Actus secundus

[408] Incipit Tragoedia


Szenerie wie im ersten Akte, nur an Stelle des Bettes vorne steht jetzt ein alter, engbrüstiger Schlafdiwan. Es ist Abend.

Mutter sitzt am Mitteltisch und flickt Weißzeug. Einmal steht sie auf und horcht an der Tür des Kabinetts, wo Spuller krank liegt. Dann setzt sie ihre Arbeit am Tische wieder fort.

Marie tritt aus dem Vorzimmer ein. Sie ist in Straßenkleidern, sieht blaß und verhärmt aus, und eine mühsam zurückgehaltene Hastigkeit ist in ihrem Wesen.


MARIE. Schläft der Vater?

MUTTER. Soeben eingeschlafen.

MARIE. Hat er gegessen?

MUTTER mit einer Art boshaften Triumphes. Zwei Bissen.

MARIE erschrocken. Das andere wieder stehengelassen?

MUTTER wie oben. Natürlich.

MARIE gequält. Mein Gott, Mutter! Er tut es doch nicht zu Fleiß.

MUTTER scharf. Das brauchst du mir nicht zu sagen.

MARIE noch erregt. Weil es auch wahr ist –

MUTTER. Jetzt dauert diese Krankheit schon sieben Wochen, und an wem geht es denn aus? An dir vielleicht oder an Gottfried?

MARIE. Ich bin unter Tags im Geschäft, Gottfried ist in der Schule. In der Nacht löse ich dich ohnehin soviel als möglich ab.

MUTTER etwas beschämt. Das ist das wenigste.

MARIE. Und sonst? Gottfried gibt jetzt Lektionen, und ich –

MUTTER gehässig. Brauchst mir's nicht unter die Nase zu reiben, daß du deinen ganzen Gehalt hergibst!

MARIE. Das fällt mir ja gar nicht ein.

MUTTER. Dafür habe ich das Silberzeug, das einzige Wertvolle, was noch von meinen Eltern da war, ins Versatzamt getragen.

MARIE. Das löse ich dir aus, wenn es wieder besser steht.

MUTTER. Das habe ich noch nicht erlebt, daß es besser geworden wäre. Im Gegenteil, immer hat man gedacht: jetzt kann es doch nicht ärger kommen. Und dann war es doch noch möglich.

MARIE nach kurzer, banger Pause, schwer. Ich war übrigens – beim Trödeljuden.[408]

MUTTER mit Überwindung. Kommt er?

MARIE tonlos. Ja.

MUTTER zögernd. Hast du ihm auch gesagt, daß er erst nach Einbruch der Dunkelheit kommen soll.

MARIE. Ja, und die Türnummer hab' ich ihm auch genau angegeben, damit er nicht erst im Haus nach uns herumfragt. – Weiß Gottfried schon, daß sein lieber alter Sekretär verkauft wird?

MUTTER ironisch. Wo es sich darum handelt, daß sein Vater die nötigen Medikamente und die teuere Krankenkost bekommt, wird er wohl nichts dagegen haben. Wenn ich krank würde, wäre das etwas anderes.

MARIE. Das glaubst du doch selber nicht. Wir Kinder haben dich gerade so lieb wie den Vater. – Du selbst bist es ja, die abweist –

MUTTER verschlossen. Das kann schon sein, daß mich ein Leben voll Kummer und Enttäuschungen abweisend gemacht hat. Eine Träumerin, die Gedichte liest und für das Leben nichts taugt, bin ich freilich nicht. Ich hab' nur einmal in meinem Leben einen Unsinn gemacht –

MARIE gequält. Daß du den Vater geheiratet hast, ich weiß.

MUTTER. Und diesen Unsinn habe ich bitter genug bezahlt. Für ein armes Mädchen gehört sich das nicht: aus Liebe heiraten. Merk dir das!

MARIE herb. Es muß ja nicht geheiratet sein.

MUTTER höhnisch. Außer das!

MARIE. Lassen wir das, Mutter.

MUTTER lauernd. Der Witwer, der unser voriger Zimmerherr war, hätte dich genommen, wie du bist. Und war vermögend!

MARIE peinlich berührt. Das höre ich nicht zum erstenmal.

MUTTER aufgebracht. Wäre das gar so schrecklich, wenn du jetzt für deinen kranken Vater etwas tun könntest? Der Witwer war ein seelensguter, honetter Mensch. Er hätte für seinen Schwiegervater alles getan, hätte ihm rechtzeitig einen Aufenthalt im Süden ermöglicht und – manches wäre anders gekommen.

MARIE leise. Einen Aufenthalt im Süden – Plötzlich qualvoll. Hab' ich denn wissen können, daß der Vater so schwer krank werden wird?

MUTTER. Darauf muß unsereins immer gefaßt sein. Wir leben doch nur von der Hand in den Mund, und wenn das Geringste über uns kommt, stehen wir gleich immer am Rande des Elends.

MARIE mit gemachter Unbefangenheit. Hat übrigens unser – jetziger Zimmerherr schon seine Miete bezahlt?

MUTTER sie scharf ansehend. Nein. Wie kommst du darauf?

MARIE leichthin. Es fällt mir eben ein, weil wir von Zimmerherren sprechen.

MUTTER. Ich soll ihn wohl mahnen?

MARIE. Das könnte nicht schaden.

MUTTER. Vermögende Leute lassen sich nicht gern mahnen.

MARIE. Wenn einer das Geld sonst so freigebig hinauswirft –

MUTTER. Was weißt du davon? Was geht es dich an, was er mit seinem Gelde macht? Schuldig ist er uns noch nichts geblieben. Überhaupt, ich finde dein Benehmen ihm gegenüber, offen gesagt, sehr dumm. Man kann doch wenigstens freundlich sein, wo man abhängig ist.

MARIE zurückhaltend. Das weiß nicht jeder richtig aufzunehmen.

MUTTER höhnisch. Du bildest dir wohl sehr viel ein auf deine unwiderstehliche Schönheit?

MARIE. Das tu' ich sicherlich nicht, aber es gibt Leute, die glauben, daß in dem Zimmerpreis – die Haustochter inbegriffen ist.

MUTTER. Schämst du dich nicht?

MARIE gequält. Ich? – Ich bin ja nicht dieses Glaubens. Ich mache ja diesem Glauben keine Zugeständnisse.

MUTTER empört. Das sähe dir ähnlich!

MARIE rauh. Oder soll ich?


Es läutet draußen.


MUTTER aufgeregt. Das wird der Jude sein. Mach auf!


Marie ab.

Nuchem Goldsohn tritt, von Marie gefolgt, auf. Er ist ein kleiner, etwas buckeliger Jude in verschmierten, dunklen Gewändern. Er hat den Pinkel geschultert, den runden, steifen Hut in der Hand. Haar und Vollbart sind kohlschwarz, ebenso die kleinen, behenden Augen. Er hat devote Bewegungen und spricht polnisch-jüdischen Jargon mit singendem Tonfall.


GOLDSOHN. Schönen guten Abend, gnädige Frau. Erlauben schon, daß ich ablege meinen Pinkel. Vertraulich. Niemand hat mich gesehen im Haus. Gleich hab' ich gefunden die Tür, wo das schöne Fräulein hat beschrieben.[409] Diskretion Ehrensache. Können beruhigt sein. Unsereins hat was erlebt, unsereins kommt mit die nobelste Leut' in Berührung: Offiziere, Barone, Grafen sogar! Romane könnte man schreiben. Macht sich mit hündischen Bewegungen heran, um der Mutter die Hand zu küssen.

MUTTER ihm die Hand entziehend. Lassen Sie nur!

GOLDSOHN küßt ihre Hand dennoch. Daß wir machen ein gutes Geschäft, daß ich verdien' ein paar Kreuzer mit Ihnen! In Gottes Namen. Mit was kann ich dienen?

MUTTER mit Überwindung. Ich hätte ein wertvolles Möbelstück zu verkaufen, einen Sekretär, der über hundert Jahre in der Familie ist.

GOLDSOHN mit gespieltem Bedauern. Schade.

MUTTER. Wieso?

GOLDSOHN. Da sind Sie, bedauer' ich, bei mir nicht an der richtige Adress'. – Ich kauf' Kleider, Schuhe, Silberzeug, wenn Sie haben, Leuchter, Musikinstrumente. Mit Möbeln handeln andere, nicht ich.

MARIE. Sie haben mir heute doch selbst gesagt, daß Sie alte Möbel kaufen!

GOLDSOHN listig. Gut, hab' ich gesagt. Wenn ich aber sag' »alte Möbel«, so mein' ich moderne Möbel in abgenutztem Zustand: eiserne Betten, Korbsessel, eine Kredenz oder ein Kanapee zum Schlafen, wenn Sie haben. Ein Sekretär, hundert Jahre alt, ist ein antikes Möbel. Das kauft Ihnen der Antiquitätenhändler ab, nicht der Pinkeljud'.

MUTTER. Dann muß ich mich eben an jemand anderen wenden.

GOLDSOHN umsattelnd. Anschaun, wenn Sie wollen, kann ich mir ja das Stück.

MUTTER. Nicht nötig.

GOLDSOHN. Na, anschaun werden Sie mir doch lassen!

MUTTER. Es hat ja doch keinen Zweck, wenn Sie nicht kaufen.

GOLDSOHN. Wer hat gesagt, daß ich nicht kauf'? Wenn schon nicht für mich, so vielleicht für einen anderen, für einen Geschäftsfreund.

MUTTER. Dann soll der andere selber kommen.

GOLDSOHN vertraulich. Wollen Sie haben, daß die Handeljuden ein- und ausgehen bei Ihnen wie die Kundschaft beim Bäcker? – Na, sehen Sie.


Mutter nimmt nach einigem Überlegen die Lampe vom Tisch und stellt sie auf den Sekretär.


GOLDSOHN auf den Sekretär zu. Er betastet ihn, nimmt dann die Lampe und leuchtet ihn von allen Seiten ab. Aha – antik ist er. Empire, nicht ganz rein allerdings im Stil. Und stark beschädigt ist er auch. Da schaun Sie her, bitte! Abgestoßen ein ganzes Eck. Wenn einer kauft, muß er gleich nehmen in der Hand ein schweres Stück Geld für Reparatur. Da fehlt das Schloß. Die Lade hier ist nicht aus der Zeit. Kennt man am Holz. Gott der Gerechte, hundert Jahre sind eine lange Zeit, da kann schon was gehen zugrund. Stellt die Lampe wieder auf den Mitteltisch. Was soll er kosten?

MUTTER unsicher. Hundert Kronen.

GOLDSOHN die Hände über dem Kopfe zusammenschlagend. Gotteswillen! Hundert Kronen! Sind Sie gesund, liebe Frau?

MUTTER erregt. Auf das Dreifache ist er geschätzt!

GOLDSOHN. Wissen Sie, was man heutzutag' kriegt für hundert Kronen? Eine ganze Garnitur, neu aus der Fabrik, abgenutzt nicht zu reden.

MUTTER. Die ist aber auch danach.

GOLDSOHN. Wie heißt? Ein armer Teufel, wenn er kriegt um dasselbe Geld: Bett, Tisch mit Sessel, einen Kasten und vielleicht noch einen Wandspiegel dazu, ist ihm doch lieber als ein einzelnes Stück! Unsereins verkauft doch nur an arme Leut'. Froh muß ich sein, wenn ich krieg' für einen Hut, gekauft um 40 Kreuzer, wenn ich krieg', sagen wir hoch, eine Krone. Einen Gulden rein, bis ich mir hab' verdient, muß ich mir ablaufen die Fuß' in viele Häuser. Und von Ihnen soll ich kaufen um hundert Kronen? Kann ich das, sagen Sie selbst?

MUTTER. Sie müssen ja nicht. Es werden sich schon andere Käufer finden.

GOLDSOHN. Für das viele Geld? Keiner wird sich finden, mein Wort! Meschugge müßt' einer sein, kein Gewissen müßt' er haben, betrügen müßt' er sich selbst und den andern dazu, wenn er wiederverkauft. Soll ich Ihnen sagen, wieviel wert ist das Möbel?

MUTTER. Das weiß ich ohnehin.

GOLDSOHN immer erregter. Nix wissen Sie, liebe Frau! Liebhaberwert wissen Sie, aber nicht den Wert im Handel. Mit gesenkter Stimme. Und Sie wollen doch verkaufen, Sie[410] wollen doch nicht warten, bis vielleicht wer kommt aus Zufall, ein Liebhaber, ein Sammler. Sie brauchen doch das Geld, so wie andere Leute brauchen ein Geld, plötzlich, aus Familienumständen oder sonst wegen diskrete Verhältnisse.

MUTTER abweisend. Ich brauche das Geld nicht.

GOLDSOHN mit wachsender Suada. Aber loswerden wollen Sie doch das Möbel! Holt man sonst den Juden? So machen Sie mir doch einen annehmbaren Preis, liebe Frau! Lang sollen Sie leben, viel Freud' sollen Sie haben an der schönen Fräulein Tochter, steinreich sollen Sie werden. Nur lassen Sie auch verdienen einen armen Juden ein paar Kreuzer! Daß ich nicht heut abend nach Haus komm' ohne Verdienst! Machen Sie mir einen Preis!

MUTTER zögernd. Sagen Sie mir, was Sie geben würden.

GOLDSOHN sofort sachlich. Gut. – Dank dir, lieber Gott, daß du die Frau hast erweicht! – Schuft meines Namens soll ich sein, wenn ich Sie überhalt'! Nix will ich verdienen bei dem Geschäft! Er nimmt aus seiner Brieftasche eine Zwanzigkronennote und legt sie auf den Tisch. Bar auf den Tisch ge legt – zwanzig Kronen!

MUTTER empört. Sie sind wohl nicht bei Trost!

GOLDSOHN suggestiv. Zwanzig Kronen! Nehmen Sie!

MUTTER grob. Nein!

GOLDSOHN. Sie machen ein gutes Geschäft, mein Wort.

MUTTER. Fahren Sie ab!

GOLDSOHN flehentlich. Liebe Frau, um Gottes Barmherzigkeit willen, machen Sie mich nicht unglücklich, liebe Frau! Nicht einen Heller verdien' ich bei dem Geschäft! Zwanzig Kronen! Nehmen Sie! Ich kann Ihnen nicht mehr geben, liebe Frau –

MUTTER. Nein hab' ich gesagt!

GOLDSOHN mit allem Aufgebot. Liebe, gute, schöne Frau! Bei Gott, schön sind Sie! Eine Christenfrau! Immer weinerlicher. Fünf Kinder hab' ich zu Haus, liebe Frau. Wollen Essen haben, Kleider und Schuh. So sperren sie den Mund auf jeden Tag, wenn ich komm' nach Haus. Soll ich ihnen nicht kaufen können heut abends ein Stück trockenes Brot?! Waisen sind sie. Genommen hat der Herr ihre Mutter im Wochenbett. Ein Witwer bin ich. Was hab' ich getan, Gott der Gerechte, daß du – –


Gottfried ist während der letzten Exklamation Goldsohns nach Hause gekommen. Im Augenblicke,

da dieser ihn gewahrt, unterbricht er sich mit einem Schlage und setzt plötzlich eine demütiglächelnde und zugleich forschende Miene Gottfried gegenüber auf. Dieser ist erst einige Augenblicke, die Situation überblickend, an der Tür stehengeblieben. Jetzt aber geht er einige Schritte nach vorne.


GOTTFRIED in seinem gemachten Tone. Guten Abend allerseits. Was geht hier vor? Mit wem habe ich die Ehre?

GOLDSOHN devot lächelnd. Küsse die Hände, Euer Gnaden, nur ein armer Pinkeljud' ist da. Gott der Gerechte, laß mich ein bissel was verdienen! Nuchem Goldsohn ist mein Name. Gerufen bin ich von der lieben Frau Mama. Möchte mir sonst nicht erlauben –

GOTTFRIED nach einem kurzen Blick auf die Mutter, die sich inzwischen wieder zum Tisch gesetzt hat und scheinbar unbeteiligt ihre Näherei fortsetzt. Ach so. – Um welchen Gegenstand handelt es sich?

GOLDSOHN. Nur um das alte Schreibpult, Euer Gnaden, in der Ecke dort. Euer Gnaden möchten einlegen für mich ein gutes Wort bei der Frau Mama. Sie ist so viel grausam und teuer.

GOTTFRIED der unmerklich zusammengezuckt war, mit sachlicher Ruhe. Und wieviel bieten Sie für das – alte Schreibpult?

GOLDSOHN wie oben. Euer Gnaden, wenn ich könnt', tausend Gulden möcht' ich Ihnen geben. Aber ich bin ein armer Familienvater, fünf hungrige Kinder hab' ich, lieber Herr, wollen alle Essen haben und Kleider und Schuh –

GOTTFRIED. In Würdigung all dieser Umstände – wieviel bieten Sie also?

GOLDSOHN mit gefalteten Händen. Zehn Gulden, Euer Gnaden –

GOTTFRIED in die Ferne. Zehn Gulden – ist gleich: zwanzig Kronen – sind etwas wenig, Herr Goldsohn, für die scheue Liebe einer Kindheit, für den treuen Gefährten von Großvater, Vater und Sohn. Sie wissen nicht, Herr Goldsohn, wie auf diesem scheinbar verbündeten Holze manchmal die Sonne ruhen konnte, daß es aufleuchtete wie Bernstein. Für solche Kostbarkeiten sind zwanzig Kronen wenig Geld, Herr Goldsohn.

GOLDSOHN der ihm andächtig zugehört hat, leise. Eine edle Sprache haben Sie, Herr Doktor![411]

GOTTFRIED mit schmerzlichem Lächeln. Dafür gibt einem, aber, wie das Sprichwort sagt, der Jude nichts.

GOLDSOHN. Viel Geld, glauben Sie mir, laßt sich verdienen mit so einer Sprach'.

GOTTFRIED. Bis dato hab' ich es mit ihr nicht einmal zu »Lobenswert« im deutschen Aufsatz gebracht.

GOLDSOHN. Ist das ein Maßstab? Sind nicht berühmte Leut' durchgefallen sogar in der Schul'? Euer Gnaden wundern sich, was unsereins alles weiß. Aber man tut, was man kann, für die Bildung. Lesen, wenn ich kann, am Feiertag oder sonst, wann ich hab' Zeit, ist mein größter Genuß.

GOTTFRIED. Ich glaub' es Ihnen, Herr Goldsohn.

GOLDSOHN nach einer Pause. Herr Doktor, soll ich Ihnen machen einen Vorschlag?

GOTTFRIED. Nun?

GOLDSOHN. Mir, aufrichtig, ist der Kasten zu teuer. Aber wenn Sie wollen, einen Schwager hab' ich, der hat ein großes Geschäft für Antiquitäten. Werden ihn ohnehin kennen, Gebrüder Blau heißt die Firma, über vierzig Jahr am Platz. Höchste Herrschaften kaufen bei ihm, lassen warten der Equipage vor dem Geschäft. Soll ich mit ihm reden?

GOTTFRIED. Tun Sie das, Herr Goldsohn.

GOLDSOHN geheimnisvoll. Vielleicht, daß er Ihnen bietet das Doppelte, oder gar, daß er Ihnen zahlt, daß – die Sonne daraufgeschienen hat wie Bernstein.

GOTTFRIED in äußerer Unbewegtheit. Ich danke Ihnen, Herr Goldsohn, daß Sie mir auf meine, wie Sie sagen, edle Sprache hin Ihren Herrn Schwager senden wollen. Ansonsten hat mir noch niemand etwas zulieb getan für meine edle Sprache.

GOLDSOHN zerfließend. Herr Doktor, glauben Sie, unsereins hat kein Herz? Ich seh' doch, mit wem ich hab' zu tun. Sie sind – ein Mensch!

GOTTFRIED. Wenn ich es bin, so ist es ein Sport, der über meine Verhältnisse geht, Herr Goldsohn.

GOLDSOHN nachdem er mehrmals den Kopf geschüttelt hat. Sonst möchten Sie nicht so menschlich reden – mit einem armen Juden!

GOTTFRIED. Leben Sie wohl, Herr Goldsohn.


Goldsohn nimmt seinen Pinkel auf und geht mit stummen Verbeugungen ab. Marie ist, um ihn hinauszugeleiten, vorausgegangen.


GOTTFRIED nach einer Pause, leise. Ist es so weit, Mutter?

MUTTER die Arbeit weglegend, ohne ihn anzusehen. Alles Ersparte aufgebraucht, die Einkünfte im voraus verausgabt, alles halbwegs Wertvolle versetzt, nun geht es an die Möbel.

GOTTFRIED mit geschlossenen Augen, leise.

Nicht an die Güter hänge dein Herz,

Die das Leben vergänglich zieren ...

MUTTER mit beginnender Aggressivität. Ja, immer nur von andern Opfer verlangen ist leicht. Jetzt siehst du wenigstens, wie schwer es fällt, selber eines zu bringen.

GOTTFRIED mit gemachter Kühle. Nicht das ich wüßte. Es gibt Schwereres auf der Welt als Abschied zu nehmen von einem alten – Schreibpult. Es könnte nur sein, daß ein anderer einst die leere Stelle an der Wand mit Träumen bevölkert. Bis dahin ist allerdings noch Zeit, ihn schonend vorzubereiten. So bald wird er ja die Kasematte nicht verlassen, wo seine armen Lungen, nach offenen Fenstern hungernd, die Latrinengerüche eines Lichthofes einatmen.

MUTTER in ohnmächtigem Zorn. Ich lasse mir das nicht jeden Tag vorwerfen! Heute rede ich mit Doktor Radinovich!

GOTTFRIED gehalten. Der alte Feldscher, unter den mein Vater geraten ist, wird wohl nicht des Rates wissen.

MUTTER empört. Das ist dein Dank für einen Mann, der aus Freundschaft für meinen seligen Vater, ohne auch nur einen Kreuzer zu nehmen –

GOTTFRIED ruhig. Pardon, liebe Mutter, Feldscher ist keine entehrende Bezeichnung. Auch Friedrich Schiller hat sich diesen Titel gefallen lassen müssen. Andrerseits wird man gewiß zugeben müssen, daß ein Militärchirurgus von Anno 66 im Anfange dieses Jahrhunderts ein schlechter Internist sein kann, wenn seine Ordination auch kostenlos verläuft.

MUTTER immer machtloser. Du hättest wohl zu deinem Vater lieber den Armenarzt geholt!

GOTTFRIED. Sogar lieber das! Meines Vaters Leiden ist ja die Krankheit der Armen.

MUTTER. Und ich bringe ihn wohl um, indem ich den Armenarzt nicht holen lasse?

GOTTFRIED eisig. Ich möchte denselben Gedanken ein wenig anders formulieren.

MUTTER nach einem kurzen, rauhen Aufweinen, das sie sofort bezwingt. So redet mein eigenes Kind! Sie preßt die Stirn gegen die[412] Hände. Von rechts das Klavierspiel des Zimmerherrn: Trauermarsch von Chopin.

GOTTFRIED nachdem er mehrmals auf- und abgegangen, hinter der Mutter stehenbleibend, im Tone des Gutmachens, aber unfähig dazu. Rege dich nicht auf, Mutter! Hörst du nicht, wie taktvoll unser Aftermieter mit Rücksicht auf die gegebenen Umstände den Trauermarsch von Chopin spielt? Es könnte allerdings sein, daß er, im Katzenjammer nach durchtobten Nächten, eigentlich das Lied von Isaak und der Sarah meint, die bekanntlich zusammen in die Sahara zogen.


Doktor Radinovich tritt ein, gefolgt von Marie, die ihm mit einer Kerze durch das dunkle Vorzimmer geleuchtet hat.

Er ist ehemaliger Militärarzt und uralt. Er hat

schneeweißen Kaiserbart. Das noch reiche, weiße Haar ist militärisch schlicht gescheitelt. Er trägt über einem doppelreihigen Salonrock von anno dazumal einen Winterüberzieher, der sein ehemaliger Uniformmantel sein dürfte, in der behandschuhten Hand den typischen zeitlosen Zylinder der pensionierten Offiziere. Im Knopfloch seines Gehrockes steckt ein roter Ordensknopf. Er ist von abgezirkelter Ritterlichkeit und spricht das echte Offiziersdeutsch – allerdings altmodisch-verklärt – mit slawischen Anklängen.


DOKTOR. Ihr ergebener Diener, liebe Freundin! Er küßt der Mutter die Hand. Welche Erregung in Ihren Mienen! Es täte mir leid, wenn das Befinden Ihres Herrn Gemahls dazu Anlaß gäbe.

MUTTER ihre Erregung niederkämpfend. Nein, nein! Ich werde Sie nachher um eine Unterredung bitten.

DOKTOR sehr ernst. Gerne, gnädige Frau. Er legt ab. Wenn es beliebt, suchen wir jetzt den Patienten auf. An der Tür. Nach Ihnen! Mit Mutter und Marie links ab.


Gottfried allein. Er sieht einige Augenblicke den Abgehenden nach, kommt dann nach vorne rechts. Das Folgende spricht er ins Publikum, aber leise zu sich selbst, vorerst noch unbewußt an den Sekretär

gelehnt. Von rechts nebenan das Klavierspiel hat aufgehört.


GOTTFRIED. Armes, gemartertes Weib, warum kann selbst dein ehrlicher Kummer keinen Notsteg bauen zwischen dir und mir? Wer hat diese Schanzen aufgeworfen zwischen Mutter und Sohn? Ein Stärkeres muß es als Armut sein, die freilich Mensch gegen Mensch und Blut gegen Blut verbittert. Immer wieder wälz' ich den schweren Stein auf den Gipfel des Abhangs. Immer wieder versuch' ich, dich zu verstehn, dich – lieb zu haben sogar. Die Schmerzen meines Ausgangs aus dir, deine schlaflosen Nächte um mich, deine Sorgen und Mühsal werf' ich als Riesengewicht in die Schale zu deinen Gunsten. Aber immer wieder erkenn' ich in deinem Wort und Gefühl, was ich, ererbt von dir, in meiner Brust nicht lieb habe, und wüte gegen dich, indem ich es aus mir merze. Weich. Manchmal freilich drängt es mich – Verzeihung von dir zu erbitten. Aber nahe daran, schnürt mir die Kehle zu ein höhnisch »Wofür?« – Dann neig' ich die fiebernde Wange, lieber als deiner Brust, leblosem Hausrat hin und streichle die kühlen Kanten, an denen der Vater schon die achtlose Kinderstirn sich wundgestoßen.


Doktor und Mutter treten leise auf. Beide sehr ernst.

Im Augenblick, da er sie bemerkt, entfernt sich Gottfried mit scheinbarer Unbefangenheit vom Sekretär und sieht die beiden erwartungsvoll an.


DOKTOR gedämpft. Darf ich Sie bitten, junger Freund, für einen Augenblick abzutreten?


Gottfried mit stummer Verbeugung links ab.


DOKTOR. Und Sie, liebe Freundin, schütten mir wohl Ihr Herz jetzt aus.


Mutter steht da und ringt mit ihrer Verschlossenheit, was sich im krampfhaften Spiel ihrer Hände ausdrückt. Endlich gefaßt, lädt sie den Doktor mit einer Handbewegung zum Sitzen ein.


DOKTOR nimmt mit einer Verbeugung Platz, vorsichtig. Ich weiß ja nicht, liebe Freundin, was Sie mir anvertrauen wollten. Man hat seinen jardin secret und möchte im Augenblicke einem alten Freunde Eintritt gewähren. Doch dann reut es wieder.

MUTTER mit innerlichem Zittern, dennoch bestimmt. Ich weiß, der Zustand meines Mannes ist hoffnungslos.

DOKTOR ausweichend. Die Hoffnung, liebe Freundin, ist ein zu kostbares Gut, um sie aufzugeben, ehe es nötig ist. Der Zustand Ihres Herrn Gemahls ist wohl besorgniserregend. Eine unmittelbare Gefahr könnte jedoch erst dann eintreten, wenn er die Nahrungsaufnahme konstant verweigerte und das Fieber nicht nachließe.

MUTTER schüttelt mehrmals wie über etwas Unbegreifliches den Kopf, dann in sich hinein. Ich möchte nur wissen –[413]

DOKTOR. Was denn, liebe Freundin? Denken Sie immer daran, daß Ihr Vater mein liebster Kamerad war in Freud und Leid!

MUTTER wie oben. Ich möchte nur wissen – Kaum mehr an sich haltend. ob ich wirklich daran schuld bin, daß es mit meinem Manne so weit gekommen ist. Ist denn alles, was ich für ihn – Sie wird von einem kurzen Aufschluchzen unterbrochen.

DOKTOR ritterlich um sie besorgt. Meine Liebste, Beste, wer würde eine so furchtbare Anklage zu erheben wagen?

MUTTER wieder verschlossen, abwehrend. Niemand – niemand!

DOKTOR. Ich stelle Ihnen jederzeit und für jedermann das Zeugnis aus, daß Sie alles getan haben, was in Ihren Kräften stand, alles.

MUTTER in sich hinein. Woher hätte ich das Geld nehmen sollen, um meinen Mann von hier wegzubringen? Woher denn? Fremde Leute anbetteln?

DOKTOR nach kurzer, innerlich erregter Pause, mit der Starrheit des Uralten. Ich entsinne mich nicht, einen Wechsel des Aufenthaltes verordnet zu haben. – Den Schwerkranken den Zufällen einer Reise auszusetzen, quelle idée de diable! Wo man doch weiß, daß sogar das Tier, la bête brute, durch den Wechsel seiner gewohnten Lebensbedingungen Schaden leidet. Das sind die Extravagancen der sogenannten modernen Medizin. Man hat meinetwegen unendlich viel im détail dazugelernt, hat aber leider in seinem Übermut darauf vergessen, daß wir Ärzte nur die Schrittmacher sind für die große souveraine Heilkraft der Natur. Wer wie ich auf Schlachtfeldern immer wieder diesem Wunder begegnet ist, denkt bescheidener von der menschlichen Kunst zu kurieren. Man hat ja gewiß seine Pflicht getan, auch in Fällen, wo man selbst an Rettung nicht mehr glaubte. Und man hat in gar manchem dieser Fälle erlebt, daß der Mann gesund wurde. Allerdings hat man dann nicht auf seine Kunst gepocht, nein, man hat es demütig jener Wunderkraft zugeschrieben, die man in früheren Zeiten wohl auch – Gottes Hilfe genannt hat ...

MUTTER zitternd. Glauben Sie an diese – Hilfe Gottes auch bei meinem Mann?

DOKTOR ruhig. Man glaubt im allgemeinen an sie.

MUTTER wie oben. Auch bei meinem Mann?

DOKTOR unruhig. Warum wollen Sie das in dieser Stunde wissen?

MUTTER dumpf losbrechend. Ich kann diese Krankheit – nicht mehr bestreiten!

DOKTOR nach einem langen Blick. Ich verstehe.

MUTTER aufgetan. Sagen Sie nicht selbst, daß ich alles getan habe, was in meinen Kräften war? Kein Opfer gescheut, alles Ersparte zugesetzt. Mehr als das: Schulden gemacht. Was wissen meine Kinder! Sie denken von heute auf morgen. Sie würden die ersten sein, die mich anklagen, wenn der Sohn die Studien nicht vollenden könnte, wenn die Tochter wie eine Bettlerin in die Ehe treten müßte. Wenn es also nur ein Aufschub ist des Unvermeidlichen, dann – ich nehme es auf mich! – dann ...

DOKTOR mit einem Anflug von Bewunderung. Sie sind wahrhaftig die Tochter eines Soldaten! Sie haben von ihm, der mein liebster Freund war, den Mut geerbt, den Unerbittlichkeiten des Lebens klar ins Auge zu sehen und Opfer zu bringen um der höheren Sache willen. So war er selbst. Solch einer Frau braucht man nicht zu verschweigen, was man nach menschlichem Ermessen für die Wahrheit hält.

MUTTER plötzlich mit dem Unterton der Angst. Es wäre also wirklich – nur ein Aufschub?

DOKTOR nach banger Pause, mit der Festigkeit eines alten Soldaten. Ja.

MUTTER wieder beherrscht. Und was wird – jetzt sein?

DOKTOR. Von nun an erübrigt nur mehr die Menschenpflicht, den Ärmsten nicht fühlen zu lassen, daß er verloren ist. So bereitet man den Übergang zu jener letzten Phase vor, wo die gütige Natur selbst den Schleier des Genesungswahnes über das nahe Ende breitet. Euphorie nennt es die Wissenschaft. Der Patient wird nicht mehr mit Medizinen gequält, er erhält, soweit es ihm zuträglich ist, die Kost der Gesunden, und man gewährt ihm alle Wünsche, die im Bereiche der Mittel sind.

MUTTER starr verschlossen. Würden Sie das – auch meinen Kindern sagen?

DOKTOR. Warum nicht? Das heißt – mit der wahren Begründung?

MUTTER starr. Mit einer – anderen.

DOKTOR. Ich denke auch. Sie haben noch Zeit, die volle Wahrheit zu erfahren. Rufen Sie sie, bitte![414]

MUTTER entschlossen zur Tür links. Gottfried – Marie!


Gottfried und Marie treten ein und sehen den Arzt und die Mutter erwartungsvoll an.


DOKTOR mit ärztlicher Verstellung. Also, meine jungen Freunde, ich habe heute Ihren lieben Herrn Vater in einer Verfassung vorgefunden, die eine ärztliche Behandlung durch meine Person nicht mehr nötig macht.

MARIE leichtgläubig, freudig. Mutter, ist das wahr?


Gottfried ist zusammengezuckt und durchdringt den Arzt mit seinen Blicken.


DOKTOR indem er seine Überkleider anlegt. Es ist so, wie ich gesagt habe. Ich werde daher meine Visiten bis auf weiteres einstellen, und meine liebe Freundin, Ihre Frau Mutter, weiß alles, was nunmehr bezüglich der Pflege und Ernährung einzutreten hat. Sie hat von mir uneingeschränkte Vollmacht. Also leben Sie wohl, meine Lieben, melden Sie Ihrem Herrn Vater noch meinen gehorsamsten Diener! Adieu.

MUTTER mit dem Doktor schon bei der Tür, sich halb zurückwendend, gleichfalls verstellt. Jetzt kann Gottfried auch seinen Sekretär behalten – als Notpfennig für schwerere Zeiten. Mit dem Doktor ab.

MARIE inbrünstig aufjubelnd. Gottfried! Wirft sich an seine Brust.

GOTTFRIED schüttelt sie ab und packt sie mit wildem Griff am Arm. Bist du wahnsinnig?! Er stellt die Visiten ein! Ich kann meinen Sekretär behalten! Begreifst du noch nicht? Losbrechend. In ein verlorenes Unternehmen wird kein Kapital mehr investiert! Kein Kapital mehr – kein Kapital!

MARIE läßt die Arme sinken, ihre Lippen bewegen sich tonlos, endlich entringt es sich ihr fast unhörbar. Er – muß – gerettet werden.


Der Vorhang fällt.


Quelle:
Dichtung aus Österreich. Anthologie in drei Bänden und einem Ergänzungsband, Band 1, Wien und München 1966, S. 408-415.
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