Zweites Kapitel

[415] Schnee fiel seit zwei Tagen; am Morgen hatte er aufgehört, und jetzt beherrschte eisiger Frost das ungeheure Winterfeld; dies schwarze Land mit den schwarzen Straßen und den mit Kohlenstaub bedeckten Mauern und Bäumen war ganz weiß, von einer einzigen endlosen Weiße. Das Dorf der Zweihundertvierzig war unter Schnee vergraben, gleichsam verschwunden. Kein Rauch stieg von den Dächern auf. In den Häusern brannte kein Feuer mehr; sie waren kalt wie die Steine auf der Straße, und so schmolz denn auch nicht die dicke Schneeschicht, die auf den Dächern lag. Das Dorf glich einem Viereck von weißen Blöcken in der weißen Ebene, wie ein Gespenst, das in Laken eingehüllt ist. Militärpatrouillen allein ließen in den Straßen die schmutzigen Spuren ihrer Tritte zurück.

Im Hause der Maheu war gestern die letzte Schaufel Kohlenstaub verbrannt; an eine Nachlese auf dem Hügel war nicht zu denken in diesem furchtbaren Wetter, wo selbst die Spatzen keinen Strohhalm mehr fanden. Alzire in ihrem Eigensinn hatte mit ihren warmen Händchen in dem Schnee umhergewühlt und sich dabei krank gemacht. Ihre Mutter hüllte sie in eine alte Decke, bis der Doktor Vanderhaghen käme, den sie schon zweimal gesucht hatte, ohne ihn zu finden. Die Magd hatte versprochen, der Arzt werde noch vor Abend nach dem Dorfe kommen. Jetzt stand die Mutter am Fenster und spähte auf die Straße hinaus, während die Kleine, die nicht oben hatte bleiben wollen, auf[415] einem Sessel neben dem kalten Ofen fror und sich einbildete, es sei hier besser. Der alte Bonnemort, den es wieder in den Beinen gepackt hatte, saß ihr gegenüber und schien zu schlafen. Weder Leonore noch Heinrich waren heimgekehrt; sie trieben sich mit Johannes bettelnd auf den Straßen umher. Maheu ging mit schweren Tritten in der Stube auf und ab; jedesmal stieß er an die Mauer mit der Blödigkeit eines Tieres, das seinen Käfig nicht mehr sieht. Auch das Petroleum war zu Ende gegangen; aber der Widerschein des Schnees erhellte trotz der Nacht die Stube mit einem fahlen Licht. Alzire beherrschte sich, um nicht zu zittern und ihre Eltern dadurch zu betrüben. Aber trotz ihres Mutes erbebte sie von Zeit zu Zeit so stark, daß man das Zucken ihres mageren, gebrechlichen Körpers unter der Decke wahrnehmen konnte.

Es war der Todeskampf; das Haus war vollständig kahl, der äußersten Not anheimgefallen. Nachdem sie die Wolle der Matratzen zur Trödlerin getragen, ließen sie die Leinentücher denselben Weg gehen; dann folgte die Wäsche und alles, was verkäuflich war. Eines Abends hatte man ein Schnupftuch des Großvaters um zwei Sous verkauft. Tränen wurden vergossen, sooft man sich von einem Stück Hausrat trennen mußte; die Mutter jammerte noch immer, weil sie eines Tages genötigt war, in ihrer Schürze die Schachtel von rosa Kartonpapier – ein Geschenk ihres Mannes – wegzutragen, wie man ein Kind wegträgt, um sich seiner unter einem Haustor zu entledigen. Sie waren nackt; sie hatten nichts mehr zu verkaufen als ihre Haut, und auch diese war schon so erbärmlich elend, daß kein Mensch einen Heller dafür gegeben hätte. Sie gaben sich denn auch keine Mühe mehr, etwas zu suchen; sie wußten, daß es nichts mehr gebe, daß alles zu Ende sei, daß sie weder auf eine Kerze hoffen konnten noch auf ein Stück Kohle oder eine Kartoffel; sie erwarteten den Tod; es bekümmerte sie nur wegen der Kinder; sie waren empört über die Grausamkeit des Geschicks, das[416] eine Krankheit über die Kleine gebracht hatte, ehe sie selbst sie erdrosselten.

»Endlich ist er da!« sagte Frau Maheu.

Ein schwarzer Schatten huschte am Fenster vorüber. Die Tür wurde geöffnet. Aber es war nicht der Doktor Vanderhaghen; sie erkannten den neuen Pfarrer Abbé Ranvier, der nicht überrascht schien, das Haus so tot zu finden, ohne Licht, ohne Feuer, ohne Brot. Er kam aus den Nachbarhäusern, ging von Familie zu Familie, um bereitwillige Arbeiter anzuwerben, wie Dansaert mit seinen Gendarmen es tat; er erklärte sich denn auch sogleich mit seiner fieberhaft erregten Sektiererstimme.

»Warum seid ihr am Sonntag nicht zur Messe gekommen, meine Lieben? Ihr tut unrecht; die Kirche allein kann euch retten ... Versprecht mir, am nächsten Sonntag zu kommen.«

Maheu schaute ihn an und setzte dann schwerfällig seinen Gang fort, ohne ein Wort zu sagen. Sein Weib antwortete dem Priester.

»Zur Messe, Herr Pfarrer? Wozu denn? Der liebe Gott kümmert sich wenig um uns. Was hat meine Kleine ihm getan, daß sie von Fieberschauern geschüttelt wird? Wir hatten noch nicht genug des Elends; er mußte sie mir krank machen zu einer Zeit, da ich ihr nicht eine warme Brühe geben kann.«

Der Priester blieb vor ihnen stehen und hielt eine lange Rede. Er beutete den Streik aus, dieses furchtbare Elend, diese erbitterte Rache des Hungers; er tat es mit dem Eifer eines Missionars, der um des Ruhmes der Religion willen den Wilden predigt. Er sagte, die Kirche sei mit den Armen, sie werde eines Tages die Gerechtigkeit zum Siege führen, den Zorn Gottes über die Ungerechtigkeiten der Reichen bringen. In Bälde werde dieser Tag leuchten; denn die Reichen hätten sich an die Stelle Gottes gesetzt, regierten ohne Gott, nachdem sie in gottloser Weise die Macht an sich gerissen.

Frau Maheu, die ihm zuhörte, glaubte Etienne zu hören, als er ihnen an den Augustabenden das Ende[417] ihres Elends ankündigte. Allein sie hatte gegen die Geistlichen stets ein gewisses Mißtrauen gehabt.

»Was Sie uns da erzählen, ist sehr schön, Herr Pfarrer«, sagte sie. »Aber sind Sie denn nicht in Übereinstimmung mit den Spießbürgern? ... Alle unsere früheren Pfarrer speisten auf der Direktion und drohten uns mit dem Teufel, wenn wir Brot verlangten.«

Er begann von neuem und sprach von dem beklagenswerten Mißverständnis zwischen der Kirche und dem Volk. Jetzt zog er in verhüllten Sätzen gegen die städtischen Pfarrer, gegen die Bischöfe los, die nur den Genüssen und der Herrschsucht lebten, in ihrer Verblendung und in ihrem Schwachsinn mit dem liberalen Bürgertum paktierten und nicht sahen, daß eben dies Bürgertum die Geistlichkeit ihrer Herrschaft über die Welt beraubte. Die Erlösung werde von den Landgeistlichen kommen; sie alle würden sich erheben, um mit Hilfe der Armen und Elenden das Reich Christi wiederherzustellen. Er schien schon an ihrer Spitze zu stehen; er richtete seine knochige Gestalt auf als Anführer, als Revolutionär des Evangeliums, die Augen von so viel Licht erfüllt, daß sie die dunkle Stube erhellten; die Predigt riß ihn fort, daß er sich in mystischen Worten erging. Die armen Leute verstanden ihn nicht mehr.

»Es ist unnötig, so viele Worte zu machen«, brummte Maheu plötzlich; »Sie hätten besser getan, uns ein Brot zu bringen.«

»Kommt Sonntag zur Messe!« rief der Priester. »Gott wird für alles sorgen.«

Er ging und trat bei den Levaque ein, um diese zu belehren, entrückt in seinen Traum von dem schließlichen Triumph der Kirche, weltfremd, ging er ohne Almosen, mit leeren Händen zu diesen Armen und Hungrigen.

Maheu ging noch immer in der Stube auf und ab; man hörte nichts als seine schweren Tritte, unter denen die Dielen erzitterten. Jetzt vernahm man ein Geräusch wie von einem rostigen Brunnenschwengel: der[418] alte Bonnemort spie in den kalten Kamin. Dann begannen wieder die gleichmäßigen Tritte. Alzire war infolge des Fiebers eingeschlafen und träumte still; sie lachte in dem Glauben, daß es warm sei, und daß sie im Sonnenschein spiele.

»Jetzt glüht sie in Fieberhitze«, murmelte die Maheu, indem sie dem Kinde die Wangen befühlte. »Ich erwarte dieses Schwein nicht mehr; die Räuber werden ihm verboten haben zu kommen.«

Sie sprach von dem Arzt und von der Gesellschaft. Dennoch stieß sie einen Freudenruf aus, als sie wieder die Tür aufgehen sah. Aber ihre Arme sanken herab; sie blieb mit düsterem Antlitz stehen.

»Guten Abend«, sagte Etienne halblaut, nachdem er die Tür sorgfältig geschlossen hatte.

Oft kam er so unter dem Schutz des nächtlichen Dunkels. Die Maheu hatte schon am zweiten Tage Kenntnis von seinem Schlupfwinkel erlangt. Aber sie bewahrten das Geheimnis; niemand im Dorfe wußte, was aus dem jungen Manne geworden. Dies Geheimnis umgab ihn wie eine Legende. Man fuhr fort, an ihn zu glauben; geheimnisvolle Gerüchte waren in Umlauf. Er werde mit einer Armee und mit goldgefüllten Kassen erscheinen. Es war noch immer die inbrünstige Erwartung eines Wunders, das zur Wirklichkeit gewordene Ideal, der plötzliche Einzug in die Stadt der Gerechtigkeit, die er ihnen verheißen hatte. Die einen behaupteten, sie hätten ihn in einer Kalesche in Gesellschaft von drei Herren auf der Straße nach Marchiennes fahren sehen; andere versicherten, er habe nur noch zwei Tage in England zu bleiben. Aber mit der Zeit kam das Mißtrauen; einzelne Spaßvögel beschuldigten ihn, daß er sich in einem Keller verborgen halte mit der Mouquette; denn dies Verhältnis war bekanntgeworden und hatte ihm geschadet. Seine Volkstümlichkeit war langsam verblaßt, die Verzweiflung wuchs.

»Welch ein Hundewetter!« sagte er. »Und bei euch nichts Neues? Geht's immer schlecht und schlechter?[419] Man hat mir gesagt, daß der kleine Negrel nach Belgien gegangen sei, um Leute aus dem Borinage anzuwerben. Wenn das wahr ist, sind wir verloren.«

Frösteln hatte ihn ergriffen, als er in diese eiskalte, dunkle Stube trat, wo seine Augen sich erst gewöhnen mußten, bis er die Unglücklichen sah, deren Anwesenheit er bisher nur nach den tiefern Schatten vermutet hatte. Er fühlte das Widerstreben, das Mißbehagen des Arbeiters, der über seiner Klasse steht, durch Studium verfeinert, durch Ehrgeiz angespornt. Welch Elend! Und dieser Geruch und diese Leiber auf einem Haufen und das furchtbare Mitleid, das ihm die Kehle zusammenschnürte! Der Anblick dieses Todeskampfes verstörte ihn so, daß er nach Worten suchte, um ihnen die Unterwerfung anzuraten.

Doch Maheu hatte sich heftig vor ihn hingestellt und schrie:

»Leute aus dem Borinage! Das werden die Kerle nicht wagen! Wenn sie ihre Gruben verwüstet sehen wollen, müssen sie nur belgische Arbeiter einfahren lassen!«

Etienne erklärte mit verlegener Miene, man könne sich nicht rühren; die Soldaten, welche die Gruben bewachten, würden auch die Einfahrt der belgischen Arbeiter sichern. Maheu ballte die Fäuste, besonders darüber aufgebracht – wie er sagte –, daß man die Bajonette im Rücken habe. Waren denn die Bergleute nicht mehr Herren im eigenen Hause? Behandelte man sie als Galeerensträflinge, indem man sie mit geladenen Gewehren zu arbeiten zwang? Er liebte seine Grube, und es verursachte ihm schweren Kummer, daß er seit zwei Monaten nicht mehr arbeitete. Darum ward ihm rot vor Augen bei dem Gedanken an diesen Schimpf, an diese Fremden, mit deren Ankunft man drohte. Wenn er sich erinnerte, daß man ihm sein Arbeitsbuch zurückgestellt hatte, brach ihm das Herz.

»Ich weiß übrigens nicht, weshalb ich zornig werde«, murmelte er. »Ich gehöre ja nicht mehr zur Grube ...[420] Wenn sie mich vertreiben, kann ich auf der Heerstraße verrecken.«

»Laß gut sein«, sagte Etienne. »Wenn du willst, nehmen sie morgen dein Arbeitsbuch wieder. Man entläßt die guten Arbeiter nicht.«

Er unterbrach sich erstaunt, weil er Alzire im Fieberdelirium leise kichern hörte. Er hatte bisher nur den Schatten des Vaters Bonnemort bemerkt, und die Heiterkeit dieses kranken Kindes entsetzte ihn. Es war zuviel des Elends, wenn schon die Kleinen zugrunde gingen. Mit zitternder Stimme entschloß er sich endlich zu sagen:

»Hör' einmal, das kann nicht länger dauern ... wir müssen uns ergeben.«

Frau Maheu, bisher unbeweglich und still, brach mit einmal los, schrie ihm ins Gesicht, duzte ihn und fluchte wie ein Mann.

»Was sagst du? ... Du sagst das? Himmelherrgott!«

Er wollte Gründe anführen, aber sie ließ ihn nicht zu Worte kommen.

»Sag' es nicht noch einmal, oder ich fahre dir mit den fünf Fingern ins Gesicht, obgleich ich ein Weib bin ... Wir sollen zwei Monate gedarbt, ich soll meinen Hausrat verkauft haben, wir sollen krank geworden sein: und all das für nichts? Und die Ungerechtigkeit soll von vorn beginnen? ... Wenn ich daran denke, erstickt mich mein Blut. Nein, nein, eher würde ich alles verbrennen, alles niedermetzeln, als mich ergeben.«

Sie zeigte mit einer drohenden Handbewegung auf den im Dunkel stehenden Maheu und sagte:

»Wenn mein Mann zur Grube zurückkehrt, erwarte ich ihn am Wege, um ihm ins Gesicht zu speien und ihn einen Feigling zu nennen!«

Etienne sah sie nicht, aber er verspürte den heißen Atem eines Tieres und wich betroffen zurück vor dieser Tollwut, die sein Werk war. Er fand sie so verändert, daß er sie nicht wiedererkannte; sie war ehemals so bedächtig, warf ihm seine Heftigkeit vor, sagte, daß[421] man niemand den Tod wünschen solle. Jetzt aber wollte sie der Vernunft kein Gehör schenken und sprach davon, alles niederzumetzeln. Nicht er sprach jetzt von Politik, sondern sie; sie wollte mit einem Schlage die Bürger hinwegfegen, forderte die Republik und die Guillotine, um die Erde von diesen diebischen Reichen zu befreien, die durch die Arbeit der Hungerleider fett geworden waren.

»Ja, mit meinen zehn Fingern würde ich sie schinden ... Es ist genug, denke ich. Unsere Zeit ist gekommen, du selbst hast es gesagt ... Wenn ich bedenke, daß der Vater, der Großvater, der Urgroßvater, alle Vorfahren gelitten haben, was wir leiden, und daß unsere Söhne, die Söhne unserer Söhne gleichfalls leiden werden, so werde ich toll und könnte ein Messer ergreifen ... Wir haben neulich noch nicht genug getan; wir hätten Montsou der Erde gleichmachen sollen bis auf den letzten Ziegel, und ich bedauere verhindert zu haben, daß der Alte die Tochter der Leute von der Piolaine erdrosselte ... Läßt man nicht den Hunger meine Kleinen erwürgen?«

Ihre Worte klangen wie Axthiebe im Dunkel der Nacht.

»Sie haben mich schlecht verstanden«, konnte Etienne endlich sagen, indem er den Rückzug antrat. »Man müßte zu einer Vereinbarung mit der Gesellschaft kommen; ich weiß, daß die Gruben infolge des Streiks großen Schaden leiden; die Gesellschaft würde einem Ausgleich sicherlich zustimmen.«

»Nein, nichts!« brüllte sie.

Eben kamen Leonore und Heinrich mit leeren Händen heim. Ein Herr hatte ihnen zwei Sous geschenkt; aber weil die Schwester dem Brüderchen immer Fußtritte versetzte, waren die zwei Sous in den Schnee gefallen. Johannes hatte ihnen suchen helfen, aber sie hatten sie nicht mehr gefunden.

»Wo ist Johannes?«

»Mutter, er ist fortgelaufen; er sagte, er habe zu tun.«[422]

Tiefbekümmerten Herzens hörte Etienne diese Erzählung. Ehemals hatte die Maheu ihren Kindern gedroht, ihnen die Hälse umzudrehen, wenn sie wagen sollten, die Hand auszustrecken. Heute schickte sie selbst die Kleinen auf die Straßen hinaus und sprach davon, daß sie alle, die zehntausend Bergleute von Montsou, mit dem Bettelstab das entsetzte Land durchziehen wollten.

Nun wurde der Jammer noch größer in dieser finsteren Stube. Die Kleinen waren hungrig heimgekehrt und wollten essen. Warum aß man nicht? fragten sie. Sie murrten, schleppten sich am Boden umher und traten ihrer sterbenden Schwester auf die Füße, daß sie schmerzlich stöhnte. Außer sich, schlug die Mutter im Finstern auf sie los. Als sie lauter schrien und Brot verlangten, brach sie in Tränen aus, sank auf die Fliesen, umschloß sie alle, auch die Kranke, in einer Umarmung und weinte lange, lange, hundertmal dieselben Worte stammelnd: »Gott, warum nimmst du uns nicht zu dir? Gott, aus Erbarmen, nimm uns zu dir, um ein Ende zu machen!« Der Großvater verharrte in der Unbeweglichkeit eines alten Baumes, den Sturm und Regen gebeugt und gekrümmt haben, während der Vater unablässig zwischen Kamin und Eßschrank hin und her ging, ohne den Kopf zu erheben.

Doch jetzt wurde die Tür geöffnet; diesmal war es Doktor Vanderhaghen.

»Teufel!« schalt er; »euch wird das Kerzenlicht auch nicht die Augen verderben! ... Rasch, rasch, ich habe Eile.«

Erschöpft von seiner Berufsarbeit, brummte er wie immer. Er hatte glücklicherweise Zündhölzchen bei sich; der Vater mußte sechs nacheinander anzünden und ihm leuchten, damit er die Kranke betrachten könne. Von der Decke befreit, zitterte sie unter dem flackernden Schein des Zündhölzchens, mager wie ein Vöglein, das im Schnee stirbt, und so gebrechlich, daß man nichts als den Höcker sah. Und sie lächelte noch; es war das irre Lächeln einer Sterbenden; die Augen[423] standen weit offen, die dürren Händchen krümmten sich auf der hohlen Brust. Als die Mutter, vom Schluchzen fast erstickt, fragte, ob es einen Sinn habe, daß ihr das einzige Kind genommen werde, das ihr in der Hauswirtschaft eine Stütze war, ein so sanftes und verständiges Kind, da wurde der Arzt böse.

»Sie geht von hinnen! ...« rief er. »Sie ist Hungers gestorben, deine Unglückstochter! .... Und sie ist nicht die einzige; nebenan habe ich noch eine gesehen. Ihr ruft mich alle, aber ich kann nichts tun. Ihr braucht Fleisch, um gesund zu werden!«

Maheu hatte das Zündhölzchen fallen lassen, weil es ihm die Finger verbrannte, und Finsternis senkte sich wieder auf die kleine, noch warme Leiche. Der Arzt war davongelaufen. Etienne hörte in der finsteren Stube nichts als das Schluchzen der Maheu, die immerfort den Tod herbeirief und endlos ihre Klage wiederholte:

»Gott, nimm mich zu dir! Jetzt ist an mir die Reihe! ... Gott, nimm meinen Mann zu dir und die anderen aus Erbarmen, um ein Ende zu machen!!«

Quelle:
Zola, Emile: Germinal. Berlin [1927], S. 415-424.
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