwa selber fehlen, regt er zu wohligem Wirken an. So war und ist die Gräfin Marie. So verspür' ich sie in diesem Augenblick, da ich von ihr schreibe.

Unter den mit ihr befreundeten Frauen zog mich besonders die Gräfin Kathinka Andrassy, die Frau des berühmten Staatsmanns, an; ihre noch immer blühende Schönheit, ihre ungarische Frische und Freiheit, dazu eine eigene Mischung von Männlichem und Weiblichem in ihrer echt aristokratisch anmutigen Stattlichkeit, waren herzerfreuend. Ihr lebhafter Geist ging immer mit, ob ich Goethesche Balladen vorlas oder Lenbach seine stärksten Humore losließ; ob ihr Gatte mit mir über Darwin stritt oder ich ihr auseinandersetzte, daß sie an der »Ohnmacht des unsittlichen Willens« leide, der sie unfähig mache, die Phantasien, die sie uns mit genialer Heiterkeit bekannte, in Taten zu verwandeln.[165] Ich höre noch das reizende, grundgesunde Lachen, mit dem sie es zugab. So gesund erschien sie ganz und gar; wie unnatürlich früh für ein so schönes Gebilde ist sie dann gestorben.

So vor der Zeit verließ uns auch die Altgräfin Elise Salm, geborene Prinzessin Liechtenstein, die etwas später der Gräfin Dönhoff und des Wilbrandtschen Hauses Freundin wurde; eine Frau, die der österreichischen Aristokratie so hohe Ehre macht wie Gräfin Kathinka der ungarischen. Auch in ihr war ein freier Geist mit einem warmen Herzen vermählt; sie war mit zu klarem, festem Verstand begabt, um an irgend einem Standesvorurteil zu haften, und von Sehnsucht nach aller Poesie des Lebens erfüllt, die doch erst mit der wahren, freien Menschlichkeit beginnt. So schloß sie sich mit feuriger Liebe an die jüngere, geistesverwandte Gräfin Dönhoff an; so suchte sie gleich ihr die Welt der Dichter und Künstler auf. Ferdinand von Saar hat bei ihr die schönste Gastfreundschaft genossen, halbe oder ganze Jahre in ihrem mährischen Blansko gewohnt. Sie konnte in Gestalt und Gehaben und Wesen an die Kaiserin Maria Theresia erinnern. Absonderlich war eins an ihr: die Nachtlebigkeit; so hab' ich sie wenigstens später gekannt. Wenn in den Achtzigerjahren die Gräfin Dönhoff, die nicht mehr in Wien lebte, auf Monate ins »Hotel Meißl« kam, um unter Professor Chrobaks Leitung ihre Gesundheit zu bessern oder andere Geschäfte zu betreiben oder ihre Mutter zu sehen, so kam die Altgräfin Salm gewöhnlich erst nach elf Uhr Abends angefahren und saß an Donna Marias Tisch bis tief in die Nacht, aß aus einem Wasserglas ein[166] Stück Eis nach dem andern (sonst nichts), und arbeitete mit ihren langen hölzernen Stricknadeln an wollenen Weihnachtsgaben für arme Kinder, die sie rastlos strickte, während die Gespräche alles Gute und Ungute dieser Welt umschwirrten.

Auch Frau Cosima Wagner hab' ich bei »Donna Maria« gesehn; die Gräfin war mit Baireuth befreundet, sie lebte mit für das große Baireuther Unternehmen, hat dafür gewirkt und geopfert, so viel sie vermochte. Indessen zum Fanatismus war sie nicht geboren; und wie frei sie von dieser schwarzen Leidenschaft war, bewies sie am lustigsten, als sie uns einmal besuchte und bei mir Paul Lindau fand, den sie noch nicht kannte. Es war 1877; im Sommer vorher hatte sie in Baireuth die erste Festspielzeit des Wagner-Theaters mitgefeiert, die Lindau in seinen »Nüchternen Briefen aus Baireuth« mit Freimut und auch mit Witz und Humor geschildert hatte. Sie war unbefangen genug gewesen, sich an der glänzenden Unterhaltungsgabe des Schriftstellers zu freuen, wenn ihr auch die Sache ungleich heiliger war als ihm; jetzt sollte sie seine Unterhaltungsgabe von Mund zu Mund kennen lernen, und zwar gleich »vom besten Faß«. Er hatte einen glücklichen Tag; durch den poetischen Reiz der schönen Frau und ihr liebenswürdiges Entgegenkommen angenehm erregt, durch ihre immer wachsende Heiterkeit gesteigert und befeuert, brannte er ein ganzes Feuerwerk von Humoren ab und spielte ihr nach und nach alles noch Wunderliche, Gewagte, Unausgereifte in dieser ersten Baireuther Einstudierung vor, so lebendig, dramatisch, harmlos lustig, daß wir fast nicht aus dem Lachen kamen, die Gräfin[167] und ich. Mitten im Lachen staunte ich in mir fort und fort: was für eine glücklich begabte Frau, diese Wagnerianerin, die mit so freiem, göttlichem Humor zur Kehrseite treten und das Recht des Geistes, des Witzes mitgenießen konnte! – Als sie endlich schied, gab sie ihm die Hand: »Sie haben meine Eroberung gemacht,« sagte sie mit der Wendung, die die Aristokraten mehr als wir gebrauchen. Es war ein guter Anfang, der seine gute Fortsetzung hatte; von Zeit zu Zeit sehe ich Paul Lindau an gemütlichen Abenden im Reichskanzlerpalais, wo er in jugendlicher Frische fortfährt, die Gräfin und ihren Grafen mit den Einfällen seiner guten Laune zu unterhalten.

Donna Maria, die Friedliche, hat doch auch Generale unter ihren Freunden; so den Freiherrn, jetzt Grafen von Loë, den ich in Wien bei ihr kennen lernte und in Berlin dann und wann bei ihr wiederfand. Graf Loë ist einer der Generale, aus denen den Künstler etwas Blutsverwandtes anweht, die mit großen militärischen Eigenschaften die feinste Bildung verbinden, wie sie sich vielleicht nur bei deutschen Offizieren findet. Daß er dabei »schneidig« war, weiß ich aus einer hübschen Geschichte, die von ihm erzählt wird und die er uns einmal bei Bülows bestätigen mußte. Während des deutsch-französischen Krieges von 1870 war er Oberst des Königshusarenregiments, in dem damals auch der jetzige Reichskanzler diente. In einer Schlacht, ich weiß nicht welche, hält er mit und vor seinen Husaren in Reservestellung, seine Zeit erwartend; die feindlichen Granaten fliegen aber auch dorthin, über Roß und Reiter weg. Es wird ungemütlich, und unwillkürlich[168] ducken sich die Reiterköpfe. Als Oberst von Loë das bemerkt, wendet er sein Pferd und ruft: »Ich verbitte mir diese Höflichkeiten gegen den Feind!«

Mit diesem alten Generaloberst – jetzt Feldmarschall – steht Donna Maria in einem wirklichen Freundschaftsbund; sonst hält sich ihre Künstlerseele freilich mehr zu uns »vom Zivil«, und es kann ihr begegnen, daß sie von den Herren im bunten Rock despektierlich redet. Zu einem andern preußischen Obersten, der jetzt General ist, sprach sie einmal von einem ihrer Freunde, einem Schriftsteller und Gelehrten; ob er den kenne? fragte sie. Der Offizier versteht sie falsch, er denkt an einen Militär desselben Namens. »Freilich kenn' ich ihn!« antwortet er; »schon lange!« – »Wie können Sie ihn schon lange kennen?« – »Aber ja,« erwidert er; »den alten General B. hab' ich schon vor vielen Jahren gekannt!« – »Aber was Ihnen nur einfällt!« ruft die Gräfin in ewigjugendlichem Eifer aus. »Ich sprech' ja von keinem General, ich sprech' von einem Mann von Geist!«

Der Oberst, der selber Geist und dazu Humor hat – ich kenn' ihn auch – hatte das Schicksal, bald darauf General zu werden. So oft er aber die Gräfin besuchte, ließ er sich nicht als General, sondern noch als Oberst melden.

Mittlerweile hatte das Schicksal gewollt, daß diese Frau, in der nicht ein Funke von politischem Ehrgeiz glüht, die wohl eine edle Künstlerin hätte werden können, zum zweitenmal die Frau eines Diplomaten und diesmal eines echten Staatsmanns Frau ward, der, ein Jünger Bismarcks, und gewiß der berufenste, mit großen[169] Schritten den Berg hinanstieg, auf dessen Gipfel die Reichskanzler stehn. Von Zeit zu Zeit traf ich sie wohl noch in Wien, an dem sie mit alter Neigung hing; dann kam ich (1897) nach Rom, wo Bernhard von Bülow als deutscher Botschafter lebte, und fand sie in ihrer Heimat wieder, so recht in der Mitte der »ewigen Stadt«, auf dem Kapitol, wo an der Stelle des verschwundenen Jupitertempels der Palazzo Caffarelli, der Sitz unserer Botschaft, steht. Es ist wohl das idealste Wohnhaus eines Diplomaten auf der Erde; mit seinem südlich üppigen Garten, seiner Königspalme (von Friedrich Wilhelm IV. gepflanzt) schaut es zum Palatin, dem Hügel der Cäsaren, hinüber und von stolzer Höhe auf Rom hinab. Steigt man zum höchsten Aufbau des Palastes empor, so hat man einen Rund- und Fernblick, der durch seine feierliche Schönheit ergreifend ist: die Stadt, die Campagna, das Albaner Gebirg, die Sabiner Berge – im Winter, wie damals, schneebedeckt – liegen in ihrem schwermütigen Farbenzauber hingebreitet. Hier lebte Donna Maria so glücklich, wie ich sie noch nicht gesehn; sie, die mir geschrieben hatte: »Kommen Sie nach Rom, Sie sollen mich es lieben lehren!« konnte mir nun sagen: »Ich liebe Rom, wie es die Deutschen lieben«; und sie genoß alles Hohe und Schöne dieses Aufenthalts mit germanischer Innigkeit. Wenn sie mit mir auf der langen, blumenreichen Terrasse ihres Gartens oder auf den Balkonen, auf den Kieswegen wandelte, sich auf alles vorfreuend, was die Frühlingsmonate an neuer Blütenpracht und Lebenswonne bringen würden, so erschien sie mir wie in ein Paradies gestellt; mit ihrem geliebten Adam vereint[170] und ohne Sehnsucht, noch mehr als bisher vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen. Im Mai sollte ich wiederkommen, da ich jetzt nach Deutschland zurückging, und bei ihnen wohnen; dann war die »Saison« des diplomatischen Rom vorbei, die Botschafterin ihrer Pflichten ledig, und zu dritt konnten wir ideale römische Tage verleben.

Mit diesem schönen Traum von ihnen scheidend, ließ ich ihnen ein paar Verse zurück, die ungefähr aussprechen, wie wohl mir in dem Kapitolidyll geworden war:


Von Neapel angekommen –

Corso, Forum, regengrau –

Dann das Kapitol erklommen

Und das Haus der schönen Frau.

Prinzen, Grafen – edle Damen

Schwatzten süß – ein wenig hohl –

Daß mir fast Gedanken kamen

An die Gäns' vom Kapitol.


Doch am andern Tag, o Sonne!

So erglänzte Rom noch nie!

Und zuhöchst, als Herzenswonne,

Exzellenz Frau Poesie.

Wo einst Zeus, herrscht nun die Süße,

Tut der Welt so weich und wohl,

Statt der alten Gänsefüße

Jetzt der Schwan vom Kapitol.


Und ihr edler Schwanengatte,

Der, ihr Schwanenritter, kam

Und das Weltweh, das sie hatte,

Ihr aus Haupt und Busen nahm,[171]

Ernst nach großer Römer Weise,

Doch germanisch warm und wohl,

Zieht er weit Gedankenkreise

Um den Schwan vom Kapitol.


Scheiden ruft, wie Trauerglocken

In sciroccoschwüler Nacht.

Doch wird Wiedersehn frohlocken,

Wenn die Maiensonne lacht.

Quanti giorni beati e belli

Dann beim Schwan vom Kapitol!

O Palazzo Caffarelli,

Nimm mein Herz und lebe wohl!


Es ward ein Lebewohl für immer: Bernhard von Bülow ward von Rom nach Berlin berufen, als Staatssekretär des Äußern, und unser Mai blieb ein Traum. Erst im Juni dieses Jahres 1904 hab' ich bei ihnen gewohnt, und nicht in der römischen Rosenpracht, sondern in der windumtobten, blumenlosen Dünenvilla auf der Insel Norderney, wo sie nun schon fünf Jahre ihre Sommerfrische und Erholung suchen.

Das ist eine andere Welt! Als ich eines Morgens meine Glastür öffnete, die auf das Meer und die ferne, kahle, flache Insel Juist schaut, riß in demselben Augenblick der hereinbrechende Westwind die Rolltür zum anstoßenden Salon auf und warf dort ein hohes Glas mit Blumen vom Tisch, daß die Scherben klirrten.

Der Reichskanzler liebt diese »Böen«, diese starke Luft; aber die Reichskanzlerin auch; sie lebt so gern im Freien, im Wind, im Wandern, wie wenige Frauen, die ich kenne. Als ich nach Norderney kam, war Graf[172] Bülow noch in Kiel, beim Kaiser; ich kam, um der Gräfin Gesellschaft zu leisten, die sich von nervöser Übermüdung und Schlaflosigkeit, nach höchst anstrengenden Zeiten, zu erholen suchte. Ich wohnte in dem großen Arbeitszimmer des Grafen; viermal täglich holte die »Patientin« mich ab, um mit ihr zu wandern: zweimal zum (durchaus nicht nahen) Restaurant, wo wir aßen, zweimal zu weiten Spaziergängen am Meer, an den Dünen hin. Ost gingen wir auch noch Abends, in der langen Dämmerung, eine Stunde vor der Villa hin und her; das Meer rauschte zu uns heraus. Fünf Stunden und darüber gingen wir jeden Tag und bei jedem Wetter. An einem Regentag kamen wir zweimal so durchnäßt nach Haus, daß wir uns völlig umkleiden mußten. Dazu die frischen Nordseewinde, die uns den Regen unermüdlich ins Gesicht hineinschlugen. Die ehemalige Principessa di Camporeale kämpfte ruhig weiter, als gehöre das zum Reichskanzlerposten.

Als der Graf dann kam, ward es ebenso: bei stürmischer Brise und Wolkenbruch marschierten wir stundenlang; der Reichskanzler lächelte, wenn uns eine neue freche Regenbö überschüttete, und unsere nachdenklichen Gespräche gingen fröhlich fort. Vom Kapitol nach Norderney! dacht' ich wohl einmal, wenn mir der naßkalte Wind so recht in die Augen klatschte.

Doch dann dacht' ich wieder: Ja, Rom war schöner; aber wohl uns und dem Grafen und auch ihr, daß die Magnetnadel ihres Schicksals so nach Norden wies. Mög' sie noch manchen Sommer als Reichskanzlerin in die Villa auf der Düne kommen, und der Mann ihres Herzens noch viele von den Brisen und den Stürmen[173] bestehn, wie sie auf führende Staatsmänner niederregnen!

Und dann saß ich wieder umgekleidet, trocken, warm im Salon der Villa und hörte, wie der schöne Bariton des Herrn von Below, des eben neu ernannten »Gesandten«, schöne Lieder sang, von Donna Maria begleitet. Er sang so kunstvoll und beseelt, und sie begleitete so kameradlich, so ganz in Musik getaucht. Und am Abend las ich Goethe vor, die Pariagedichte; und es folgte wieder eines der gefüllten Gespräche, in denen der Graf so gedankenvoll redet und Donna Maria so entzückend zuhört.

Quelle:
Wilbrandt, Adolf: Erinnerungen. Stuttgart, Berlin 21905, S. 162-174.
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