Fünftes Kapitel

[369] Herr Hennebeau war an das Fenster seines Kabinetts getreten, um die Kalesche abfahren zu sehen, die seine Frau zum Frühstück nach Marchiennes führte.

Er hatte eine Weile Negrel nachgeblickt, der neben dem Wagenschlage ritt; dann hatte er ruhig wieder an seinem Schreibtisch Platz genommen. Das Haus schien leer, wenn seine Frau und sein Neffe es nicht mit ihren geräuschvollen Dasein belebten. Der Kutscher lenkte heute die Kalesche der Hausfrau; Rose, das neue Kammermädchen, hatte Urlaub bis fünf Uhr; so war niemand zu Hause als Hippolyte, der Kammerdiener, der sich in Pantoffeln durch die Zimmer schleppte, und die Köchin, die seit Tagesanbruch alle Hände voll zu tun hatte, um das Essen zu bereiten, das ihre Herrschaft des Abends gab. Herr Hennebeau hoffte denn auch in der tiefen Stille des leeren Hauses den ganzen Tag tüchtig arbeiten zu können.

Obgleich Hippolyte den Auftrag bekommen hatte, niemand vorzulassen, erlaubte er sich dennoch gegen neun Uhr Herrn Dansaert anzumelden, der Neuigkeiten brachte. Da erst erfuhr der Direktor von der gestrigen Versammlung im Walde. Die Einzelheiten, die jener berichtete, lauteten so genau, daß der Direktor, während er ihm zuhörte, an die Liebschaft des Oberaufsehers mit Frau Pierron dachte, die so bekannt war, daß wöchentlich zwei, drei Briefe diese Ausschweifungen[369] meldeten. Augenscheinlich hatte Pierron geplaudert. Der Direktor benutzte die Gelegenheit, um merken zu lassen, daß er bereits alles wisse, und begnügte sich, Vorsicht zu empfehlen, damit kein Ärgernis entstehe. Erschreckt durch diese Vorwürfe, die mitten in seinen Bericht fielen, leugnete Dansaert, stammelte Entschuldigungen, während seine große Nase durch plötzliches Erröten zum Verräter wurde. Er beharrte übrigens nicht weiter bei der Sache und war froh, so leichten Kaufes darüber hinweggekommen zu sein; denn gewöhnlich zeigte sich der Direktor von der unerbittlichen Strenge eines sittenreinen Mannes. Die Unterredung bewegte sich wieder um den Streik; die Versammlung im Walde wurde als eine Großtuerei von Schreihälsen behandelt; es drohe keine ernste Gefahr. Auf alle Fälle würden die Arbeiterdörfer sich einige Tage still verhalten unter dem Eindruck der Militärstreifen am Morgen.

Als Herr Hennebeau wieder allein war, war er geneigt, eine Depesche an den Präfekten abzusenden. Nur das Bedenken, unnötigerweise einen Beweis seiner Unruhe zu geben, hielt ihn zurück. Er konnte sich schon nicht verzeihen, so wenig Voraussicht gezeigt zu haben, daß er überall sagte, ja sogar der Verwaltung schrieb, der Streik werde höchstens zwei Wochen dauern. Jetzt währte der Ausstand – zu seiner großen Überraschung – schon fast zwei Monate; er war trostlos, fühlte sich mit jedem Tage kleiner, bloßgestellt, genötigt, irgendeinen Kapitalstreich zu ersinnen, wenn er sich bei den Verwaltungsräten wieder in Gunst setzen wollte. Er hatte eben Weisungen verlangt für den Fall, daß es Unruhen geben solle. Die Antwort verzögerte sich; er erwartete sie mit der Nachmittagspost. Er sagte sich, daß es dann noch Zeit sei, Telegramme abzusenden, um die Gruben militärisch zu besetzen, wenn dies die Ansicht der Herren Verwaltungsräte sei. Nach seinem Dafürhalten werde es Kampf, Blutvergießen, Tote und Verwundete bedeuten. Eine solche Verantwortlichkeit verwirrte ihn trotz seiner Willenskraft.[370]

Bis elf Uhr arbeitete der Direktor ruhig in dem stillen Haus, wo kein anderes Geräusch zu vernehmen war als das, welches Hippolyte in den Gemächern des ersten Stockwerkes mit der Zimmerbürste verursachte. Dann kamen – knapp nacheinander – zwei Depeschen; die erste kündete ihm den Überfall der Bande von Montsou auf die Jean-Bart-Grube; die zweite meldete das Durchschneiden der Kabel, das Auslöschen der Feuer, die ganze Verwüstung. Er begriff die Sache nicht. Was hatten die Streikenden bei Deneulin zu suchen, anstatt sich an eine Grube der Gesellschaft zu halten? Übrigens konnten sie seinethalben Vandame verwüsten; das förderte nur seine Erweiterungspläne. Mittags frühstückte er allein in dem großen Speisezimmer, lautlos bedient von Hippolyte, der in seinen Pantoffeln ab und zu ging. Diese Einsamkeit vergrößerte nur noch seine bange Sorge; er fühlte Kälte im Herzen, als ein Aufseher hereingeführt wurde, der ihm den Marsch der Bande nach Mirou erzählte. Unmittelbar darauf, er trank eben seinen Kaffee, erfuhr er aus einer Depesche, daß auch die Gruben Magdalene und Crèvecoeur bedroht seien. Da wurde seine Ratlosigkeit vollständig. Er erwartete Post um zwei Uhr; sollte er sogleich Truppen verlangen? Oder war es besser, sich in Geduld zu fassen, nichts zu tun, bevor er die Absichten der Verwaltung kannte? Er kehrte in sein Arbeitszimmer zurück, denn er wollte ein Schriftstück lesen, das für den Präfekten bestimmt war, und das Negrel gestern abend auf sein Ersuchen aufgesetzt hatte. Allein er konnte es nicht finden und dachte, der junge Mann habe es vielleicht in seinem Zimmer gelassen, wo er des Nachts oft zu schreiben pflegte. Ohne einen Entschluß zu fassen, von dem Gedanken an dies Schreiben verfolgt, eilte er in das Zimmer hinauf, um es dort zu suchen.

Als Herr Hennebeau eintrat, war er überrascht, daß das Zimmer nicht in Ordnung gebracht war; die Schuld lag sicher in einem Vergessen oder in einer Lässigkeit Hippolytes. In dem Gemach herrschte feuchte Wärme,[371] die eingeschlossene Wärme einer ganzen Nacht, noch vermehrt durch die offen gebliebene Dampfheizung; ein durchdringender Wohlgeruch kam ihm entgegen, ohne Zweifel von riechenden Wassern, mit denen das Waschbecken gefüllt war. Große Unordnung herrschte in dem Gemach; Kleider lagen umhergestreut, feuchte Handtücher waren über die Sessellehnen geworfen; das Bett stand weit offen, ein Laken war herausgerissen und hing bis zum Teppich herunter. Übrigens hatte er anfänglich für all das nur einen zerstreuten Blick; er wandte sich zu dem mit Papieren bedeckten Tisch und suchte das unauffindbare Schreiben. Zweimal prüfte er die Papiere einzeln: es war nicht dabei. Wohin zum Teufel hatte der Tollkopf Negrel es gesteckt?

Als Herr Hennebau in die Mitte des Zimmers zurückkehrte und auf jedes Möbelstück einen Blick warf, bemerkte er in dem offenen Bett einen hellen Punkt. Er trat mechanisch näher und streckte die Hand aus. Zwischen zwei Falten des Bettlakens lag ein kleines Goldfläschchen. Er erkannte sogleich das kleine Ätherfläschchen, das seine Frau stets bei sich trug. Er konnte sich die Gegenwart dieses Fläschchens nicht erklären; wie konnte es in Pauls Bett geraten sein? Plötzlich erbleichte er furchtbar. Seine Frau hatte hier geweilt.

»Um Vergebung,« murmelte Hippolyte, die Tür öffnend, »ich habe den gnädigen Herrn heraufkommen sehen ...«

Der Diener war eingetreten und stand angesichts der in dem Gemache herrschenden Unordnung betroffen da.

»Mein Gott! Es ist wahr, das Zimmer ist nicht aufgeräumt. Rose ist fort und hat mir das ganze Hauswesen auf dem Hals gelassen.«

Herr Hennebeau hatte das Fläschchen in seiner Hand verborgen und preßte es mit solcher Gewalt, daß er es beinahe zerbrach.

»Was wollen Sie?« fragte er den Diener.

»Gnädiger Herr, es ist wieder ein Mann da ... Er kommt aus Crèvecoeur und bringt einen Brief.«[372]

»Gut; lassen Sie mich allein. Er soll warten.«

Als er den Riegel vorgeschoben hatte, öffnete er die Hand wieder und betrachtete das Fläschchen, das sich in seiner Handfläche rot abgezeichnet hatte. Plötzlich sah und begriff er: dies geschah in seinem Hause seit Monaten. Er erinnerte sich seines ehemaligen Verdachtes, des schlürfenden Geräusches nackter Füße vor den Türen zu nachtschlafener Zeit.

Er war auf einen Sessel gesunken, und starren Auges verharrte er lange Minuten regungslos. Ein Geräusch störte ihn auf; man pochte an die Tür, man versuchte zu öffnen. Er erkannte die Stimme des Dieners.

»Gnädiger Herr! ... Ach, gnädiger Herr haben sich eingeschlossen ...«

»Was gibt es denn wieder?«

»Die Sache scheint dringend; die Arbeiter zerschlagen alles. Es sind wieder zwei Männer unten. Auch Depeschen sind gekommen.«

»Laßt mich in Ruhe! Ich komme sogleich!«

Der Gedanke, daß Hippolyte selbst das Fläschchen hätte finden können, wenn er am Morgen das Zimmer aufgeräumt hätte, machte sein Blut zu Eis erstarren.

Ein Glockenzeichen aus der Ferne ließ ihn erbeben. Er kannte dieses Zeichen; es wurde auf seinen Befehl gegeben, wenn der Postbote ankam. Er erhob sich und rief in seiner Erbitterung, die sich gegen seinen Willen in rohen Worten Luft machte:

»Ich pfeife auf ihre Depeschen und ihre Briefe!«

Die Wut hatte sich jetzt seiner bemächtigt. Dies Weib war eine Verworfene. Er suchte nach rohen Worten, er ohrfeigte damit gleichsam ihr Bild. Der plötzliche Einfall der Ehe zwischen Paul und Cäcilie, den sie mit einem so ruhigen Lächeln verfolgte, erbitterte ihn vollends. Auf dem Grunde dieser Sinnlichkeit gab es also keine Leidenschaft, keine Eifersucht mehr? Paul war ihr nur noch ein Spielzeug, eine Erholung, die sie sich gönnte wie einen gewohnten Nachtisch? Er maß ihr alle Schuld bei; er entschuldigte diesen Knaben, den sie[373] genommen hatte, wie man in die erste grüne Frucht beißt, die man am Wege gestohlen.

Jetzt klopfte man schüchtern an die Tür, und Hippolyte erlaubte sich durch das Schlüsselloch zu flüstern:

»Gnädiger Herr, die Post ... Auch ist Herr Dansaert wieder da und meldet, daß gemordet wird ...«

»Gut, ich komme schon. Hol' Euch der Teufel!«

Was soll er mit ihnen anfangen, wenn sie von Marchiennes heimkehren? Er wird sie davonjagen wie stinkende Tiere, die er unter seinem Dach nicht länger dulden will. Er wird einen Knüttel gegen sie schwingen und ihnen zurufen, ihr Gift anderswohin zu tragen. In seiner ohnmächtigen Wut stürzte er sich auf das Bett und hieb mit den Fäusten darauf ein.

Doch plötzlich glaubte er Hippolytes Schritte zu hören, der wieder heraufkam. Ein Gefühl der Scham ließ ihn innehalten. Er stand eine Weile keuchend da, trocknete seine Stirn, suchte sein stürmisch pochendes Herz zu beruhigen. Vor einem Spiegel stehend, betrachtete er sein Gesicht, das so verstört war, daß er es nicht erkannte. Nachdem er in einer äußersten Anstrengung seines Willens sich allmählich beruhigt hatte, ging er hinunter.

Unten harrten fünf Boten außer Dansaert. Sie überbrachten ihm immer ernster lautende Nachrichten über den Zug der Streikenden durch die Gruben; der Oberaufseher erzählte ihm lang und breit, was in der Mirougrube geschehen, und wie sie durch die tapfere Haltung des Vaters Quandieu gerettet wurde. Er hörte ihnen zu und nickte mit dem Kopf; aber er verstand sie nicht, seine Gedanken waren oben in dem Zimmer. Endlich entließ er sie mit der Erklärung, daß er seine Maßnahmen treffen werde. Als er wieder allein vor seinem Schreibpult saß, schien er mit offenen Augen zu schlafen, das Haupt auf die Hände gestützt. Die Post lag vor ihm; er entschloß sich endlich, den erwarteten Brief hervorzusuchen, die Antwort der Verwaltungsräte. Anfänglich hüpften die Zeilen vor seinen Augen; aber[374] schließlich begriff er, daß die Herren Aufruhr wünschten; sie geboten ihm nicht, es zum Äußersten kommen zu lassen, aber sie ließen durchblicken, daß die Unruhen das Ende des Streiks beschleunigen müßten, indem sie das Einschreiten der bewaffneten Macht herbeiführen würden. Da zögerte er nicht länger; er sandte Depeschen nach allen Seiten, an den Präfekten von Lilie, die Truppenabteilung von Douai, die Gendarmerie von Marchiennes: Es brachte ihm Erleichterung, er konnte sich einschließen; ja, er setzte das Gerücht in Umlauf, daß er die Gicht habe. So blieb er den ganzen Nachmittag in seinem Arbeitszimmer verborgen, empfing niemand und begnügte sich, die Depeschen und Briefe zu lesen, die immer zahlreicher einliefen. So konnte er aus der Ferne den Zug der Bande verfolgen, vom Magdalenenschacht nach Crèvecoeur, von Crèvecoeur nach der Siegesgrube, von dort nach Gaston-Marie. Von anderer Seite meldete man ihm die Ratlosigkeit der Gendarmen und Dragoner, die sich unterwegs verirrt hatten und den angegriffenen Gruben immer den Rücken kehrten. Seinethalben konnten sie morden und alles zerstören; er hatte den Kopf zwischen die Hände begraben, die Finger vor den Augen, und versenkte sich in die tiefe Stille des leeren Hauses, in dem er nichts anderes hörte als von Zeit zu Zeit das Geräusch der Schüsseln der Köchin, die mit der Zubereitung des Abendessens beschäftigt war.

Die Abenddämmerung verdunkelte bereits das Zimmer, es war fünf Uhr, als ein Lärm Herrn Hennebeau, der wie betäubt über seinen Papieren brütete, plötzlich auffahren ließ. Er glaubte, die beiden Elenden seien zurückgekehrt. Allein der Lärm wurde immer größer, und ein furchtbarer Schrei erscholl in dem Augenblick, als er ans Fenster trat.

»Brot! Brot! Brot!«

Es waren die Streikenden, die Montsou besetzten, während die Gendarmen nach der Voreuxgrube galoppierten, weil es hieß, daß diese angegriffen sei.[375]

Zwei Kilometer von den letzten Häusern von Montsou, ein wenig unterhalb der Wegkreuzung, wo die Heerstraße und der Weg nach Vandame sich schnitten, hatten Frau Hennebeau und die Fräulein die Bande vorbeiziehen sehen. Sie hatten in Marchiennes den Tag sehr fröhlich zugebracht; es gab ein sehr angenehmes Frühstück bei dem Direktor des Eisenwerkes; ihm folgte ein interessanter Besuch in den Werkstätten und in einer benachbarten Glasfabrik; damit wurde der Nachmittag ausgefüllt; als man endlich in der Dämmerung des klaren Wintertages den Heimweg antrat, hatte Cäcilie den Einfall, daß man in einem Pachthof eine Schale Milch trinken solle. Die Damen verließen die Kalesche, und Negrel sprang galant aus dem Sattel, während die Bäuerin, ganz verlegen über diesen vornehmen Besuch, dienstwillig herbeieilte, um ein Tafeltuch aufzulegen. Allein Luzie und Johanna wollten die Kuh melken sehen; man ging also mit den Schalen in den Kuhstall; man lachte viel darüber, daß man in der Streu versank.

Frau Hennebeau – mit der Miene liebenswürdiger Mütterlichkeit – nippte an der Milchschale, als ein seltsam dumpfer Lärm, der von außen kam, sie beunruhigte.

»Was ist denn?« fragte sie.

Der Stall, am Weg erbaut, hatte ein breites Tor, weil er zugleich als Heuboden diente. Die Mädchen streckten die Köpfe zum Tor hinaus und waren nicht wenig erstaunt, als sie links eine dunkle, heulende Masse auf der Straße von Vandame heranziehen sahen.

»Teufel!« brummte Negrel, der ebenfalls hinausgegangen war, »sollten unsere Schreihälse schließlich bösartig werden?«

»Es sind vielleicht wieder die Bergleute«, sagte die Bäuerin. »Sie sind schon zweimal vorübergezogen. Die Dinge scheinen schief zu gehen; sie sind die Herren im Lande.«

Sie hatte jedes Wort mit Vorsicht ausgesprochen und beobachtete die Wirkung ihrer Worte auf den Gesichtern;[376] als sie den Schrecken aller sah, die tiefe Angst, in welche die Gesellschaft durch diese Begegnung versetzt wurde, beeilte sie sich hinzuzufügen:

»Die erbärmlichen Lumpenkerle!«

Als Negrel sah, daß es zu spät sei, in den Wagen zu steigen und Montsou wieder zu erreichen, befahl er dem Kutscher, die Kalesche rasch auf den Hof der Bauernwirtschaft zu bringen, wo das Gespann hinter einem Schuppen verborgen blieb. Ebenda band er sein Reitpferd an, das bisher ein Junge am Zügel gehalten hatte. Als er zurückkam, fand er seine Tante und die Mädchen außer sich vor Schrecken und bereit, der Bäuerin zu folgen, die ihnen vorschlug, in ihrer Wohnung Zuflucht zu suchen. Allein er war der Ansicht, daß man hier mehr in Sicherheit sei, und daß niemand sie auf diesem Heuboden suchen werde. Indes schloß das Tor sehr schlecht und hatte solche Risse, daß man durch die wurmstichigen Bretter und Pfosten die Straße sehen konnte.

»Mut! Mut!« sagte er, »wir werden unser Leben teuer verkaufen.«

Dieser Scherz vermehrte noch die Furcht. Der Lärm wurde immer größer; man sah noch nichts; über die leere Straße schien ein Sturmwind zu wehen, jenen plötzlich aufspringenden Winden gleich, die heftigen Ungewittern vorangehen.

»Nein, nein, ich will nicht schauen«, sagte Cäcilie und verkroch sich hinter das Heu.

Frau Hennebeau war sehr bleich; von einer Wut erfaßt gegen diese Leute, die ihr ein Vergnügen verdarben, hielt sie sich im Hintergrunde, mißtrauisch und angewidert ausspähend, während Luzie und Johanna – trotz ihrer Furcht – durch die Spalten des Tores nach der Straße lugten, um nichts von dem heraufziehenden Schauspiel zu verlieren.

Das donnerähnliche Rollen näherte sich, die Erde erzitterte; vorauf lief Johannes, immer in sein Horn blasend.[377]

»Nehmen Sie Ihre Riechfläschchen, meine Damen, der Schweiß des Volkes zieht vorüber«, sagte Negrel, der trotz seiner republikanischen Überzeugungen es liebte, vor den Damen den Pöbel zu verspotten.

Doch sein Witzwort ging in einem Orkan von Schreien und Gesten unter. Die Weiber waren herangekommen, nahezu tausend Weiber mit wirren Haaren, in Lumpen gehüllt, welche die nackte Haut sehen ließen. Einige hielten ihr kleines Kind auf den Armen und schwangen es wie ein Banner der Trauer und der Rache. Andere – die jüngeren – schwangen Stöcke; während die älteren – scheußliche Gestalten – so laut heulten, daß die Sehnen ihrer fleischlosen Hälse zu reißen drohten. Dann kamen die Männer, zweitausend Wütende, Häuer, Handlanger, eine dichte Masse, die so gedrängt heranrückte, daß man die zerrissenen Beinkleider, die zerfetzten Jacken nicht unterscheiden konnte, weil sie in der nämlichen erdfarbenen Einförmigkeit untergingen. Die Augen glühten; man sah bloß die schwarzen Mundöffnungen, welche die Marseillaise sangen, deren Strophen sich in einem wirren Geheul verloren, begleitet von dem Geklapper der Holzschuhe auf dem hartgefrorenen Boden. Über den Köpfen wurde zwischen den hochgestreckten Eisenstangen eine Hacke aufrecht getragen; und diese einzige Hacke, gleichsam die Standarte, glänzte unter dem hellen Himmel wie das Beil einer Guillotine.

»Welch furchtbare Gesichter!« stammelte Frau Hennebeau.

Negrel brummte zwischen den Zähnen:

»Der Teufel soll mich holen, wenn ich auch nur einen von ihnen erkenne! Woher kommen denn die Banditen?«

In der Tat: die Wut, der Hunger, die zwei Leidensmonate, dieser tolle Zug durch die Gruben – sie hatten die sonst so ruhigen Gesichter der Bergleute von Montsou verlängert wie die Kinnladen wilder Tiere. In diesem Augenblick ging die Sonne unter; die letzten[378] Strahlen – von einer dunklen Purpurfarbe – tauchten die Ebene in einen blutroten Schein. Die Straße schien einen Strom von Blut fortzuwälzen; die Weiber, die Männer stürmten vorbei und schienen von Blut zu triefen wie Metzger bei der Arbeit.

»Herrlich!« flüsterten Luzie und Johanna, in ihrem künstlerischen Geschmack von diesem furchtbaren Schauspiel ergriffen.

Sie erschraken aber doch und flüchteten zu Frau Hennebeau, die sich an eine Tränke gelehnt hatte. Der Gedanke, daß ein Blick von draußen durch die Planken genügte, um sie dem Tode auszuliefern, ließ sie erstarren. Auch Negrel, sonst sehr tapfer, fühlte sein Blut aus den Wangen entweichen; er ward von Furcht ergriffen, die mächtiger war als sein Wille, von Entsetzen, wie es zuweilen über uns kommt, wir wissen nicht woher. Cäcilie hockte im Heu und wagte sich nicht zu rühren. Die anderen konnten die Augen nicht wegwenden und schauten gegen ihren Willen auf die Straße hinaus.

Es war das blutigrote Gespenst der Revolution, die sie alle hinwegfegen werde an einem blutigen Abend dieses zur Neige gehenden Jahrhunderts. Ja, eines Abends wird das losgelassene, zügellose Volk so über die Straße rennen und vom Blut der Bürger triefen, abgeschlagene Köpfe herumtragen, das Gold der ausgeleerten Schränke verstreuen. Die Weiber werden heulen, die Männer gleich den Wölfen die Kinnladen weit aufreißen, um alles zu zerfleischen. Ja, es werden dieselben Menschen in Lumpen sein, dasselbe Geklapper von plumpen Holzschuhen, dieselbe greuliche Menge mit schmutziger Haut, verpestetem Atem, die alte Welt hinwegfegend mit ihrem barbarischen, alles überflutenden Drängen und Jagen. Brände werden aufflammen, in den Städten wird kein Stein auf dem andern bleiben, man wird zu dem wilden Leben in den Wäldern zurückkehren nach der großen Brunst, nach der großen Schwelgerei, in der die Armen in einer Nacht[379] die Weiber der Reichen ergreifen und den Wein der Reichen austrinken. Es wird nichts mehr geben, keinen Sou von den Reichtümern, keinen Titel von errungenen Stellungen bis zu dem Tage, wo vielleicht eine neue Erde erblüht.

Ein ungeheurer Schrei erhob sich und übertönte die Marseillaise:

»Brot! Brot! Brot!«

Luzie und Johanna schmiegten sich in ihrem Entsetzen an Frau Hennebeau, während Negrel sich vor sie hinstellte, wie um sie mit seinem Leibe zu schützen. Sollte denn noch an diesem Abend die alte Welt aus den Fugen gehen?

Alles verschwand allmählich; der Strom wälzte sich auf Montsou zu die schmalen Wege entlang, zwischen den niedrigen, bunt getünchten Häusern. Man ließ den Wagen wieder aus dem Hofe fahren, allein der Kutscher wollte nicht dafür bürgen, daß er seine Herrin und die Fräulein ohne Hindernis heimbringe, wenn die Streikenden die Straße besetzt hielten. Das schlimmste war, es gab keinen andern Weg.

»Wir müssen aber heimkehren, das Essen erwartet uns«, sagte Frau Hennebeau außer sich vor Angst. »Diese schmutzige Halunken rumoren schon wieder an einem Tage, an dem ich Gäste habe. Solchem Gesindel soll man Gutes tun.«

Luzie und Johanna zogen Cäcilie aus dem Heu hervor; diese wehrte sich in der Meinung, der Zug der Wilden dauere noch immer an, und wiederholte, sie wolle nichts sehen. Schließlich nahmen alle von neuem ihre Plätze im Wagen ein. Negrel, der wieder zu Pferde gestiegen war, hatte den Einfall, man solle durch die Gäßchen von Réquillart zurückkehren.

»Fahren Sie langsam«, empfahl er dem Kutscher, »denn der Weg ist sehr schlecht. Wenn Gruppen der Bande Sie hindern sollten, dort in die Heerstraße einzulenken, halten Sie hinter der alten Grube, und wir kehren zu Fuß durch die kleine Gartentür zurück,[380] während Sie Wagen und Pferde irgendwo unter dem Schuppen einer Herberge unterbringen.«

Sie fuhren ab. Die Bande war schon fern und ergoß sich nach Montsou. Die Bevölkerung des Ortes war in Schrecken und Aufregung, seitdem sie die Gendarmen und Dragoner zweimal hatte durchziehen sehen. Furchtbare Geschichten waren im Umlauf; man sprach von geschriebenen Maueranschlägen, die den Bürgern drohten, daß ihnen der Bauch aufgeschlitzt werde. Niemand hatte diese Maueranschläge gelesen, und dennoch wußte man ganze Sätze daraus wörtlich anzuführen. Besonders beim Notar war die Angst bis zum Gipfelpunkt gestiegen; er hatte mit der Post einen unterschriftslosen Brief erhalten, worin man ihm mitteilte, daß in seinem Keller ein Faß Pulver vergraben sei, das ihn in die Luft sprenge, wenn er sich nicht für das Volk erkläre.

Die Grégoire, die bei dem Notar zu Besuche waren, sprachen eben über diesen Brief, in dem sie den Streich eines Spaßvogels erblicken zu sollen glaubten, als der Einzug der Bande das Haus in höchsten Schrecken versetzte. Die Grégoire lächelten nur. Sie schoben ein wenig den Vorhang weg, schauten hinaus und erklärten, es bestehe keinerlei Gefahr, alles werde harmlos enden. Es schlug fünf Uhr; sie hatten gerade noch Zeit zu warten, bis die Straße frei sein werde, um zu den Hennebeau hinüberzugehen, wo sie essen sollten und Cäcilie sie sicherlich schon erwartete. Allein niemand in Montsou schien ihre Vertrauensseligkeit zu teilen; entsetzte Leute rannten durch die Straßen, Türen und Fenster wurden eilig geschlossen. Sie sahen Maigrat hastig seinen Laden schließen und mit Eisenstangen verwahren; er war so bleich und zitterte dermaßen, daß seine kleine, schwächliche Frau genötigt war, die Schlosser vorzulegen.

Die Bande hatte vor dem Hause des Direktors haltgemacht, und es ertönte der Schrei:

»Brot! Brot! Bot!«[381]

Herr Hennebeau stand am Fenster, als Hippolyte eintrat, um die Fensterläden zu schließen, damit die Scheiben nicht eingeschlagen wurden. Er schloß auch die im Erdgeschoß, dann ging er in den ersten Stock hinauf; man hörte das Kreischen der Riegel und das Zuschlagen der Fensterläden. Unglücklicherweise konnte man nicht auch das breite Fenster der unterirdisch gelegenen Küche schließen; man konnte von der Straße die helllodernden Feuer unter den Schüsseln und unter dem Spieße erblicken.

Herr Hennebeau, der die Vorgänge sehen wollte, stieg mechanisch in den zweiten Stock hinauf nach dem Zimmer Pauls. Dies war am besten gelegen; es gestattete einen Ausblick auf die Straße bis zu den Werkhöfen der Gesellschaft. Herr Hennebeau stand hinter den Vorhängen verborgen und überschaute von da die Menge. Allein dieses Zimmer hatte ihn von neuem in Erregung gebracht, wenngleich der Toilettetisch jetzt gesäubert und in Ordnung gebracht war und das Bett hinter den sorgfältig geschlossenen Vorhängen ein kühles, nüchternes Aussehen hatte. Seine große Wut am Nachmittag, die wilde Schlacht, die er in der tiefen Stille seiner Einsamkeit dem Bett geliefert: sie endeten jetzt in einer unermeßlichen Müdigkeit. Sein Wesen war jetzt wie dieses Zimmer, abgekühlt, rein gefegt von dem Unflat des Morgens, zurückgekehrt zur gewohnten vornehmen Haltung. Was konnte ein Skandal nützen? Hatte sich bei ihm etwas geändert? Seine Frau hatte ganz einfach einen Liebhaber mehr; daß sie ihn in der Familie gewählt hatte, war kaum ein erschwerender Umstand; es war vielleicht besser so; sie wahrte wenigstens den Schein. Er bemitleidete sich selbst, wenn er sich seiner unsinnigen Eifersucht erinnerte. Wie lächerlich war es, dieses Bett mit Faustschlägen zu bearbeiten! Er hatte einen andern Mann geduldet, folglich werde er auch diesen dulden. Man werde ihn ein klein wenig mehr verachten: das war alles. Eine furchtbare Bitternis kam über ihn, das Gefühl der Nutzlosigkeit[382] von allem, der ewige Schmerz des Daseins, die Scham vor sich selbst, weil er diese Frau noch immer anbetete und nach ihr verlangte, des Schmutzes ungeachtet, in den er sie versinken sah.

Unter dem Fenster brach das Geheul mit erneuter Heftigkeit los.

»Brot! Brot! Brot!«

»Tröpfe!« murmelte Herr Hennebeau zwischen den Zähnen.

Er hörte, wie sie ihn beschimpften wegen seiner fetten Bezüge, wie sie ihn einen dickwanstigen Tagedieb nannten, ein schmutziges Schwein, das sich mit feinen Sachen den Magen verdarb, während der Arbeiter Hungers starb. Die Weiber hatten die Küche entdeckt, und jetzt folgte ein Sturm von Schmähungen gegen den bratenden Fasan und gegen die Soßen, deren fetter Geruch ihnen den leeren Magen umdrehte. Diese schmutzigen Spießbürger! Man werde sie schon mit Champagner und Trüffeln mästen, daß ihnen die Därme platzten!

»Brot! Brot! Brot!«

»Tröpfe!« wiederholte Herr Hennebeau, »bin ich etwa glücklich?«

Zorn erfaßte ihn gegen diese Leute, die nicht begriffen. Gern hätte er ihnen seine fetten Bezüge überlassen für ihre dicke Haut und für die Leichtigkeit, mit der sie sich liebten und dann sorglos wieder auseinandergingen. Er würde alles hingegeben haben: seine Erziehung, seinen Wohlstand, seinen Luxus, seine Direktorengewalt, wenn er nur einen Tag der letzte dieser Elenden, die ihm gehorchten, hätte sein können, Halunke genug, sein Weib zu ohrfeigen und sein Vergnügen bei den Nachbarinnen zu suchen. Er wünschte sich auch, Hunger zu leiden, einen leeren Bauch zu haben, den Magen von Krämpfen zusammengezogen, die das Gehirn erschüttern und schwindelig machen: vielleicht würde dies sein ewiges Weh getötet haben. Ach, als Tier leben zu können, nichts zu besitzen, mit der häßlichsten[383] und schmutzigsten Schlepperin durch die Getreidefelder zu streifen und sich Frieden zu holen!

»Brot! Brot! Brot!«

Da verlor er die Geduld und schrie in den Lärm hinein.

»Brot? Ihr Tröpfe! Ist denn das alles?«

Er hatte zu essen und stöhnte dennoch unter seinem ewigen Leid. Sein zerstörtes Eheleben, sein ganzes verwüstetes Dasein, es stieg ihm wie Todesröcheln in der Kehle empor. Wenn man auch Brot hatte, so war damit noch nicht alles erreicht. Wer war der Tölpel, der das irdische Glück in der Teilung des Reichtums suchte? Diese Hohlköpfe von Revolutionären konnten die Gesellschaft umstürzen und eine neue aufbauen; sie würden aber der Menschheit keine neue Freude bieten, ihr kein einziges Weh nehmen können, indem sie jedem seinen Brotanteil beschnitten. Ja, sie würden das Unglück der Erde nur ausbreiten, daß schließlich selbst die Hunde verzweifelt heulten, weil man sie aus der ruhigen Zufriedenheit der Instinkte gerissen und zur Schmerzenshöhe der unbefriedigten Leidenschaften hob. Nein, das einzige Glück ist, nichts zu sein, oder, wenn man schon etwas ist, Baum zu sein, Stein zu sein, noch weniger: das Sandkorn, das nicht bluten kann unter dem Tritt der Menschen.

In dieser Verbitterung traten Herrn Hennebeau Tränen in die Augen und rannen heiß über seine Wangen. Die Straße lag schon in Dunkel gehüllt, als Steine gegen die Stirnwand des Hauses zu fliegen begannen. Ohne Zorn gegen diese Hungrigen und nur durch die brennende Wunde seines Herzens wütend gemacht, fuhr er fort unter Tränen zu stammeln:

»Diese Tröpfe! Diese Tröpfe!«

Doch der Schrei beherrschte alles; ein Geheul erhob sich mit Sturmesgewalt:

»Brot! Brot! Brot!«

Quelle:
Zola, Emile: Germinal. Berlin [1927], S. 369-384.
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