|
[50] An den Gartenrosen perlte Morgentau, als ich mit Enzio zur Schule aufbrach, unter dem Arm den Ranzen mit Büchern. Auf dem schmalen Holzsteg, der über den Goldersbach führte, blieben wir ein Weilchen stehen, um die Forellen zu beobachten, die sich gleich dunklen Stäbchen vom grauen Steingrund abhoben. Es kam eine Entenmutter mit ihrer Nachkommenschaft geschwommen, und die piependen, von Flaum bedeckten Kindlein wußten ihre Paddelbeinchen schon geschickt zu regen. Nicht ohne Wehmut betrachtete ich das gemütliche Bild. Meine Freiheit sollte ja nun beschränkt werden.
»Wer hat die erste Stunde?« fragte ich. – »Der Naso – Latein!« – »Ist er streng?« – »Ha! Tatze gibt er keine.« – »Tatze, was ist das?« – Verdutzt sah mich Enzio an: »Hat's denn bei uich Norddeutsche keune Tatze? Mit em Röhrle auf d' Händ! Brenne tut's!« – »Na, ich danke! Und so was soll man sich gefallen lassen?« – »Waas soll mr mache? Geduld, Enziole, sag i mir – bis du im Obergymnasium bischt! Da muß der Lährer zum Schüler Sie sage – da ischt mr scho halber Student.«
Unter solchem Gespräch hatten wir die schattige Baumstraße, die von Lustnau nach Tübingen führt, zurückgelegt und waren am Botanischen Garten vorbei zum Gymnasium gelangt. Es lag damals in der Wilhelmstraße, wo vom Oesterberg der Fahrweg[51] kommt. Ehemals Privathaus, war das Schulgebäude ein nüchterner Bau. Im Erdgeschoß wohnte der Direktor mit dem Schuldiener, der sich gern Pedell nennen ließ. Die Treppe führte zu drei Stockwerken. Zur Seite der Flurgänge lagen die Klassen. Wir kamen zu einer Tür mit der Aufschrift »6. Klasse«. So nannte man die Untertertia. Nicht ohne Beklommenheit trat ich ein. Die Klasse war hell und sauber. Meine neuen Kameraden gafften und wiesen auf den letzten Platz der Vorderbank: »Wer neu ischt, kommt ultimus!«
Ausgefragt, woher ich sei, antwortete ich kleinlaut und begegnete einem grinsenden Staunen über meine Mundart. Mir fiel es nicht leicht, die Knaben zu verstehen, wenn sie Tübingisch sprachen. Mein Nachbar, ein stämmiger Dickschädel namens Wurschterle, schien ein Rädelsführer zu sein und machte sich besonders mausig. Ein Mitschüler hatte schon eine Baßstimme und war stattlich wie ein Student. Alle schienen ihn gern zu haben, sie nannten ihn Ritter Uli.
Die Turmglocken hatten Acht geschlagen, da ging die Tür auf, und ein kurzer, ältlicher Herr in einem schäbigen Schwarzrock trat ein. Sofort erhob sich die Klasse und blieb stehen. Der Professor hatte seinen Filzhut an den Kleiderpflock gehängt und bestieg das Katheder. Seine Brillengläser glommen, als er die Klasse überschaute. Diese stand in Demut – die Hände gefaltet, die Köpfe geneigt, und ich merkte, es solle gebetet werden. Rasch hatte ich noch einen prüfenden Blick für des Professors Gesicht. Harmlos kam es mir vor, etwas einfältig, wenn auch gelehrt. Naso war glatt rasiert – nur eine Halsfräse war stehen geblieben. Die faltige Haut war braungelb und hatte unter der Nase einen schwärzlichen Schimmer; sie erinnerte mich an den Ledereinband eines Gesangbuches, das mein Großvater hinterlassen hatte. Und aus dieser altmodischen[52] Postille schien das Gebet zu stammen, das Naso jetzt sprach. In einer wunderlichen Spielart des Schwäbischen:
»Du hoscht eun heulik Amt,
O Herrgott, mir gegäben
Im Schulstand dieser Welt
Zu schwärem Dinscht zu läben
Die Ohngebärdigkeut
Mit eufrigem Bemühn
Zu Kunscht ond Wissenschaft
Ond Tugend zu erziehn.
So nimm, meun Heuland du,
Der selber eunscht gelähret
Ond Lährer eungesetzt
Ond ihren Stand geähret –
Der du den Kindern selbscht
Gar liebreuch wohlgetan –
So nimm auch meuner dich
Ond dieser Schüler ahn!
Amen!«
Rauschend, hüstelnd, scharrend setzte sich die Klasse. Nun entnahm der Professor dem Deckelfach des Katheders das Klassenbuch, eine Eintragung zu machen. Nachdem er sich aus seiner Schnupftabaksdose gestärkt hatte, schlug er das Buch auf – es war der Cäsar – und sagte: »Fange mer ahn! Ricker!«
Im Laufe der Verhandlungen kam Naso vom Katheder herunter und pflanzte sich vor mich hin, den kurzen Körper an die Bank gelehnt, wovon der Stoffüberzug eines Westenknopfs abgeschabt war. Auf mein aufgeschlagenes Buch fiel bisweilen etwas von seiner Prise – behutsam blies ich's weg – und das[53] war ein bescheidener Zeitvertreib. Was im Cäsar stand, fesselte mich hier so wenig wie auf dem Magdeburger Gymnasium – zumal man hier in derselben langweiligen Art den Unterrichtsstoff behandelte. Wie der Botaniker eine Blume zerpflückt, um Blütenblättchen, Kelch, Staubgefäße besonders zu beäugeln, und wie schließlich vom schmucken Naturkinde nichts bleibt als ein Häufchen Gemüll, so wurde jeder Satz sprachlich zerfasert, jedes Lateinwort konjugiert oder dekliniert und als Vorwand benutzt, um Grammatik zu pauken.
»Bei a und e in prima hat
Das Femininum allzeit statt –
Die übrigen auf as und es
Bedeuten etwas Männliches.«
Ich dummer Junge konnte mich für solche Männlichkeit nicht begeistern. »Us quartae lasse männlich sein.« Unsinn! Was schert mich Us quartae! Jung Siegfried, der den Amboß in den Grund schlug, und Wildtöter mit seiner unfehlbaren Büchse, das waren Vertreter der Männlichkeit, für die ich schwärmte. Julius Cäsar gehörte nicht dazu. Diesem Römer mit der Adlernase war allerdings eine gewisse Schläue nicht abzusprechen, aber mit seinem nackten Schädel und den dünnen Lippen sah er wie ein Geizhals aus, wie ein gieriger Raubvogel, und ich gönnte ihm, mal tüchtig verhauen zu werden von den wilden Galliern. Diese waren mir eher leidlich – sie hatten doch etwas Indianerhaftes.
So kam's, daß meine Gedanken zu den Indianern schweiften. Und auf einmal glaubte ich, nicht den Cäsar vor mir zu haben, sondern Coopers Lederstrumpf-Erzählungen. Und ich phantasierte: »Nur einen Moment hatte das Auge des Mingo aus den dichten Blättermassen hervorgefunkelt, als auch schon die[54] lange Büchse knallte ... paff!« Ja, so etwas fesselt einen dreizehnjährigen Teutonen. Aber, ach, in diesem Latein-Zuchthaus hört er immerzu Geleier wie: vinco vicu victum vincere! Dann kommt der nächste Satz an die Reihe – der wird ebenso langweilig abgehandelt – uff! Stöhnen möchte man, hat auch noch Angst, daß man wegen Unwissenheit reinfallen könnte. Und auf diese Weise sollen die Jungen zu Helden werden nach dem Muster der Römer? Was tun übrigens die römischen Kohorten? Ein Lager schlagen sie auf, brechen es wieder ab und schleppen sich etliche Meilen weiter. Trockenes Kommißbrot ist das. Die Indianer im Lederstrumpf, das sind Kerle! Von Ast zu Ast stürzte der Körper des erlegten Mingo – die Rothäute brachen in ein Wutgeheul aus – Falkenauge aber tat auf einmal einen grellen Pfiff: »Fuit!«
»Waas? Waas? Jetzt – wer onderschteht sich da z' pfeife, he? Euner, wo graad daher komme ischt von Preuße? Graad daß mer über die Ohngebärdigkeut klagt, da tut der pfeife! Ond macht e domms Gesicht, wie euner, wo vom Traum erwacht. Dem rappelt's, scheunt's!« – Ich atmete wie ein Erlöster, da soeben die Schulglocke läutete.
Buchempfehlung
Die vordergründig glückliche Ehe von Albertine und Fridolin verbirgt die ungestillten erotischen Begierden der beiden Partner, die sich in nächtlichen Eskapaden entladen. Schnitzlers Ergriffenheit von der Triebnatur des Menschen begleitet ihn seit seiner frühen Bekanntschaft mit Sigmund Freud, dessen Lehre er in seinem Werk literarisch spiegelt. Die Traumnovelle wurde 1999 unter dem Titel »Eyes Wide Shut« von Stanley Kubrick verfilmt.
64 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro