Fünftes Kapitel.
Das Wiederfinden.

[298] Adrian griff mechanisch nach dem im Winde flatternden Papier und warf gleichgiltige Blicke darauf. Es war eins jener kleinen, von dem Landvolke viel und eifrig gelesenen Wochenblättchen, die neben einer Menge gerichtlicher Vorladungen, obrigkeitlicher Bekanntmachungen und Anzeigen anderer Art die neuesten Zeitereignisse in dürftigstem Auszuge enthalten. Der reiche Mann nahm in der Regel nie ein solches Blatt in die Hand, da er die bedeutendsten und einflußreichsten Zeitungen des In- und Auslandes schon aus Speculation selbst hielt und daher immer sehr wohl unterrichtet war von Allem, was in der Welt vorging. Schon wollte er das Blättchen dem Winde wieder Preis geben, als[299] er gegen das Ende hin mit etwas größerer Schrift und in schief stehenden Lettern, wie sie als etwas Neues damals gerade erst aufgekommen waren, das Wort »Aufruf« las. Dies veranlaßte ihn doch zu genauerer Betrachtung und mit einiger Verwunderung las er:

»Diejenige Person, welche den Namen Maja Pisom als Geburtsnamen führt, in dem Haidedorfe E. am 13. Februar 1791 zur Welt gekommen ist und mithin zur Zeit ein Alter von beinahe zwei und vierzig Jahren erreicht hat, sich auch vor Andern durch ein purpurrothes Muttermal an ihrer linken Schläfe in Gestalt eines kleinen Sternes auszeichnet, wird hierdurch dringend aufgefordet, ihren gegenwärtigen Wohnort anzuzeigen oder sich persönlich im Hause des Maulwurffängers Heinrich zu B. so bald als möglich einzufinden, da man ihr eine höchst wichtige Mittheilung zu machen hat.«

»Was soll das nun wieder heißen?« murmelte Adrian vor sich hin, indem er das Wochenblatt zusammenfaltete und zu sich steckte. »Zu welchem Zweck verläßt dieser intriguante alte Mann einen so dringenden Aufruf, und wer mag jene Maja sein? Maja? Maja Pisom?[300] Dieses Namens kann ich mich nicht erinnern. Unter meinen Arbeitern wäre sie demnach wohl kaum zu suchen. – Aber einen Grund muß der Aufruf doch haben! Und der verschlagene alte Schlaukopf ist sicherlich dabei betheiligt! – Dahinter muß ich kommen und das bald! – Wahrhaftig es thäte Noth, daß man sämmtliche Arbeiter wie die Neger oder wie das liebe Vieh mit eigenen Augen besichtigte, um sich die besondern Kennzeichen jedes Einzelnen gewissenhaft zu notiren! Ich werde mich sogleich erkundigen und, merke ich Unrath, die so Gezeichnete ohne Weiteres entfernen. Der malitiöse Bursche soll nicht allein und nicht immer truimphiren!«

Mit dieser Aufforderung hatte es folgende Bewandniß.

Als unsere Freunde das Sterbebett der alten Maja verließen, drangen sie tief in die Haide ein, um den Geburtsort von Haideröschens Tochter aufzusuchen. Es war dieser kein eigentliches Dorf, blos ein paar zerstreut stehende Häuser, wie man sie häufig in jenen endlosen Wäldern findet und mit dem prunkenden Namen eines Dorfes bezeichnet, bildeten es. Auf seinen Wanderungen hatte der Maulwurffänger auch diesen[301] versteckten Ort mehrmals betreten und wollte sich jetzt erinnern, daß ihm vor vielen Jahren ein sehr hübsches Mädchen um ein Almosen gebeten habe, an deren linken Schläfe er das erwähnte Muttermal bemerkt zu haben vorgab. Auch behauptete er zuversichtlich, die hübsche Bettlerin habe sich Maja Pisom genannt. Wie es nun häufig zu gehen pflegt, daß der Suchende wirklich zu finden glaubt, so meinte auch Pink-Heinrich, das Mädchen sei ihm gleich damals durch eine Ähnlichkeit aufgefallen, wozu er das Original lange in seinem Gedächtniß vergeblich gesucht habe, nun aber stehe dasselbe lebhaft vor seiner Seele und er wolle darauf einen körperlichen Eid ablegen, daß jene Maja dem verstorbenen Haideröschen in Haltung und Gesichtsbildung sehr ähnlich gewesen sei.

Alle Nachfragen blieben jedoch ohne Erfolg. Die gegenwärtigen Bewohner des Ortes waren zum Theil nicht einheimisch daselbst, sondern vor wenigen Jahren erst aus andern Haideorten hergezogen. Von jener Maja wußte Niemand etwas.

Unter diesen Umständen blieb den Suchenden nichts weiter übrig, als ein öffentlicher Aufruf[302] in den gelesensten Blättern. Dies sind für den Bauer und Landmann die Wochenblätter und amtlichen Anzeiger kleiner Städtchen, weshalb der Maulwurffänger nur diese als geeignet für den zu erreichenden Zweck vorschlug. Er selbst sorgte für zahlreiche Verbreitung derselben in allen Haidedörfern, indem er die Colporteure und Herumträger dieser Blättchen anwies, sie in den meisten Häusern unentgeltlich abzugeben. Man hatte den Drucker freigebig bezahlt und eine größere Auflage als gewöhnlich davon abziehen lassen. Wo Pink-Heinrich am ehesten die Gesuchte zu finden oder doch eine Spur von ihr entdecken zu können glaubte, da eilte er in seinem Rennschlitten von Sloboda begleitet überall selbst hin, vertheilte die Blätter und suchte die Aufmerksamkeit und Theilnahme des armen Volks zu erwecken. Von einem dieser Streifzüge zurückkehrend, begegnete er dem Grafen, dessen seltsame Liebhaberei, auf ungebahnten Pfaden so früh am Tage die Haide zu durchstreifen, ihm auch verdächtig vorkam.

Kaum war daher Adrians rascher Schlitten hinter den beschneiten Stämmen verschwunden, so ließ der Maulwurffänger halten.[303]

»Was runzelst Du die Stirn?« fragte ihn der Pferdelenkende Sloboda.

»Freund Jan, laß uns umkehren!« versetzte Pink-Heinrich. »Die Spazierfahrt des Herrn am Stein hat was zu bedeuten, ich wette! Er ist viel zu verweichlicht, als daß er um nichts und wieder nichts seine gesteppten Seidenmatratzen von sich würfe und bei solchem Frost mutterseelen allein in die tiefste Haide führe! Es hat das einen Grund und zwar einen gewichtigen! Komm also, Alter, laß uns seiner Fährte folgen und nachspüren, woher er kommt, wo er gewesen ist.«

Dies war eine leichte Aufgabe. Der gefrorene Schnee zeigte sehr deutlich die Geleise des Schlittens, so daß unsere beiden wackern Alten ohne Mühe bis vor die Thür der Köhlerschenke im Schutze des Raubhauses gelangten.

»Also hier hat der Herr Graf gefrühstückt?« sagte der Maulwurffänger lächelnd. »Das sieht ja beinahe aus wie ein Wink des Schicksals! Wie wäre es, Jan, wenn wir die Überreste des hochgräflichen Frühstücks kosteten? Ich verspüre meiner Six Hunger, und der Schornstein der verräucherten Bude dampft gar so einladend.«[304]

Sloboda hielt die Pferde an und alsbald saßen die Freunde in Jussuff's Schenkstube, tranken gemeinschaftlich ein Glas Branntwein und ließen sich frisches Schwarzbrod mit geräuchertem Speck vortrefflich schmecken. Während dieses Morgenimbisses vernahmen sie manchmal wie aus dem Walde hereinschallend ein heiseres Lachen, dem das Klirren zusammengestoßener Gläser folgte. Pink-Heinrich winkte dem Wenden heimlich und wandte sich an Jussuff.

»Bei Euch geht's wohl um?« fragte er, sich Feuer anschlagend. »Ich hab' immer gehört, beim Raubhause sollt' es nicht geheuer sein. Es ist viel Blut hier herum vergossen worden in alten Zeiten.«

»So lange ich hier schenke, ist mir nichts vorgekommen, alter Vater! Woher des Landes?«

»Aus dem Gefilde, mein Lieber! Aber ich bitt' Euch, steckt mir ein büchen' Spänl an, sonst muß ich pinken bis zu Lichtmeß. Der Schwamm hat angezogen in der kalten Luft.«

»Es hat wohl nicht viel Einkehr?« sagte Sloboda, während Jussuff einen lichterloh brennenden handbreiten Buchenspan dem Maulwurffänger[305] brachte, womit dieser in größter Seelenruh seine Maserpfeife anzündete.

»Je nun, gar stark geht's freilich nicht bei so hartem Frost. Ab und zu verlaufen sich doch ein paar Strolche im Walde, und die lassen dann 'was mehr aufgehen, als unsere gar zu genauen Köhler und Torfgräber.«

»Gelt, Ihr habt ein paar solche Goldfinken grade heut irgendwo eingesperrt, damit sie Euch nicht davon fliegen?«

»Pst!« erwiederte Jussuff erschrocken auf diese lächelnd gethane Frage des Maulwurffängers, denn er besorgte irgend ein Unglück, wenn diese beiden so würdig aussehenden Männer mit jenen verruchten wüsten Säufern zusammenkämen, über deren Verkehr mit seinem Gebieter er sich schon gewaltig den Kopf zerbrochen hatte. »Pst! Es sind ein paar Betrunkene, die mir Alles in Grund und Boden schlagen, wenn ich sie aus ihrer Klause herauslasse! Sie haben einiges Geld bei sich – Gott mag wissen, ob's ehrlich erworben ist! – und spielen's einander jetzt bei der Flasche ab. 's liegt mir weiß Gott nichts an solchem Besuch, aber Ihr wißt's ja, ein armer Schenkhalter muß halt die Groschen mitnehmen,[306] wo er sie findet! Ist die Zeit um, will der Pacht auch bezahlt sein, und da wird keine Rücksicht genommen auf einen verkrüppelten Mann!«

»Wem seid ihr denn unterthänig?«

»Dem reichen Herrn am Stein, eigentlich Herrn Adrian Grafen von Boberstein, aber er hat's nicht gern, wenn ihn ein armer Mann so nennt, daß es die Leute hören.«

»'s Ist ein Sonderling, hört man sagen, und das muß wohl auch sein, sonst würde er nicht sein zierliches Haus verlassen und in solch einer Hütte einen schlechten Schnaps trinken!«

Jussuff warf dem Maulwurffänger einen lauernden Blick zu, dieser ließ sich aber nicht im geringsten dadurch stören, sondern versetzte ganz gelassen: »Wir begegneten ihm eine halbe Stunde von hier. Er mußte es sehr eilig haben, denn er jagte verteufelt wild in den Wald hinein! Vermuthlich waren ihm die lustigen Säufer ein Greuel, die jetzt wieder anfangen, einen Höllenspektakel zu verführen. Da Ihr behauptet, sie wären streit- und zanksüchtig, und wir beiden Alten grade nicht von der herzhaftesten[307] Menschensorte sind, so wollen wir doch wieder aufbrechen. Was macht die Zeche?«

Froh, die unwillkommenen Gäste so bald los zu werden, forderte Jussuff eine sehr geringe Summe. Während Sloboda einen kleinen Lederbeutel zog und bezahlte, stieß der Maulwurffänger die Thür auf. In demselben Augenblicke prallte schief über eine zweite starke Bretterthür auf und taumelnd wankten unter Lachen und Fluchen die unheimlichen Gäste Jussuffs an ihm vorüber. Es war zu dunkel, um die Gesichtszüge der Trunkenen erkennen zu können, Pink-Heinrich erhaschte daher nur einen unklaren Schattenriß von ihnen, der indeß vollkommen genügte, ihm die Überzeugung beizubringen, daß diese unheimlich wüsten Menschen in irgend einer Verbindung mit Adrian stehen müßten, welche seinen Freunden verderblich werden solle.

»Duldet es Herr am Stein, daß Ihr solchen wüsten Gesellen Obdacht gebt?« fragte er Jussuff. Dieser stotterte und wußte nicht, was er antworten sollte.

»Da könnt' ich Euch schön in die Patsche bringen,« setzte Pink-Heinrich lachend hinzu, »wenn ich ein schlechter Kerl sein wollte. Ich[308] kenne Herrn am Stein; ging' ich nun zu ihm und verrieth es, daß Ihr arges Spitzbubengesindel beherbergt, so setzt' er Euch gewiß aus dem Pacht, denn 's ist ein gestrenger Herr, wenn er gereizt wird.«

»Still doch, still!« raunte ihm Jussuff vertraulich zu. »Er weiß es ja, daß die Schelme da saufen und fressen, aber er will nicht, daß die Schälke seinen Namen erfahren! Nun Ihr versteht mich doch, Alter? Reinen Mund, ich bitte!«

»Das ändert die Sache,« erwiederte munter lachend der Maulwurffänger. »Ich bin kein Spaßverderber, und große Herren, ich weiß, haben zuweilen auch ihre schwachen Stunden! Gott behüt' Euch und gute Einkehr!«

»Jetzt müssen wir auf unsrer Hut sein, Freund Jan,« sprach der Maulwurffänger sehr ernst zu seinem Begleiter, als der Schlitten wieder einsam unter den schneebehangenen Tannen fortglitt. Die beiden Kerle, deren Fratzen ich leider nicht gesehen habe, führen sicher nichts Gutes im Schilde, und ich will keinen Maulwurf mehr fangen, wenn Adrian sie nicht besoldet![309]

Sloboda theilte die Meinung seines Freundes, doch hielt er es für klug, sich zu stellen, als wisse man nichts. Deshalb schlug er auch vor, ihren Freunden diese zufällig gemachte Entdeckung vorläufig noch ganz zu verschweigen, damit, wenn Adrian wirklich etwas Unerlaubtes oder gar Verbrecherisches beabsichtigen sollte, die versuchte That laut gegen ihn zeuge und ihn unrettbar ins Verderben stürze. –

Sehr früh am Morgen dieses Tages, zum Theil auch schon am Abend zuvor war von den gewöhnlichen Colporteuren und Herumträgern das Wochenblatt mit dem Aufruf in vielen Ortschaften ausgegeben worden. Man kann annehmen, daß, sei's aus übertriebener Sparsamkeit, die namentlich für gedrucktes Papier nicht gern Geld ausgibt, sei's aus Mangel an klingender Münze, die meisten Ortschaften, selbst wenn sie stark bevölkert sind, sich mit drei bis vier Exemplaren eines derartigen Blattes begnügen. Obwohl jede einzelne Nummer mit höchstens sechs Pfennigen vom Herumträger gekauft wird, treten doch immer zwanzig und noch mehr Familien zusammen, um ein Exemplar gemeinschaftlich zu bezahlen, bei denen es dann Reih' umgeht[310] und oft erst nach mehreren Tagen in die Hände des Letzten fällt. Der jedesmalige Käufer hat allemal das Recht, es zuerst zu lesen. –

Auch in den Haidedörfern war diese Sitte, Geld zu sparen, allgemein verbreitet. Der Maulwurffänger, dem solche Kleinigkeiten, auf die so leicht Niemand achtet, niemals entgingen, und der in wohlhabenderen Ortschaften auch häufig über gräuliche Knauserei spottete, hatte dies wohl in Überlegung gezogen. Blieb man dem Herkommen treu, so konnten Tage vergehen, ohne daß irgend Jemand den Aufruf sah und las, denn leider hielt man zwar das Blättchen, sah aber nicht hinein! Es mußte daher das achtlose, stumpfsinnige Volk gleichsam mit Gewalt zu Ansicht des Wochenblattes gezwungen werden. Dies konnte nur durch unentgeltliche Vertheilung und durch besondern Hinweis auf etwas Beherzigenswerthes, das darin enthalten sei, geschehen, und darum ergriff unser Freund dies sicherste und kürzeste Mittel.

Während er die in der Nähe Bobersteins und des Zeiselhofes gelegenen Dörfer, Höfe und Vorwerke den Landboten überließ, durchstrich er selbst mit Sloboda die fern gelegenen Orte in[311] der Haide auf flüchtigem Schlitten. Sie hatten einen weiten Weg zu machen, so daß es schon dunkelte, als sie ermüdet und durchfroren dem Dorfe am See sich wieder näherten. Hier gedachten sie zu übernachten und am andern Morgen nach B. aufzubrechen, um dort in der Behausung des Maulwurffängers die Folgen des Aufrufes gelassen abzuwarten. –

Über den Schornsteinen der Fabrik lag eine breite Schicht schwarzen Rauches, als sie aus dem Hochwald in die niedrige Haide kamen, wo vor zwei und vierzig Jahren der furchtbare Brand gewüthet hatte. Die Lichter des Dorfes flimmerten trüb durch das hängende Gezweig, während über den leis schwankenden Wipfeln die breiten flammenden Fensterreihen der colossalen Fabrik gleich einem prachtvollen Feenschloß aufleuchteten. Der Luftzug wehte bisweilen das dumpfe Surren der tausend und aber tausend Räder herüber über See und Wald.

In unmiltelbarer Nähe des Dorfes bemerkten die Reisenden eine ungewöhnliche Bewegung unter den Einwohnern desselben. Truppweise eilten die Männer dem Hauptverbindungswege zu, nach welchem auch der Schlitten unserer[312] Freunde einbog, um den Kretscham zu erreichen, wo sie übernachten wollten. Nicht gar fern von diesem in einer schmalen Seitengasse, wenn man einen unebenen gewundenen Weg so nennen darf, lag Martell's Hütte und drei Häuser weiter die noch ärmlichere Wohnung des Spinners Simson, dessen Kind am Sylvesterabend aus Mangel an Nahrung gestorben war.

Nach dieser schmalen, jetzt spiegelglatten Gasse drängte sich ein Haufen durcheinander sprechender Menschen. Unsere Freunde besorgten, es möge sich abermals ein Unglück, vielleicht wohl gar ein Selbstmord zugetragen haben, und trieben ihr schnaubendes Pferd grade darauf zu. Die Einwohner des Dorfes waren übrigens so ungewöhnlich aufgeregt, daß sie bisher durchaus nicht auf den heranschellenden Schlitten geachtet hatten. An der Gasse angekommen fanden unsere Freunde dieselbe von Menschen verstopft. Sie mußten nothgedrungen halten und der Maulwurffänger stieg aus.

»Aber so sagt mir doch, Kinder,« rief er zutraulich ein paar junge Bursche an, die sich auf die Zehen hoben und mit langen Hälsen gaffend über die unruhig brausende Menge wogender[313] Köpfe hinwegschielten, »sagt mir doch, was zum Henker hier geschehen ist? Es hat sich doch Niemand ein Leides gethan? Etwa Martell –«

»Da ist er! Heda, Ihr dort vorn, der Maulwurffänger ist da!« – »Hurrah, Platz für Pink-Heinrich!« – »Macht eine Gasse, daß sie ungestoßen durchschreiten können, er selbst, der kluge Vater, und sein Freund, der wackere alte Wende!«

So ließen sich mehrere Stimmen vernehmen, und ehe noch der Maulwurffänger Zeit gewann, sich nach der Ursache dieses frohen Jubels zu erkundigen, sah er sich halb geschoben, halb getragen vor der weit offen stehenden Hausthür Simson's, aus der Menschen wie in einem schwärmenden Bienenkorbe aus- und eingingen.

Es brannten eine Menge dünner Pfenniglichter in der niedrigen Stube, die vom rauchenden Ofen kohlschwarz gefärbt und durch einen Webstuhl nebst Treibrad und dem übrigen unentbehrlichen Hausrath so verengt war, daß kaum sechs bis acht Menschen stehend bequem darin Platz hatten. Dennoch befanden sich mehr als[314] ein Dutzend Neugieriger in der ärmlichen Hütte. Man hatte außerdem noch die Stubenthür aus den Angeln gehoben, um auch den draußen Stehenden Gelegenheit zu geben, einen Blick in das Zimmer zu werfen. Frost und Kälte fühlte Niemand, achtete Keiner!

Ein wunderlicher Anblick bot sich unserm alten Freunde dar, als er unter dem sich häufig wiederholenden Triumphgeschrei: »Da ist der Maulwurffänger!« – »Der kluge Maulwurffänger kommt!« – »Platz dem Vater der Armen!« usw. in die von Menschen überfüllte Stube fast gewaltsam gedrängt ward.

Auf dem fichtenen Tische, der vor Zeiten mit blauen und rothen Blumen bemalt gewesen war, wie sie in der Phantasie des Dorfschreiners erblühten, saß auf niedrigem Treibebänkchen Simsons Frau, vor Frost, Angst, Bestürzung und Erwartung zitternd. Sie war sehr bleich und elend anzusehen in der dürftigen schwarzen Trauerkleidung, die sie seit dem Tode ihres Mädchens trug. Neugierig lauschend und beide Händchen fest an die Platte des Tisches geklammert, sah ihr zweites Kind, ein neunjähriges Mädchen, mit klarem Kinderauge zu der betrübten[315] Mutter auf, die, den Kopf nach vorn und zur rechten Seite gesenkt, es ruhig geschehen ließ, daß von den neuen Ankömmlingen Jeder den purpurnen Stern an ihrer linken Schläfe genau betrachtete. Simson und einige andere Männer hielten die Lichter bei dieser wunderlichen Beschauung.

Ehe man noch sprach, wußte der Maulwurffänger bereits, daß sein Aufruf gefruchtet hatte, daß die Gesuchte gefunden sei und hier in der abgehärmten Gestalt Maja Simson's vor ihm sitze!

Man kann sich denken, welcher Schwall von Fragen sich über ihn ergoß! Für solche Scenen aber war Pink-Heinrich der rechte Mann. Er antwortete nicht eine Sylbe, bis er durch wiederholtes Winken die größte Ruhe erzwungen hatte.

»Ich bitt' Euch, Freunde, schweigt, bis Ihr mich gehört habt,« sagte er nunmehr, und grüßte dankend durch Abnehmen seiner Pelzmütze die Anwesenden. »Zuvor aber, Maja Simson erlaubt, daß auch ich Euch beunruhige. Ihr wißt ja, daß Jäger und Maulwurffänger die Fährte genau kennen müssen, ehe sie auf Glück[316] hoffen dürfen! – Danke, danke, es ist gut! Ihr seid's, die ich suche, wenn Maja Pisom Euer Geschlechtsname und der 13. Februar 1791 Euer Geburtstag ist!«

Statt aller Antwort reichte Simson unserm Freunde die Pathenbriefe, die nach uralter Sitte auch noch heutigen Tages dem Täuflinge von den Pathen geschenkt werden. Geburts- und Tauftag sind regelmäßig in denselben verzeichnet.

Zufrieden mit dem Kopfe nickend und verschmitzt zu der schweigenden Maja aufblickend, gab er die Briefe zurück und sagte:

»Ihr könnt jetzt immer wieder heruntersteigen vom Tische, liebe Frau Simson. Das Komödjespielen, scheint mir, ist Euch nicht angeboren, und da wir nunmehr bestimmt wissen, wer und was Ihr seid, so braucht's weiter keiner Rede mehr und noch weniger unnützen Alarms. Zu seiner Zeit, und ich denke, das soll nicht gar lange dauern, erfährt's jeder Christenmensch in und außer der Haide, was heut Abend hier vorgegangen ist.«

»Aber so redet doch, Pink-Heinrich!« drängte Simson, der gleich den Übrigen in größter Spannung dastand.[317]

»Geschwind, nur herein!« hörte man zugleich von außen die tönende Stimme Sloboda's, der nur eine Secunde lang die trauernde stille Gestalt auf dem Tische betrachtet und sich dann sogleich wieder entfernt hatte. An seiner Hand trat jetzt der düster blickende gigantische Martell ein.

»Was soll ich hier?« fragte dieser mürrisch und kreuzte die Arme über seine Brust.

Da hob der Maulwurffänger Maja Simson vom Tische, führte sie dem finstern Spinner zu und legte sie ihm mit den Worten in die Arme:

»Du sollst Deine Schwester umarmen, die Tochter der Tochter Deines Großvaters!«

Martell zuckte zusammen, doch fing er die erschütterte, weinende Schwester, mit der er hundertmal die letzte Rinde verschimmelten Brodes getheilt, deren verzweifelnden Mann er so oft getröstet hatte, auch wenn er selbst untröstlich war, in seine Arme auf. Secundenlang ruhten seine düster funkelnden Blicke auf der trauernden armen Weberin, dann küßte er die Leidende sanft auf die Stirn und das blitzende Auge wild zum[318] Himmel aufschlagend, stammelte er in heftiger Bewegung:

»Gott Lob, Gott Lob, so ist noch mehr Grund zur Rache vorhanden!«

Alle Umstehenden schwiegen ehrfurchtsvoll. Das Schicksal und in seinem Gefolge die zürnende Nemesis war in zu ernster Gestalt unter diese einfachen Menschen getreten. –

Quelle:
Ernst Willkomm: Weisse Sclaven oder die Leiden des Volkes. Theile 1–5, Leipzig 1845, S. 298-319.
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