Viertes Kapitel.
Der Besuch.

[303] Als Herta den Brief erbrach, gewahrte sie mit Verwunderung, daß sich der Verfasser desselben nicht genannt hatte. Mit gesteigerter Neugier durchflog sie das Schreiben, dessen geheimnißvoller, auf eine schreckenreiche Vergangenheit hindeutender Inhalt ihre Unruhe und Aufregung noch mehr steigerte. Der Brief lautete:


»Ein Ihnen völlig unbekannter Mann, verehrtes gnädiges Fräulein, bittet um die Vergünstigung, Sie am Tage nach Empfang dieser Zeilen besuchen zu dürfen. Die Umstände und sein eigenthümliches Verhältniß zu den Besitzern des Schlosses Boberstein nöthigen ihn, diesen Besuch einen durchaus geheimen sein zu lassen.[304] Aus diesem Grunde wird Schreiber dieses erst mit Einbruch der Nacht bei Ihnen erscheinen und zwar auf einem Wege, der Sie vielleicht mit schauderndem Entsetzen erfüllt. Kein Mensch im Schlosse außer Ihnen und, wenn Sie es wünschen, Ihre vertraute Dienerin, darf von dem nächtlichen Wanderer Kunde erhalten. Ihre Zukunft, Ihre Ruhe, Ihre Sicherheit, ja Ihr Leben hängt von Genehmigung dieser Bedingungen ab. Alles Unrecht, das man Ihnen zugefügt hat, wird durch denselben bis zu einem gewissen Grade ausgeglichen werden. – Wappnen Sie sich also mit Muth und Entschlossenheit und vertrauen Sie einem Manne vollkommen, der Ihrem zeitlichen Wohlergehen sein ewiges Heil zu opfern gern und stündlich bereit ist. Leben Sie wohl und ruhig, bis die verschwiegene Stunde der Nacht uns zusammenführt.«


Die Bestürzung Herta's über diesen Brief war groß und bei dem Mißtrauen gegen Jedermann, das ihr durch Magnus' unverzeihliches Betragen eingeflößt worden, hatte sie wenig Neigung, den Unbekannten zu empfangen. Bei ruhiger Überlegung jedoch und bei wiederholter[305] aufmerksamer Durchlesung des Schreibens mußte sie die gute, wohlwollende Absicht des Verfassers erkennen. Überdies gestattete er ja das Zugegensein einer Zofe, was ihre Sicherheit um Vieles steigerte, und so beschloß Herta, unverbrüchlich zu schweigen und das angekündigte Abenteuer abzuwarten.

Emma, die ihrer Gebieterin mit unbegrenzter Liebe ergeben war, wurde erst am nächsten Abend in das Geheimniß gezogen, worauf beide Mädchen in ungewöhnlicher Schweigsamkeit die Erscheinung des Unbekannten in Herta's Zimmer erwarteten.

Die Nacht war ruhig, der Himmel leicht bewölkt. Das melancholische Rauschen der Haide drang herauf bis in das erstorbene alte Schloß. In langen Pausen schlug die schrillende Schelle die zehnte Stunde. Gespannter und immer ängstlicher werdend, harrten die Mädchen des Unbekannten. Eng verschlungen saßen sie lautlos auf der dunkelsammtenen Ottomane. Da knackte es in Herta's Schlafzimmer, als ob eine scharfe Feder einschnappe. Die Mädchen sahen einander an, sie hörten den beflügelten Schlag ihrer Herzen.[306] Gleich darauf klopfte es vernehmlich an die innere Kammerthür.

»O Gott!« flüsterte Herta und schlang beide Arme fest um den Nacken Emma's, ihr bleiches Antlitz in neugierigem Entsetzen starren Auges halb abgewandt auf die Thür richtend. »Emma, es ist der Graf, es ist Magnus! Niemand als er kennt diesen fürchterlichen Weg!«

Indem wiederholte sich das Klopfen um ein weniges lauter und da auch darauf von Seiten der erschrockenen Mädchen kein »Herein« erfolgte, ward die Thür behutsam geöffnet und ein stattlicher Mann in voller Lebensgröße erschien auf der Schwelle.

Regungslos betrachteten die scheuen Mädchen, ihre furchtsame Stellung beibehaltend, den Fremdling. Dieser blieb ebenfalls ruhig stehen, ließ sein scharfes Auge über beide in schwarze Trauerkleider gehüllte Gestalten gleiten und sagte dann mit wohltönender, kräftiger Männerstimme: »Guten Abend, liebe Kinder!«

Es lag so viel Zutrauliches, Weiches und Väterliches im Ausdruck der Stimme dieses Mannes, daß die Mädchen nach diesem Gruße froh aufathmeten und aufstehend sich gegen den[307] Fremden höflich, aber noch immer schweigend, verneigten. Dieser trat jetzt in's Zimmer und ein voller Strahl des Lichtes fiel auf ihn. Es war ein starker, großer, sehniger Mann mit interessanten Zügen, welche der sorgfältig gepflegte, sehr dichte und lange Schnurrbart noch ausdrucksvoller machte. Sein ergrauendes Haupthaar zeigte, daß er die Höhe des Lebens bereits überschritten hatte, es müßten denn Kummer, Gram und tiefe Seelenleiden ihn vor der Zeit gealtert haben. Der Fremde trug die gewöhnliche Kleidung eines Försters und war, wie ein solcher, mit schönem Hirschfänger bewaffnet.

»Empfangen Sie zuvörderst,« hob er mit zitternder Stimme an, »meinen aufrichtigen, herzinnigen Dank für das Vertrauen, welches Sie mir durch Ihre Gegenwart schenken, verehrtes Fräulein!« – Dabei richtete er seine Worte entschieden an Herta, als kenne er sie schon längst. – »Ja,« fuhr er fort, »ich täusche mich nicht. Sie sind Herta, die arme, schöne, fromme Tochter der nicht minder armen Schwester Grafen Erasmus von Boberstein! Ist es mir doch, als wäre sie, die längst Dahingeschiedene, wieder zurückgekehrt in's Leben und sähe mich mit ihren[308] dunklen Wunderaugen erstaunt an über die Veränderung, die mit mir vorgegangen! Denn nur sie, die Verewigte, und ihre einzige, ihr in allen Tugenden und Eigenschaften so ganz gleiche Tochter, besitzen diesen Zauber des Blickes, dies seelentiefe, herzdurchforschende Engelsauge! – Gestatten Sie, Tochter Eugeniens von Boberstein, daß der einzige Freund Ihrer Mutter die Hand küßt, die seit zwanzig Jahren nicht mehr in der seinigen geruht hat!«

Damit ergriff der Fremde Herta's schlanke feine Hand und führte die bebenden Finger an seine Lippen.

»Gütiger Himmel,« stammelte das erstaunte Mädchen, »Sie haben meine Mutter gekannt, räthselhafter Mann! Wer sind Sie? Was haben Sie mir zu eröffnen, daß Sie auf so ungewöhnliche versteckte Weise zu mir dringen?«

Mit schmerzlichem Lächeln ruhte das glühende Auge des Fremden auf Herta. Seine wetterbraunen Züge wurden weich und sanft und seine Stimme zitterte, als er antwortete:

»Sie dürfen und müssen so fragen, theures Mädchen, und ich bin gekommen, Ihnen Rede zu stehen, Sie zu Fragen und Forschungen aufzumuntern.[309] – Haben Sie von Ihren Pflegeältern nie eines Mannes erwähnen hören, den man Johannes nannte?«

»Nie!« betheuerte Herta kopfschüttelnd.

»Nie!« wiederholte der Fremde und seufzte. »Also so ganz hatte man ihn vergessen, oder so geflissentlich schwieg man von ihm, daß nicht einmal in Beisein seines – – Doch bevor ich fortfahre,« unterbrach er sich selbst, »bitte ich inständigst: lassen Sie Ihre Gefährtin in ein Nebenzimmer treten! Ich weiß nicht, ob Sie selbst es billigen würden, wenn ich Ihnen vor Zeugen meine Geheimnisse mittheilte.«

Der gerührte, väterliche Blick des Fremden und sein ergrauendes Haar machten, daß Herta diese Bitte gewährte. »Verlaß uns, Emma,« sagte sie, »und gib Acht, daß wir nicht gestört werden.«

Die Zofe entfernte sich. Lebhafter wendete sich Herta zu dem Fremden, ergriff mit beiden Händen seine Rechte und sagte innig: »Nun, edler Mann, nun reden Sie! Wer war jener Johannes?«

»Ein armer, ein unglücklicher Mann!« erwiederte der Fremde. »Vor mehr als zwanzig Jahren[310] glaubte dieser Johannes unter die glücklichsten Sterblichen zu gehören. Er war jung, hübsch, aufgeweckten, lebhaften Geistes, empfänglich für alles Schöne, ein Liebling und Verehrer Ihres Geschlechtes. Wo Heiterkeit und Frohsinn scherzten, da war er gern gesehen; wo Anmuth und Liebe duftende Blüthenkränze wanden, da versäumte er nie zu erscheinen, um ein feuriges Lied ertönen zu lassen. Johannes war kein Pedant, obwohl er sich von Geburt an als Hofmeister auf Edelhöfen seinen Unterhalt erwerben mußte. Geübt in jeder Kunst, gewandt in ritterlichem Spiel, ein eben so geschickter Fechter, Tänzer und Reiter, als ein scharfsinniger und sieghafter Kämpfer im Wortgefechte, errang er sich manchen schönen Preis, um den vornehme, reiche Grafen ihn beneideten. Er siegte auf der Rennbahn und im Gesellschaftszimmer. Frauen und Mädchen ehrten ihn mit ihrem Vertrauen, ihrer Gunst!«

»Aber Johannes war kein leichtfertiger, gewissenloser Mann. Er unterschied streng holdes Spiel von gewichtigem Ernst. Er reizte nicht, wo er zu verlocken glauben konnte. Anstand und Sitte waren die beiden Genien, denen er auch im Rausch lebenstrunkener Stunden nie entsagte.[311] So begünstigt, so von Glück und Liebe vereint in blendende Lebenskreise emporgehoben, kam Johannes in diese Burg. Graf Erasmus wünschte einen Hofmeister für seinen wilden Knaben Magnus, einen Mann, der Strenge mit Milde, der französischen Weltton mit deutschem Ernst, deutscher Gründlichkeit anmuthig zu verknüpfen wisse. Solcher Aufgabe war Johannes vollkommen gewachsen. Er kam nach Boberstein und nie schien Graf Erasmus mit der Wahl eines Erziehers zufriedener gewesen zu sein. Magnus ward ihm übergeben und gewöhnte sich bald an die Vorschriften seines Lehrers, der bei vorkommender Widerspänstigkeit unerbittlich streng sein konnte.«

»Johannes hatte im Spätherbst seine ehrenvolle und verantwortungsreiche Stellung angetreten, und binnen einigen Monaten die wilden Auswüchse an den Launen und Einfällen seines Zöglings mit Glück verschnitten. Da kam die junge, schöne Schwester des Grafen Erasmus aus der Residenz, wo sie den Winter in der großen Welt gelebt hatte, zurück auf ihres Bruders alte Haideburg. Eugenie war ein bezauberndes Wesen. Ihre Mutter, theure Herta, läßt sich nur mit der Tochter vergleichen.«[312]

»Meine arme Mutter! Ich kannte sie nie, ich konnte sie nur im kalten, todten Bilde lieben und küssen!«

»Beklagen Sie Ihre Mutter nicht, edles Fräulein, Eugenie war glücklich, und als das Unglück über sie herein brach, nahm der erlösende Tod sie sanft in seine Vaterarme.«

Herta stürzten die Thränen in die Augen, während der Fremde ruhig fortfuhr:

»Johannes und Eugenie sahen einander, lernten sich kennen und liebten sich. – Es gibt Wesen, die beim ersten Zusammentreffen sich in der Tiefe ihres erbebenden Herzens gestehen müssen, daß sie von Ewigkeit her für einander bestimmt sind. Ein paar solche ursprüngliche Naturen waren Johannes und Gräfin Eugenie. Ein Strahl aus ihren Augen reichte hin, in Beide den heiligen Gluthstrom der Liebe zu gießen, der in den Pulsadern der Welt schlägt und das Reich der Geister beherrscht. Über der Ursprünglichkeit ihrer reinen Neigung, über der geistig schönen Tiefe ihrer Leidenschaft und der sittlichen Höhe ihres Standpunktes vergaßen sie, daß es bevorzugte und verachtete Kasten gab; wollten sie nichts wissen von einem Unterschiede zwischen[313] gräflichem und bürgerlichem Blut. Eugenie liebte den reinen, tiefen, edlen Menschen in Johannes, und dieser fühlte an Eugeniens Busen nur das Herz eines Mädchens schlagen, das von Lüge und Verstellung nichts wußte.«

Vor dieser Gluthfülle ihrer Neigung sah Johannes alle Hindernisse stürzen, ja er dachte nicht einmal daran, daß es deren überhaupt geben könne. Er wollte Eugenie besitzen, bald besitzen und hielt um dieselbe an bei – ihrem Bruder! – Graf Erasmus lachte dem Hofmeister in's Gesicht und nannte ihn einen Narren. Er glaubte anfangs wirklich, Johannes erlaube sich in übermüthiger Stimmung einen Scherz. Als er aber sah, daß der Hofmeister im glühendsten Redestrome nur seinem überschäumenden Glück Worte gegeben und als er von Eugeniens blühenden Lippen die Bestätigung vernommen, da trat er stolz an Johannes heran, maß den jungen Mann von Kopf zu Fuß und sagte verächtlich: »Der Wein von meinem Tisch ist Ihm zu Gesicht gestiegen. Trinke Er künftighin wieder Wasser, wie sich's gehört, und esse Er mit meinen Bedienten, damit Er Mores lernt! Und jetzt packe er sich und verlaufe sich die verrückten[314] Gedanken auf einem Spatziergange durch die Haide! – Darauf kehrte er dem Hofmeister den Rücken, nahm die Hand der Schwester und zog sie in's Nebenzimmer, das er hinter sich verriegelte.«

»Johannes blieb wie vom Schlage getroffen stehen. Er glaubte, ein wirrer Traum habe sich festgesetzt in seiner Seele. Er konnte lange Zeit weder Sprache noch gesundes Gefühl wieder erhalten. Als er endlich des ganzen entsetzlichen Unglücks sich bewußt ward, schüttelte ein förmliches Wuthfieber geraume Zeit seinen sehnigen Körper. Damit fand er sich selbst und seine Thatkraft wieder. Er schrieb in den gemäßigsten Ausdrücken an den Grafen. Der Brief kam uneröffnet zurück, mit ihm eine Rolle Gold als Reisegeld, begleitet von dem mündlichen Befehl des Grafen an den Überbringer, binnen zwei Tagen das Schloß zu verlassen. – Johannes tobte aufs Neue, er suchte die Diener zu bestechen, um mit Eugenie sprechen zu können, aber alle seine Bemühungen scheiterten an dem hündischen Gehorsam dieser Leibeigenen.«

»Verzweiflung im Herzen ward Johannes am dritten Tage nach der Unterredung mit Erasmus[315] gewaltsam aus dem Schlosse gebracht! Als er um die letzte Felsenecke bog, die unter den Fenstern dieses Zimmers steil abfällt, glitt ein Stück Schiefer daran nieder mitten auf den Fußsteig. Etwas Weißes schimmerte darunter, was ihn aufmerksam machte. Er hob den Schiefer auf und fand daran gebunden zwei Schlüssel mit einem Zettel, der in wenigen Worten die Weisung enthielt, daß er in finstern Nächten vermittelst dieser Schlüssel unbemerkt zu Eugenien gelangen könne, wenn er am südlichen Thurme den Felsengang erklimme und über den Balkon, wo er ihr Unterricht in der Sternkunde ertheilt habe, nach der dritten Luckenthür schreite, die er stets offen finden werde! – Johannes kannte diesen Pfad, wie die heimlichen Gänge des Schlosses und ruderte, den Busen von neuen Hoffnungsträumen geschwellt, wohlgemuth über den See.«

»Schon die dritte Nacht sah den kühnen Mann die finstern Steige hinauf, die ächzenden Treppen, die feuchten gespenstischen Gänge treppauf treppab an den jauchzenden Mund der Geliebten fliegen, – und von Stund' an begann für die grausam Geschiedenen beim Lallen des[316] See's, das wie Gebet flehender Engel zu ihnen herauf erklang, ein stilles hohes Liebesleben, das häufig erst mit dem Rufe des Morgenhahnes endigte, wenn auf Fels und See und Haide das Perlennetz des Frühthaus blitzend niedersank.«

»Über fünf Monate dauerte dieses hohe Liebesglück, um so zauberischer und reicher an Genuß, als es mit Gefahr und mannichfachen Entbehrungen verknüpft war. Johannes hatte nichts unterlassen, um Eugenien eine heitere Zukunft zu sichern. Diese war bereit, dem Geliebten zu folgen, und ein kleines, stilles, dauerndes Glück einem von Glanz und Goldschmuck schimmernden Elend von vielleicht langer Dauer vorzuziehen. Der Tag oder vielmehr die Nacht zur Flucht ward festgesetzt, und als am Vorabend derselben Johannes von ihr schied, gestand ihm Eugenie mit seligem Lächeln, daß ihre Einsamkeit nur kurz sein werde. Ein langer Kuß belohnte dies süße Geständniß.«

»Zum ersten Male seit seiner Verbannung aus dem Schlosse hatte sich Johannes bis zur Morgendämmerung aufgehalten. Ein ungewöhnlich starker Thau war gefallen, der in Millionen zarten Perlen auf Gräsern, Stegen und Steinen[317] lag. Ein Knecht des Grafen, diesem vorzugsweise ergeben, entdeckte die Fußspuren des nächtlichen Gastes und zeigte sie seinem Gebieter. Erasmus verfolgte sie und fand einen Verdacht, den er zuweilen still gehegt, doch nie zu äußern gewagt hatte, bestätigt. Er befahl dem Knechte unverbrüchliches Stillschweigen und traf heimlich seine Anstalten.«

»Voll froher Erwartungen, sich dem Ziele so nahe zu sehen, ersteigt Johannes um Mitternacht auf bekanntem Felsenpfade das Schloß. Niemand sieht, Niemand stört ihn. Er erreicht die Zinne, die innern finstern Gänge. Bis dicht an das Gemach der Geliebten dringt er vor, da fällt plötzlich verrätherisch blendendes Licht auf ihn und auf beiden Seiten in engen Nischen, die er nie gewahrt hatte, zeigen sich Bewaffnete, Erasmus an ihrer Spitze. – Zwar wehrte sich Johannes, allein Augenblicke reichten hin, ihn zu überwältigen. Während der schadenfroh lachende Graf den Überrumpelten mit Schimpf- und Schmähworten überhäufte, erschien die entsetzte Gestalt Eugeniens in Reisekleidung. Die Liebe siegte über Schreck und Schaam. Sie warf sich über Johannes mit aller Gluth und Seelenwärme[318] eines Herzens, dem man sein Theuerstes rauben, das man vielleicht entehren und tödten will. Ihr grausamer Bruder ließ die reizende Gestalt durch die Knechte den umschlingenden Armen des Geliebten entreißen. Selbst ihr lauter Verzweiflungsruf: Ich bin sein Weib! Vor Gott gehöre ich ihm an! konnte den blind Wüthenden nicht erweichen. Sie wurden getrennt, Eugenie, um in ihre Zimmer zurückgebracht zu werden, Johannes, um am nächsten Morgen, wie ihm Erasmus ankündigte, seine Strafe zu empfangen.«

»Dieser Morgen kam. Johannes ward gebunden in die Schloßhalle geführt. Dort waren bereits der Graf und seine ganze Dienerschaft nebst zahlreichen Knechten versammelt. Eugenie wurde mit Gewalt auf die Gallerie geschleppt und dort festgehalten. Hierauf verurtheilte Erasmus den ehemaligen Hofmeister seines Sohnes zu der für einen Freien entehrenden Strafe des Blockes, die er sogleich erlitt. Während derselben ward Eugenie als todt fortgetragen. Nachdem Johannes in ohnmächtiger Wuth diese Strafe überstanden hatte, befahl der Graf –«[319]

»Sie stocken? O ich bitte Sie,« rief Herta, »beendigen Sie diese fürchterliche Geschichte!«

»Verzeihen Sie meine Schwäche,« nahm der Fremde nach kurzer Pause abermals das Wort. »Es gibt Erlebnisse, die schon in der Erinnerung auf einen Mann wie tödtendes Gift wirken. – Nun,« sagte er, »der Graf befahl, den Geliebten seiner Schwester draußen im Schloßhofe an den Pfahl zu binden, der für die Leibeigenen als Pranger dient, ihm den Rücken zu entblößen und für seine Frevelthat mit Ruthen zu hauen. Er nannte das, den Lohn für die im Dienste seines Hauses geopferten Nächte auszahlen!«

Dem Fremden versagte die Sprache. Er hatte diese letzten Eröffnungen kaum verständlich geflüstert.

»Und Graf Erasmus,« fiel Herta ein, »nicht wahr, er ließ es bei der schrecklichen Drohung bewenden?«

»Nein,« versetzte mit eisiger Kälte und furchtbarem Aufflammen seiner tief liegenden Augen der Fremde, er sah der Vollziehung der grausamen Strafe mit Wohlgefallen zu! Als der Unglückliche sie überstanden hatte, ohne vor Schaam[320] zu sterben oder vor Wuth den Verstand zu verlieren, sagte er zu Johannes: »Jetzt hab' ich Ihn ganz in Gold fassen lassen. Er kann nun gehen, wohin Er will, und von der Münze des Grafen Boberstein leben oder damit Handel treiben. Jagt den Schurken hinaus, und wenn er sich noch einmal im Bereich meines Schlosses blicken läßt, so erhält er dieselbe Belohnung wie heut!«

Johannes ward losgebunden. Mit todtenbleichem Gesicht und fast brechendem Auge kehrte er sich zu seinem Henker und sprach:

»Ich werde Ihr Gold auf Zinsen legen, Herr Graf, und Ihre Güter damit aufkaufen!«

»Am Ufer des See's in der Haide setzte man den todtwunden Mann nieder. Mühselig schleppte er sich fort bis in eine Köhlerhütte. Dort fand er Hilfe und den Trost guter Menschen, denn sie waren arm und hatten noch ein Herz. Acht Tage raste Johannes im Fieber. Als er wieder zur Besinnung kam und langsam genas, war sein pechschwarzes Haupthaar grau geworden. Kummer und Schande hatten einen Greis aus ihm gemacht. Aber die Rache erhielt ihn jung, stärkte seine Muskeln, stählte seine[321] Nerven wieder und ließ ihn der Geliebten gedenken –«

»Es vergingen Wochen, ehe Johannes von Eugenien hörte. Das arme Mädchen hatte die gewaltige Seelenerschütterung überstanden. Sie war gesund geblieben, vielleicht nur, weil sie ein Pfand der Liebe mit ihrem Herzblut nährte. Erasmus ließ die Unglückliche in ein entferntes Haidedorf schaffen. Dort entdeckten sie Johannes' Pfleger, die Köhler, und brachten ihm Nachricht. Er sah sie wieder, als sie eben eines zarten Mädchens, ihres schönsten Ebenbildes, genesen war. Sie nannte das Kind Herta und starb am Tauftage desselben. Von neuem Schmerz ergriffen rannte Johannes in den dichtesten Wald. Als er zurückkam, war Herta verschwunden. Er sah sie nie wieder, obwohl er ahnen konnte, daß Graf Erasmus die Neugeborene entführt haben würde –«

Herta drückte schluchzend ihr Gesicht in die Sammetkissen der Ottomane. Der Fremdling betrachtete mitleidig die Weinende. Als sie ruhiger ward, rief er sie bei Namen; sie richtete sich wieder auf und sah ihn groß und theilnehmend mit ihren glänzenden Rehaugen an.[322]

»Johannes begrub Eugenien,« fuhr er fort, »und nichts blieb ihm übrig von der Unvergeßlichen, als ihr Bild, das sie ihm in der ersten glücklichen Nacht geschenkt hatte.«

»Mein armer, armer unglücklicher Vater!« rief Herta. »O sagen Sie, bester Mann, sagen Sie, wenn Sie's wissen: welch Schicksal ist ihm gefallen nach so viel Schmerz und Erdenjammer?«

»Er verscholl in dem Andenken der Menschen,« sagte der Fremde mit feierlichem Ernst, »und hat dem Grafen Wort gehalten!«

Wieder blickte das Mädchen verwundert zu ihm auf. »Er hielt Wort!« wiederholte sie. »Und kennen Sie ihn? Hat er Sie gekannt?«

»In seinem Namen bin ich hier.«

»Gott, Gott, mein Vater lebt!« rief Herta und erhob mit entzücktem Blick die Hände zum Himmel.

»Durch mich läßt er seine Tochter grüßen,« fuhr der Fremde fort, immer feierlicher sprechend, »und ihr sagen, daß die Stunde gekommen sei, wo der Schutzengel von dem Hause der Grafen Boberstein weichen, wo die Rache für die Härte des Grafen Erasmus und für die noch schmählichere[323] Schandthat seines Sohnes beginnen werde.«

»Himmlischer Vater, Sie wissen!« stammelte Herta.

»Ich weiß Alles, Herta, aber ich zürne Dir nicht, noch verdamme ich Dich. Ich komme nur, um Dich zu retten!«

»Und wer sind Sie?« fragte ahnungsvoll das zitternde Mädchen.

Der Fremde griff in seinen Busen und hielt ihr das Bild Eugeniens entgegen.

»Meine Mutter!« lallte sie sanft und durch Thränen lächelnd, indem sie die zarten Hände nach dem theuren Medaillon ausstreckte. »Mein Vater schickt es mir, daß ich Ihnen vertrauen soll! – O, wie gut, wie lieb –«

»Herta!« rief mit von Thränen unterdrückter Stimme der Fremde und breitete seine Arme gegen sie aus, »Herta, ich bin Dein Vater, bin der unglückliche Johannes!«

Von dem lauteren Gespräch geängstigt, trat jetzt Emma in's Zimmer. Sie fand Herta in den Armen des Fremden, an seinem Halse, seinen Lippen hangend. Sie trat näher zu der Gruppe[324] und berührte mit leisem Finger die Schulter ihrer Gebieterin.

»Es regt sich im Schloß,« flüsterte sie ängstlich. »Irgend ein Diener muß noch wach sein.«

»Ich danke Dir, gutes Mädchen, für Deine Warnung,« versetzte Johannes eben so leise, noch immer seinen nervigen Arm um die wiedergefundene Tochter schlingend. »Begleite mich,« fuhr er dann fort, »denn nicht lange mehr wirst Du hier geborgen sein! Die Leibeigenen haben sich erhoben und vielleicht schon in wenigen Stunden beginnt ihr Rachewerk. Von ihnen erfuhr ich Dein Schicksal und beschloß, Dich zu retten, Dir Deinen Vater wieder zu geben. – Du zitterst? Herta, Du schwankst? Solltest Du Magnus –«

»O still, still! Ich hasse, ich verachte ihn!«

»Er wird Dich zur Gemahlin begehren!«

Herta nickte matt mit dem müden Haupt.

»Er fällt von meiner Hand, wenn er es wagt, nochmals um Dich zu werben!«

»Er thut es nicht mehr,« sagte Herta sanft.

»Du darfst ihn nicht sehen, nicht mehr sprechen. Komm! Es ist die höchste Zeit. Schon naht die Mitternachtsstunde!«

Leise entwand sich Herta den Armen ihres[325] Vaters. »Laß mich hier,« bat sie mit dem rührenden, alle Herzen bewältigenden Ton ihrer Silberstimme. »Erasmus, mein Onkel, der so hart an Dir gehandelt und der mich dafür so innig geliebt hat und über mein Unglück gestorben ist, Erasmus ist noch nicht bestattet. Laß mich an seinem Sarge für ihn und für uns Alle beten, dann komme wieder und fordere mich von Utta.«

»Es geht nicht,« sagte Johannes mit steigender Unruhe. »Ich kann nicht wieder kommen. Wer weiß – –«

»Wo wohnst Du?« fragte kindlich fromm die Tochter, dem Vater die starken grauen Haare aus der finstern Stirn streichend.

»Tief, tief in der Haide!«

»Nun, so komme ich selbst zu Dir. Die Haide liebe ich; ich bin bekannt bei Köhlern und Bauern. Ich frage mich durch sie hindurch bis zu Dir!«

»Aber Herta!«

»Vater, es muß so sein. Mein Herz gebietet es und das wirst Du nicht kränken wollen.«

»Nun so bleib,« erwiederte Johannes entschlossen. »Aber hab' Acht! Sollte sich etwas[326] Außerordentliches ereignen, dann halte Dich bereit! Flüchte durch diesen Gang, der uns Allen verhängnißvoll war, bis an das Ufer des See's und Dein Vater wird Dich erretten! – Jetzt, gute Nacht, liebe, holde, süße Tochter!«

»Gute Nacht, mein armer Vater!« hauchte Herta, umschlang nochmals den starken Mann und ließ erst von ihm, als er mit einem Fuße auf der Schwelle des geheimen Ganges stand. Als die Thür zufiel, sank sie Emma still weinend in die Arme.

Quelle:
Ernst Willkomm: Weisse Sclaven oder die Leiden des Volkes. Theile 1–5, Leipzig 1845, S. 303-327.
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