|
[320] Um vier Uhr war der Mond untergegangen, und es herrschte stockfinstere Nacht. Alles schlief noch im Hause Deneulins; das aus Ziegeln erbaute alte Haus lag stumm und düster mit verschlossenen Türen und Fenstern am Ende eines großen, verwahrlosten Gartens, der es von der Jean-Bart-Grube trennte. An der andern Seite des Hauses vorbei lief die einsame Straße nach Vandame, einem großen Flecken, der in einer Entfernung von etwa drei Kilometer hinter dem Walde verborgen lag.
Deneulin, der einen Teil des vorhergegangenen Tages in der Grube zugebracht hatte, lag der Mauer zugewandt und schnarchte, als er träumte, daß man ihn rufe. Er erwachte schließlich, hörte wirklich eine Stimme und eilte zum Fenster, um zu öffnen. Einer seiner Aufseher stand im Garten.
»Was gibt es?« fragte er.
»Herr, eine Revolte; die Hälfte der Leute will nicht arbeiten und hindert die andere Hälfte einzufahren.«
Deneulin verstand ihn nicht recht; sein schlaftrunkener Kopf summte; die kalte Luft drang wie ein eisiges Sturzbad auf ihn ein.
»Zwingen Sie sie einzufahren!« stammelte er.
»Wir unterhandeln seit einer Stunde vergebens, und so sind wir denn auf den Gedanken gekommen, Sie aufzusuchen, gnädiger Herr. Sie allein können sie zur Vernunft bringen.«
»Gut, ich komme.«
Er kleidete sich in aller Eile an. Sein Kopf war jetzt klar; er war sehr unruhig geworden. Man hätte das[320] Haus plündern können, weder die Köchin noch der Hausdiener hatten sich gerührt. Doch jetzt vernahm er von der andern Seite des Flurs her ein Geflüster ängstlicher Stimmen. Als er hinausging, öffnete sich die Tür seiner Töchter, und beide erschienen, in weiße Schlafröcke gehüllt, die sie in aller Eile umgeworfen hatten.
»Was geht vor, Vater?«
Luzie, die ältere, war schon zweiundzwanzig Jahre, groß, braun, mit stolzer Miene; Johanna, die jüngere, zählte kaum neunzehn Jahre, war klein, mit goldblondem Haar und von einer einschmeichelnden Anmut.
»Nichts Ernstes«, antwortete der Vater, um sie zu beruhigen. »Es scheint, daß Skandalmacher in der Grube einigen Lärm verursachen. Ich will einmal nachschauen.«
Doch sie widersetzten sich seinem Vorhaben; sie wollten ihn nicht fortlassen, ohne daß er etwas Warmes genommen habe. Er werde sonst heimkehren mit krankem Magen wie immer. Er wehrte sich und gab sein Ehrenwort, daß er Eile habe.
»Höre«, sagte Johanna und hängte sich an seinen Hals. »Du wirst ein Gläschen Rum trinken und zwei Stück Zwieback essen; sonst bleibe ich da an deinem Halse, und du mußt mich mitnehmen.«
Er mußte sich fügen, obgleich er versicherte, daß der Zwieback ihm zu schwer im Magen liege. Schon stiegen sie vor ihm hinab, jede mit ihrem Leuchter. Im Speisezimmer beeilten sie sich, ihn zu bedienen; die eine goß den Rum ein, die andere lief in die Küche, um ein Paket Zwieback zu holen. Sie hatten ihre Mutter früh verloren und sich daher selbst erzogen, allerdings sehr schlecht, vom Vater verhätschelt, die Ältere von dem Traum geplagt, Opernsängerin zu werden, die Jüngere von einer Leidenschaft für die Malerei erfaßt. Doch als infolge geschäftlicher Verlegenheiten der Haushalt eingeschränkt werden mußte, waren diese Mädchen, die so außergewöhnliche Neigungen zu haben schienen, plötzlich sehr kluge und schlaue Haushälterinnen geworden,[321] die den kleinsten Fehler in den Rechnungen der Köchin entdeckten. Trotz ihres freien künstlerischen Wesens hielten sie die Schnüre des Geldbeutels fest in der Hand, kargten selbst mit den Sous, stritten mit den Lieferanten, besserten unablässig ihre Toiletten aus, und so gelang es ihnen, trotz der wachsenden Verarmung des Hauses einen Schein des Wohllebens zu bewahren.
»Iß, Papa«, wiederholte Luzie.
Als sie bemerkte, daß er wieder in stilles, sorgenvolles Nachdenken versank, wurde sie von Angst ergriffen.
»Die Sache ist also ernst, weil du solche Miene machst! ... Wir bleiben bei dir. Man wird ohne uns zur Frühstücktafel fahren.«
Sie sprach von einem Ausflug, der für diesen Morgen geplant war. Frau Hennebeau sollte mit ihrer Kalesche zuerst Cäcilie bei den Grégoire abholen, nachher Luzie und Johanna aufnehmen, und alle zusammen wollten nach Marchiennes fahren und bei der Gemahlin des Direktors der Eisenwerke frühstücken. Man wollte die Gelegenheit benutzen, um die Werkstätten, Hochöfen und Kokereien zu besichtigen.
»Gewiß, wir bleiben zu Hause«, erklärte Johanna ihrerseits.
Allein der Vater wurde böse.
»Welch ein Einfall! Ich wiederhole euch, es ist nichts ... Seid so gut, schlüpft wieder in eure Betten und kleidet euch für neun Uhr an, wie es verabredet wurde.«
Er küßte sie und eilte davon. Man hörte den Schall seiner Schritte, die sich auf dem hartgefrorenen Boden des Gartens allmählich verloren.
Johanna verkorkte sorgfältig die Rumflasche, während Luzie den Zwieback unter Verschluß tat. Der Raum hatte die kühle Sauberkeit solcher Speisezimmer, wo die Tafel kärglich bestellt ist. Da die Schwestern schon so früh heruntergekommen waren, hielten sie Umschau, ob auch gestern abend alles in Ordnung gebracht[322] sei. Sie fanden ein Tafeltuch; der Diener konnte eines Verweises sicher sein. Endlich gingen sie wieder hinauf.
Während Deneulin, um den Weg abzukürzen, die geraden Pfade seines Gemüsegartens durchschritt, dachte er an sein gefährdetes Vermögen, an diesen Anteil von Montsou, an diese Million, die er zu Geld gemacht hatte, in der Hoffnung, sie zu verzehnfachen, und die jetzt so stark aufs Spiel gesetzt war. Es war eine ununterbrochene Reihe von ungünstigen Umständen eingetreten, unvorhergesehene große Ausbesserungen, verderbliche Ausbeutungsbedingungen, dann das Unglück der industriellen Krise gerade in dem Augenblick, wo das Unternehmen einen Ertrag zu liefern begann. Wenn der Streik auch bei ihm ausbrach, lag er am Boden. Er stieß eine kleine Tür auf: man erkannte die Grubenbauten in der finsteren Nacht an dem noch tieferen Schatten, der durch einige Laternen nur wenig erhellt war.
Jean-Bart hatte nicht die Bedeutung des Voreux, doch war es infolge des Neubaus eine »ganz hübsche Grube« geworden, wie die Ingenieure sich ausdrückten. Man hatte sich nicht damit begnügt, den Schach um anderthalb Meter zu verbreitern und auf siebenhundertacht Meter zu vertiefen; man hatte ihn auch mit einer neuen Maschine, neuen Schalen, neuem Material versehen, alles nach den letzten Errungenschaften der Wissenschaft. Die Bauten zeigten sogar eine gewisse Eleganz; der Sichtungsschuppen trug ein zierlich geformtes Vordach, der Schachtturm war mit einer Uhr versehen; das Maschinenhaus und der Aufnahmeraum hatten ein rundes Dach nach Art der im Renaissancestil erbauten Kapellen, und der Schlot, aus schwarzen und roten Ziegeln erbaut, glich einer Mosaikspirale.
An diesem Morgen war Chaval um drei Uhr als erster angelangt. Er machte sich sogleich daran, die Kameraden zu verführen; man müsse dem Beispiel jener von Montsou folgen und eine Preisaufbesserung von fünf[323] Centimes für jede Karre fordern. Die vierhundert Arbeiter, die einfahren sollten, strömten aus der Baracke alsbald unter großem Geschrei und mit heftigen Bewegungen nach dem Aufnahmesaal. Die arbeiten wollten, standen barfüßig da mit ihrer Lampe, Schaufel oder Spitzhacke unter dem Arm, während die anderen in Holzschuhen und mit dem Überrock auf den Schultern, um sich gegen die Kälte zu schützen, den Zugang zum Schacht verstellten; die Aufseher schrien sich heiser in dem Bemühen, Ordnung zu machen, sie zur Vernunft zu bringen und denen, die einfahren wollten, Bahn zu schaffen.
Doch Chaval geriet in Wut, als er Katharina in Hose und Kittel erblickte, den Kopf mit der blauen Haube bekleidet. Er hatte, als er aufstand, ihr in rauher Weise befohlen, zu Bett zu bleiben. Verzweifelt wegen dieser Arbeitsruhe, war sie ihm dennoch gefolgt; denn er gab ihr niemals Geld, sie mußte oft für sich und für ihn zahlen. Was sollte aus ihr werden, wenn sie kein Geld mehr erwarb? Angst ergriff sie; die Angst, in einem Freudenhause zu Marchiennes zu enden wie alle Schlepperinnen, die kein Brot und kein Obdach hatten.
»Zum Teufel! Was hast du hier zu suchen?«
Sie habe kein Geld und wolle arbeiten, brachte sie stotternd hervor.
»Dirne, du willst dich mir widersetzen? ... Fort, nach Hause, wenn du nicht mit Fußtritten hinausbefördert werden willst!«
Sie wich scheu zurück, ging aber nicht; sie wollte sehen, welche Wendung die Dinge nehmen würden.
Deneulin kam über die Treppe des Sichtungsschuppens bei der Grube an. Trotz des schwachen Lichtes der Laternen erfaßte er mit einem raschen Blick die ganze Lage, er sah die in Schatten getauchte Menge, in der er jedes Gesicht kannte, die Häuer, die Verlader, die Handlanger, die Schlepperinnen. In dem neuen, noch sauberen Schacht ruhte die Arbeit. Die unter Druck stehende Maschine ließ ein leises Zischen des[324] Dampfes vernehmen; die Schalen hingen an den unbeweglichen Seilen; die auf halbem Wege im Stich gelassenen Karren standen auf dem auf Eisenplatten gefügten Fußboden umher. Man hatte kaum achtzig Lampen geholt, die anderen brannten in der Lampenkammer. Ein Wort von ihm werde sicherlich genügen, und die Arbeit werde aufgenommen, sagte sich Herr Deneulin.
»Was geht denn vor, Kinder?« fragte er mit lauter Stimme. »Was verdrießt euch? Erklärt es mir, wir werden uns verständigen.«
Gewöhnlich zeigte er sich seinen Leuten gegenüber väterlich-wohlwollend, wenngleich er viel Arbeit forderte. Gebieterisch und schroff in seinem Auftreten, suchte er sie zuerst durch geräuschvolle Leutseligkeit zu gewinnen; er war bei ihnen im ganzen beliebt, denn sie achteten in ihm vornehmlich den Mann von Mut, der immer mit ihnen in den Schlägen war, der erste bei Gefahr, wenn ein Unglücksfall die Grube in Schrecken versetzte. Zweimal schon hatte man ihn nach schlagenden Wettern an einem Seil hinabgelassen, wenn selbst die Kühnsten sich nicht in die Grube wagten.
Jetzt nahm er wieder das Wort.
»Ihr laßt mich doch nicht bereuen, daß ich mich für euch verbürgt habe?« sagte er. »Ihr wißt, daß ich es abgelehnt habe, einen Gendarmerieposten hier aufzunehmen, wie mir angeboten wurde ... Sprecht ruhig, ich höre euch.«
Jetzt schwiegen alle verlegen und entfernten sich von ihm; endlich sagte Chaval:
»Herr Deneulin, wir können nicht weiterarbeiten; wir müssen fünf Centimes mehr für die Karre haben.«
Er schien überrascht.
»Wie? Fünf Centimes? Aus welchem Anlaß erhebt ihr diese Forderung? Ich beklage mich nicht über eure Verzimmerungen; ich will euch keinen neuen Tarif auferlegen wie die Verwaltung von Montsou.«[325]
»Das ist möglich; aber die Kameraden von Montsou sind dennoch in ihrem Recht. Sie weisen den Tarif zurück und fordern eine Erhöhung um fünf Centimes, weil man bei den gegenwärtigen Preisen unmöglich sauber arbeiten kann ... Wir wollen fünf Centimes mehr: nicht wahr, Leute?«
Man hörte Zustimmungsrufe, der Lärm hub wieder an, und die Arme fuchtelten heftig umher. Allmählich kamen alle näher und umstanden ihn in engem Kreise.
Eine Flamme entzündete sich in den Augen Deneulins; als ein Mann der mit starker Hand zu regieren liebte, preßte er die Fäuste zusammen aus Furcht, daß er der Versuchung nachgeben könne, einen dieser Arbeiter an der Gurgel zu packen. Doch er zog es vor, mit ihnen zu unterhandeln, sich an ihre Vernunft zu wenden.
»Ihr wollt fünf Centimes, und ich gebe zu, daß die Arbeit es wert ist. Allein ich kann sie euch nicht geben. Wenn ich sie euch gebe, bin ich ganz einfach geliefert ... Vor allem muß ich selbst leben können, wenn ihr leben wollt. Und ich bin an der äußersten Grenze angelangt; die geringste Vermehrung der Herstellungskosten müßte meinen Sturz zur Folge haben. Bei dem letzten Streik vor zwei Jahren habe ich noch nachgegeben, weil ich es konnte. Indes hatte jene Lohnerhöhung für mich schlimme Folgen; ich habe seither zu kämpfen. Heute würde ich lieber die ganze Bude im Stich lassen, denn ich wüßte im nächsten Monat nicht mehr, womit ich euch bezahlen soll.«
Chaval lachte hämisch dem Herrn ins Gesicht, der ihnen so freimütig seine Verhältnisse darlegte; die anderen schauten zur Erde; sie waren eigensinnig und wollten nicht begreifen, daß ein Arbeitgeber nicht Millionen an seinen Arbeitern verdiene.
Deneulin drang weiter in sie. Er erklärte ihnen seinen Kampf gegen Montsou, das stets auf der Lauer sei und bereit, ihn zu verschlingen. Es sei ein wilder Wettbewerb, der ihn zu Ersparnissen zwinge, um so mehr,[326] als die große Tiefe der Jean-Bart-Grube die Kosten der Förderung erhöhe – ein ungünstiger Umstand, der durch die größere Dichtigkeit des Kohlenlagers kaum wettgemacht werde. Er drohte ihnen mit der Zukunft; was hätten sie davon, wenn sie ihn zwängen, die Grube zu verkaufen? Sie gerieten unter das Joch der Gesellschaft. Er throne nicht so weit oben in einem unbekannten Heiligtum; er sei nicht einer jener Aktionäre, die Direktoren bezahlten, um den Arbeiter zu rupfen, und die der Arbeiter niemals gesehen habe. Er sei ein Arbeitgeber und wage noch etwas anderes als sein Geld: er wage seine Intelligenz, seine Gesundheit, sein Leben. Die Arbeitseinstellung sei ganz einfach der Tod; denn er habe keinen Vorrat und müsse doch die Bestellungen ausführen. Anderseits dürfe das im Betriebe angelegte Kapital nicht brachliegen. Wie solle er seinen Verpflichtungen nachkommen? Wer werde die Summen verzinsen, die seine Freunde ihm anvertraut hätten? Es sei der Bankerott.
»Ja, so ist es, gute Leute«, schloß er. »Ich möchte euch überzeugen. Man kann von einem Manne nicht verlangen, daß er sich selbst abschlachtet, nicht wahr? Wenn ich euch die fünf Centimes bewillige oder euch in den Streik gehen lasse, ist es geradeso, als wenn ich mir den Hals abschneide.«
Er schwieg. Es entstand ein Gemurmel unter den Arbeitern; ein Teil schien zu schwanken. Mehrere kehrten zur Einfahrt des Schachtes zurück.
»Man soll doch jedem seine Freiheit lassen!« rief ein Aufseher ... »Wer will arbeiten?«
Katharina war als eine der ersten vorgetreten; doch Chaval stieß sie wütend zurück und schrie:
»Wir alle sind einig! Ein Schurke, wer seine Kameraden im Stich läßt!«
Nunmehr schien ein Ausgleich unmöglich. Das Geschrei begann von neuem, und man drängte die Leute vom Schachte weg auf die Gefahr hin, sie an den Wänden zu zerdrücken. Einen Augenblick versuchte der[327] verzweifelte Direktor allein den Kampf gegen diese Menge aufzunehmen und sie durch seine Heftigkeit zu bezwingen; allein es war eine nutzlose Torheit, er mußte weichen. Er blieb einige Minuten im Bureau des Aufnahmebeamten erschöpft auf einem Sessel sitzen, dermaßen außer sich wegen seiner Ohnmacht, daß er keinen Gedanken fassen konnte. Endlich beruhigte er sich; er befahl einem Aufseher, ihm Chaval zu holen; als dieser sich zu einer Unterredung bereit erklärte, verabschiedete er mit einer Handbewegung die Leute.
»Laßt uns allein!«
Der Plan Deneulins war zu erfahren, was der Bursche eigentlich wollte. Nach den ersten Worten war ihm klar, daß er es mit einem eitlen, von Neid verzehrten Burschen zu tun habe. Da suchte er ihm durch Schmeichelworte beizukommen; er stellte sich erstaunt darüber, daß ein so wohlverdienter Arbeiter wie er in solcher Weise seine Zukunft verscherze. Er ließ durchblicken, daß er schon längst seine Augen auf Chaval geworfen habe, um diesen rasch aufrücken zu lassen. Schließlich machte er ihm rundheraus den Vorschlag, ihn später zum Aufseher zu ernennen. Chaval hörte ihn stillschweigend an mit anfangs geballten, später allmählich sich öffnenden Fäusten. In seinem Schädel gärte es heftig; wenn er hartnäckig auf Streik bestand, konnte er nur Stellvertreter Etiennes sein; hier eröffnete sich ihm ein anderer Pfad: er konnte Oberhaupt werden. Heiß stieg ihm der Stolz ins Gesicht und betäubte ihn. Die Bande der Streikenden, die er seit dem Morgen erwartete, konnte jetzt kaum mehr kommen, irgendein Hindernis mußte sie aufhalten, vielleicht Gendarmen. Nichtsdestoweniger schüttelte er den Kopf, spielte den Unkäuflichen, warf sich stolz in die Brust. Ohne dem Herrn etwas von dem Stelldichein zu sagen, das er mit den Streikenden von Montsou verabredet hatte, versprach er schließlich, die Kameraden zu beschwichtigen und sie zur Einfahrt zu bereden.
Deneulin blieb verborgen; auch die Aufseher hielten[328] sich abseits. Eine Stunde lang hörten sie Chaval im Aufnahmesaale von einem Karren herab reden. Ein Teil der Arbeiter beschimpfte ihn; ihrer hundertzwanzig gingen erbittert davon; sie beharrten in dem Entschluß, zu dem er sie vorhin beredet hatte. Sieben Uhr war vorüber; der Tag war angebrochen, ein klarer, kalter Wintertag. Plötzlich kam die Grube wieder in Bewegung, die unterbrochene Arbeit begann von neuem. Der Kolben der Maschine senkte sich, die Kabel rollten auf und ab. Inmitten des Getöses der Signale begann die Einfahrt; die Schalen füllten sich, versanken, stiegen wieder herauf; der Schacht verschlang seine Ration von Häuern, Schlepperinnen, Handlangern, während die Jungens die Karren mit donnerndem Getöse fortschoben.
»Donner Gottes! was treibst du da?« rief Chaval Katharina zu, die wartete, bis sie an die Reihe komme. »Wirst du einfahren und nicht länger Maulaffen feilhalten!«
Als Frau Hennebeau um neun Uhr mit Cäcilie in ihrer Kalesche ankam, fand sie Luzie und Johanna bereit, sehr elegant trotz ihrer zwanzigmal ausgebesserten Toiletten. Doch Deneulin war erstaunt, als er Negrel erblickte, der die Kalesche zu Pferde begleitet hatte. Wie? Gehörten denn auch Herren zur Partie? Da erklärte Frau Hennebeau in ihrer mütterlichen Weise, daß man sie erschreckt habe, die Straßen seien voll verdächtiger Gestalten, und sie habe deshalb einen Verteidiger mitnehmen wollen. Negrel lachte und beruhigte die Damen; es sei nichts zu befürchten von diesen Schreiern, unter denen kein einziger den Mut habe, einen Stein nach einem Fenster zu schleudern. Noch froh über seinen Erfolg, erzählte Deneulin, wie er in Jean-Bart den Aufstand unterdrückt habe. Jetzt sei er beruhigt. Während die Fräulein in den Wagen stiegen, der auf der nach Vandame führenden Straße hielt, freuten sich alle des herrlichen Tages und ahnten nichts von dem immer stärker anwachsenden Erzittern der[329] fernen Landschaft, nichts von dem heranziehenden Volk, dessen Anstürmen sie hätten hören können, wenn sie das Ohr an die Erde gedrückt hätten.
»Also abgemacht«, wiederholte Madame Hennebeau. »Heute abend holen Sie die Damen ab und essen bei uns. Auch Frau Grégoire hat mir versprochen, Cäcilie abzuholen.«
»Rechnen Sie auf mich«, antwortete Deneulin.
Die Kalesche fuhr in der Richtung nach Vandame; Johanna und Luzie hatten sich zum Wagen hinausgeneigt, um noch einmal ihrem Vater zuzulächeln, der am Rande der Straße stehengeblieben war, während Negrel galant hinter dem Wagen dahintrabte.
Man kam durch den Wald und schlug den von Vandame nach Marchiennes führenden Weg ein. Als man sich dem Tartaret näherte, fragte Johanna Frau Hennebeau, ob sie die »grüne Halde« kenne; diese mußte bekennen, daß sie, obgleich sie seit fünf Jahren in der Gegend wohne, niemals nach dieser Richtung gekommen sei. Da machte man einen Umweg. Der am Waldessaum gelegene Landstrich war von vulkanischer Unfruchtbarkeit, weil seit Jahrhunderten ein Kohlenbrand im Innern des Erdreiches wütete. Der Ursprung dieses Feuers verlor sich in sagenhaft ferne Zeiten; die Bergleute der Gegend erzählten darüber eine Geschichte. Das Feuer des Himmels war aus den Eingeweiden der Erde über dieses Sodom gekommen, wo die Schlepperinnen sich abscheulichen Lastern hingaben, so daß sie nicht Zeit hatten emporzusteigen und noch heute in der Tiefe dieser Hölle brannten. Die dunkelroten, verkalkten Felsen waren mit Alaun bedeckt wie mit Aussatz; am Rande der Sprünge zeigte sich Schwefel, einer gelben Blume gleich. Die Kühnen, die des Nachts wagten, einen Blick in diese Schlünde zu werfen, versicherten, dort Flammen gesehen zu haben, die sündigen Seelen, die in der unterirdischen Glut brieten. Irrlichter huschten knapp am Boden dahin, heiße Dünste brachen unablässig hervor und führten den Gestank der Teufelsküche[330] mit sich. Gleich einem Wunder ewigen Lenzes erhob sich inmitten dieses verwünschten Landstriches die »grüne Halde« mit ihrem ewig grünen Rasen, ihren Buchen, deren Laub sich unaufhörlich erneuerte, ihren Feldern, wo es in einem Jahre drei Ernten gab. Es war ein natürliches Treibhaus, durch den Brand der tiefen Schichten unablässig geheizt. Der Schnee war hier niemals von Dauer. Dieser riesige Strauß von Grün – neben den entlaubten Bäumen des Waldes – entfaltete sich an diesem Dezembertag, ohne daß der Frost auch nur seine Ränder gerötet hätte.
Bald rollte die Kalesche wieder in der Ebene dahin. Negrel scherzte über die Legende und erklärte, wie infolge der Gärung des Kohlenstaubes sehr häufig ein Grubenbrand entstehe, der ohne Ende fortdauere, wenn man ihn nicht zu bewältigen vermöge. Er nannte eine belgische Grube, die man ersäufte, indem man einen Fluß in den Schacht leitete. Doch er schwieg jetzt still; seit einer Weile begegneten dem Wagen jeden Augenblick Rotten von Bergleuten. Sie zogen schweigend mit hämischen Blicken vorüber, den Luxus musternd, der sie auszuweichen nötigte. Ihre Menge wuchs immer mehr an; die Pferde mußten im Schritt über die kleine Scarpebrücke gehen. Was bereitete sich vor, daß all das Volk sich auf den Heerstraßen umhertrieb? Die Damen erschraken; Negrel begann irgendeinen Aufruhr zu wittern; alle atmeten auf, als sie endlich in Marchiennes ankamen. Unter der Sonne, die sie auszulöschen schienen, ließen die Batterien der Koksöfen und die Türme der Hochöfen ihre Rauchwolken aufsteigen, deren ewiger Ruß wie schwarzer Regen sich aus der Luft niedersenkte.
Ausgewählte Ausgaben von
Germinal
|
Buchempfehlung
Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.
106 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.
442 Seiten, 16.80 Euro