33. Auf Herr Rothens 36sten Geburts-Tag

[100] 1724.


Wer von der Erde ist, den hat die Erde lieb;

Denn was sich angehört, das muß sich wohl gefallen;

Was der Natur gerecht, das wehlt sie sich vor allen;

Da kommt die Freundschaft her, ein eingepflanzter Trieb:

Je weiter sich ein Ding von unsrer Art entfernet,

Je leichter wird der Haß dagegen angelernet.

Der Abgrund trennet Gott vom Feinde Belial;

Die Sünde, (welche Kluft!) des Herrn und unser Wesen,

Wir hassen Seinen Geist, bis wir davon genesen:

Denn unsere Natur zertrennete der Fall.

Wenn aber Christus uns von neuem erst verbunden;

So ist die Freundschaft auch mit leichter Müh gefunden.

Da liebt die Seele Gott, und Gott die Seele dann,

Und alle, die zugleich in diß Verbündnis treten,

Den Herrn als ihren Freund und Vater anzubeten,

Die sehn einander nun, als liebe Brüder an.

Gewiß! man glaubets nicht, man hab' es dann erfahren,

Wie sich die Gläubigen im Geist zusammen paaren.

Ein jeder siehet sich ein klares Merkmaal aus,

Woran er Christi Geist und Christi Sinn erkennet,

Und ob der andre sey, was er sich gleichwol nennet,

Ein Glied am Bräutigam, ein Stein zum Tempel-Haus,

Und kan er dieses nur nach aller Wahrheit finden,

So eilt er dürstiglich mit ihm sich zu verbinden.

Das Auge thränt, es schlägt das Herz, die Hand ergreifft,

Der Fuß beweget uns von einem Ort zum andern,

Und macht, daß Herz und Hand und alle Glieder wandern;

Das Haupt ist mehrentheils mit Denken überhäuft.

Das Ohr vernimt das Wort, und trägt es zu den Sinnen,

Die durch den offnen Mund ein Gegen-Wort beginnen.[101]

So sehr veränderlich, so mancherley Gestalt

Sind Glieder, die zugleich nur einen Leib bedeuten,

Das Haupt betrachtet sie, die nahen und die weiten;

Indeß, da ein Geblüt in ihnen allen wallt.

Der Seele Sorgfalt weiß sie alle zu verbinden,

Daß keines seine Ruh kan ohne jenes finden.

Im Leibe Christi siehts von inn- und aussen so,

Wie in dem Menschen aus; sie haben gleiche Kräfte,

Und doch so mancherley zergliederte Geschäfte,

Und ohne eines wird das andre Sein nicht froh.

Der Leib wird munter, da der Seelen Kräfte schlafen,

Und wenn er schläfrig wird, fängt jene an zu schaffen:

O Liebe! Du hast Dir hie einen Leib gebaut,

Ein liebes Tempel-Haus von auserwehlten Steinen;

Die Pfort ist aufgethan, und seine Fenster scheinen,

Die jener nur verhöhnt, der mit Verwundrung schaut,

Wir haben Dich dabey in Gottes grossen Namen

Zum Ekstein hingelegt, als wir gen BethEl kamen.

So kröne diesen Bau: und weil Du je gewolt,

Der liebe Rothe solt' als Pfeiler drinne stehen,

Und ihn nach eigner Wahl Dir dazu ausersehen,

Eh man noch einen Stein zu diesem Bau gerollt:

O Haupt! so lehre uns mit Beten und mit Wachen

Den ganzen Saphir-Grund des Tempels fertig machen!


Quelle:
Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Ergänzungsbände zu den Hauptschriften, Band 2, Hildesheim 1964, S. 100-102.
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