Veränderte Scene.

[171] Das Innere des Seufzerthurms.


FAUST. Gräßliches Schicksal! Himmel, rächst Du so eine That, zu der der Sturmdrang der Natur den Jüngling peitschte? Hölle, strafst Du so Deine Freuden? In schauerliche kalte Modergruft begraben, ein Lebendiger! Auf faulem Stroh, in Banden und Ketten, nimmermehr beschienen von der Sonne mildem Strahl! Dicht unter mir die eiskalten Wellen rauschend, todeskalt an's Herz mir steigend! Neben mir in trauter Gemeinschaft, mein Lager theilend, Molch und Wurm[171] und Kröte! Fluch Dir, Himmel, Fluch, Hölle, auch Dir! Ist das Leben? Natur, abscheuliches, listiges Ungeheuer, Du stiehlst mir mein Leben in jeglicher Minute. Finsterniß gähnt mir entgegen. Kein Wesen ruckt und regt sich in diesen Schaudernächten, als der gräßliche Wahnsinn, der aus dem fürchterlichen Chaos geboren wird!

FERNE STIMME. Faust, Faust!

FAUST. Himmel, diese Stimme, es ist Fiordiligi's!

STIMME die näher dringt. Faust, Faust, wo bist Du? Dein Erretter, Dein Befreier naht.

FAUST. Fiordiligi! Fiordiligi! – Satan, schenke meiner Stimme Löwenstärke, daß sie mich vernehme! Hier, hier unten, tief unten, Weib, sitzt Dein Getreuer bei Schlange und Eidechs. Ha, so rasselt, ihr schweren Ketten! Brause drunten gewaltiger, Du nächtiges Gewässer! Fiordiligi, Fiordiligi, es ist Faust, der nach Dir ruft, Dein Faustus, der Verlorene, im tiefen Seufzerthurme!

STIMME ganz nahe. Dich rett' ich, Du Geliebter! Deine Ketten spreng' ich durch der Liebe Allgewalt. Einen Augenblick, Faust, und Du bist befreit! Und dann mit Dir, allein mit Dir, über den weiten Ocean![172]


Quelle:
Marlow, F. [d.i. Ludwig Hermann Wolfram]: Faust. Ein dramatisches Gedicht in drei Abschnitten, Neu herausgegeben und mit einer biographischen Einleitung versehen von Otto Neurath, II. Teil: Text des Faust, Berlin [1906], S. 171-173.
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