Erstes Kapitel

[465] Die in Montsou gefallenen Schüsse wurden in furchtbarem Widerhall bis Paris gehört. Seit vier Tagen waren alle regierungsfeindlichen Zeitungen entrüstet und brachten haarsträubende Schilderungen: fünfundzwanzig Verwundete, vierzehn Tote, darunter zwei Kinder und drei Frauen; außerdem die Gefangenen. Levaque war zu einem Helden geworden; man erzählte sich, daß er dem Untersuchungsrichter eine Antwort von wahrhaft antiker Würde gegeben habe. Das Kaiserreich, von diesen wenigen Kugeln schwer getroffen, hüllte sich in das Schweigen der Allmacht und war sich des Ernstes der ihm zugefügten Schädigung nicht bewußt. Es war einfach ein bedauerlicher Zusammenstoß; eine Sache, die sich weit unten im schwarzen Lande zutrug, fern von Paris, wo die öffentliche Meinung gemacht wurde. Man werde es bald vergessen. Die Gesellschaft erhielt auf halbamtlichem Wege die Weisung, die Geschichte zu unterdrücken und ein Ende zu machen mit diesem Streik, dessen ärgerlich lange Dauer eine soziale Gefahr zu werden drohte.

Man sah denn auch schon am Mittwoch morgen drei Verwaltungsräte in Montsou eintreffen. Das Städtchen, das bis jetzt nicht gewagt hatte, seine Genugtuung über das Gemetzel zu zeigen, atmete auf und genoß die Freude, endlich gerettet zu sein. Das Wetter war schön geworden; es herrschte heller Sonnenschein, dessen Wärme – obgleich man erst im Februar war – die Spitzen des Flieders grün färbte. Im Fabrikhof waren alle Fensterläden geöffnet; neues Leben schien in das weite Gebäude einzuziehen. Es kamen sehr gute[465] Nachrichten; es hieß, die Herren seien sehr betrübt über die Katastrophe und bereit, den verirrten Arbeitern ihre väterlichen Arme zu öffnen. Jetzt, nachdem der Streich geführt war, und zwar stärker als sie gewollt, widmeten sie sich mit voller Hingebung dem Rettungswerk und trafen – allerdings etwas spät – ganz vortreffliche Maßnahmen. Vor allem entließen sie die belgischen Arbeiter und machten großen Lärm von diesem Zugeständnis. Dann hoben sie die militärische Besatzung der Gruben auf, die übrigens von den zu Boden geschmetterten Bergleuten nicht mehr bedroht waren. Sie setzten es auch durch, daß Stillschweigen beobachtet wurde wegen der verschwundenen Schildwache. Man hatte die ganze Gegend durchsucht, ohne die Leiche oder das Gewehr zu finden; man entschloß sich, den Soldaten als fahnenflüchtig zu betrachten, wenngleich man ein Verbrechen vermutete. Sie bemühten sich, die Ereignisse in jeder Hinsicht milder darzustellen; denn sie hatten Angst vor dem kommenden Tag. Dies Versöhnungswerk hinderte sie nicht, reine Verwaltungsgeschäfte abzuwickeln; man hatte Herrn Deneulin wieder im Fabrikhof erscheinen sehen, wo er eine Begegnung mit Herrn Hennebeau hatte. Die Verhandlungen wegen des Ankaufs der Vandamegrube wurden wieder aufgenommen, und man versicherte, daß Deneulin das Angebot der Verwaltungsräte annehme.

Ganz besonders brachten die Gegend in Aufregung große gelbe Anschlagzettel, welche die Verwaltung in Menge an die Mauern schlagen ließ. Man las darauf in sehr großer Schrift die folgenden Zeilen:


»Arbeiter von Montsou!


Wir wollen nicht, daß die Verirrungen, deren traurige Folgen ihr gesehen habt, die gutgesinnten und vernünftigen Arbeiter ihrer Existenzmittel berauben. Wir werden am Montagmorgen alle Gruben wieder öffnen, und wenn die Arbeit aufgenommen ist, werden wir sorgfältig und wohlwollend prüfen, wie die Lage verbessert[466] werden kann. Wir werden alles tun, was recht und möglich ist.«

An einem einzigen Vormittag zogen zehntausend Bergleute an den Anschlagzetteln vorüber. Kein einziger sprach ein Wort; viele schüttelten die Köpfe; andere gingen mit schleppenden Schritten weiter, ohne daß eine Falte in ihrem unbeweglichen Gesicht gezuckt hätte.

Bisher hatte das Dorf der Zweihundertvierzig hartnäckig in seinem trotzigen Widerstand ausgeharrt. Es schien, als habe das Blut der Kameraden allen übrigen den Weg zur Grube verlegt. Kaum zehn Mann waren eingefahren: Pierron und einige Verräter seines Schlages, deren Ein- und Ausfahrt man mit trotziger Miene, aber ohne Bewegung und ohne eine Drohung mit ansah. Der Anschlagzettel an der Kirchenmauer wurde mit Mißtrauen aufgenommen. In ihm war nichts von den Arbeitsbüchern erwähnt; weigerte sich die Gesellschaft etwa, sie zurückzunehmen? Die Furcht vor der Vergeltung, die brüderliche Auflehnung gegen Entlassung der bloßgestellten Kameraden bestärkte sie alle in ihrer Hartnäckigkeit. Die Sache sei verdächtig, sagten sie; man müsse sehen, was daraus werde, wenn die Herren sich offen erklärten. Eine drückende Stille lag auf den niedrigen Häusern; der Hunger war nichts mehr; alle konnten sterben, seitdem der gewaltsame Tod über sie hinweggefahren.

Das Haus der Maheu besonders lag finster und stumm in seiner düsteren Trauer. Seitdem die Maheu ihren Mann zu Grabe getragen, hatte sie den Mund nicht mehr geöffnet. Nach dem Kampf hatte sie geschehen lassen, daß Etienne die halbtote, über und über mit Schmutz bedeckte Katharina in das Elternhaus zurückführte. Etienne schlief bei Johannes, auf die Gefahr hin, verhaftet zu werden, von einem solchen Widerstreben gegen den Gedanken an eine Rückkehr nach der Réquillartgrube erfaßt, daß er das Gefängnis vorzog; ein Schauder schüttelte ihn, das Entsetzen vor der[467] Nacht nach so vielen Morden, die uneingestandene Furcht vor dem kleinen Soldaten, der dort unter den Felsen schlief. In dem Kummer über seine Niederlage erschien ihm übrigens das Gefängnis wie ein Zufluchtsort; doch man behelligte ihn nicht, und er brachte seine Stunden trostlos hin; er wußte nicht, wie er seinen Körper ermüden sollte. Zuweilen betrachtete die Maheu beide, ihn und ihre Tochter, mit grollender Miene, die zu fragen schien, was sie in ihrem Hause suchten.

Jetzt schnarchten wieder alle; Vater Bonnemort hatte das frühere Bett der beiden Kleinen, die jetzt bei Katharina schliefen, weil die arme Alzire nicht mehr ihren Höcker der großen Schwester in die Seiten stieß. Erst wenn alle schlummerten, fühlte die Mutter so recht die Leere des Hauses. Vergebens nahm sie Estelle zu sich, es war kein Ersatz für ihren Mann. Stundenlang weinte sie still vor sich hin. Dann vergingen die Tage wie ehedem; man hatte noch immer kein Brot und auch keine Aussicht zu sterben; rechts und links ward allerlei Zeug aufgelesen, das den Bejammernswerten den Dienst erwies, ihr Leben zu verlängern.

Am Nachmittag des fünften Tages verließ Etienne, gequält durch den Anblick des stillen Weibes, die Wohnstube und ging mit langsamen Schritten die gepflasterte Straße des Dorfes hinab. Die Untätigkeit, die ihn bedrückte, drängte ihn zu unaufhörlichen Spaziergängen, bei denen er, immer von dem nämlichen Gedanken heimgesucht, mit hängenden Armen und gesenktem Kopf dahinschritt. Er mochte so seit einer halben Stunde auf der Straße fortgegangen sein, als erhöhtes Unbehagen ihn merken ließ, daß die Kameraden vor die Haustüren traten und ihm nachsahen. Das wenige, was ihm von seiner Volkstümlichkeit noch geblieben, war mit den Schüssen verflogen; er konnte nicht mehr durch die Straße gehen, ohne haßerfüllten Blicken zu begegnen. Wenn er das Haupt erhob, sah er Männer in drohender Haltung auf der Schwelle der[468] Haustüren; die Weiber schoben die Vorhänge von den Fenstern weg, um hinauszuschauen; und unter dieser stummen Anklage, dem unterdrückten Zorn, der aus diesen großen, durch Hunger und Tränen erweiterten Augen funkelte, verlor er seine Fassung und die Sicherheit seines Ganges. Die stummen Vorwürfe wuchsen immer mehr an. Angesichts dieses ganzen Dorfes, das auf die Straße herauskam, um ihm sein Elend ins Gesicht zu schreien, wurde er von solcher Furcht erfaßt, daß er zusammenfuhr und den Rückweg antrat.

Doch die Szene, die ihn erwartete, verstörte ihn vollends. Der alte Bonnemort saß neben dem Kamin, auf seinem Sessel festgenagelt, seitdem zwei Nachbarn am Tage des Gemetzels ihn neben seinem zersplitterten Stabe, wie einen vom Blitz gefällten Baum, auf der Erde liegend gefunden hatten. Während Leonore und Heinrich mit betäubendem Geräusch eine alte Schüssel auskratzten, in der am vorhergehenden Tage Kohl gekocht worden, drohte die Maheu, die aufrecht vor dem Tisch stand, auf den sie Estelle gelegt hatte, ihrer Tochter Katharina mit der Faust.

»Sag' das noch einmal!« schrie sie.

Katharina hatte ihre Absicht ausgesprochen, nach der Voreuxgrube zurückzukehren. Der Gedanke, ihr Brot nicht selbst zu erwerben, bei ihrer Mutter nur geduldet zu sein wie ein lästiges, unnützes Tier, wurde ihr mit jedem Tage unerträglicher. Hätte sie nicht einen bösen Streich von Chaval gefürchtet, sie wäre schon am Dienstag eingefahren.

»Was willst du? Man kann nicht müßig leben«, stammelte sie. »Wir haben dann wenigstens Brot.«

Die Maheu unterbrach sie.

»Höre, ich erwürge den ersten von euch, der zur Arbeit zurückkehrt ... Den Vater töten und dann die Kinder ausbeuten! Es ist genug; lieber will ich euch alle zwischen vier Brettern hinausgetragen sehen!«

Nach ihrem langen Stillschweigen machte sich ihr Zorn in einer Flut von Worten Luft. Was Katharina[469] bringen könnte, würde sehr wenig nützen: kaum dreißig Sous, zu denen noch zwanzig Sous hinzukämen, wenn die Vorgesetzten für den Banditen Johannes irgendeine Arbeit fänden. Fünfzig Sous, um sieben Mäuler zu stopfen! Die kleinen Kinder seien nur gut dazu, Suppe zu fressen. Beim Großvater müsse etwas im Gehirn geplatzt sein, denn er scheine ganz schwachsinnig; oder der Schlag habe ihn gerührt, als er die Soldaten auf die Kameraden schießen sah.

»Nicht wahr, Alter, sie haben Euch vollends heruntergebracht? Es nützt Euch nichts, daß Ihr noch starke Fäuste habt; Ihr seid ›fertig‹?«

Bonnemort schaute sie mit erloschenen Augen an, ohne zu verstehen. Er verharrte so stundenlang mit starren Blicken; er hatte nur noch soviel Verstand, in eine mit Sand gefüllte Platte zu speien, die man ihm der Reinlichkeit halber hingestellt hatte.

»Sie haben auch seine Pension nicht geregelt«, fuhr sie fort; »ich bin überzeugt, sie werden ihm seine Altersversorgung wegen unseres Verhaltens vorenthalten.«

»Aber«, fiel Katharina ein, »sie versprechen doch auf dem Anschlagzettel ...«

»Laß mich in Frieden mit dem Anschlagzettel ... Das ist wieder nur ein Köder, um uns zu fangen. Sie wollen jetzt die Wohltäter spielen, nachdem sie uns die Haut durchlöchert haben.«

»Aber wo gehen wir hin, Mutter? Man wird uns sicher nicht im Dorf behalten ...«

Die Maheu machte eine ungewisse Gebärde. Wohin sie gehen würden? Sie wußte es nicht und dachte auch nicht darüber nach, denn es raubte ihr den Verstand. Sie würden anderswohin, irgendwohin gehen. Da der Lärm mit der Schüssel zu arg wurde, fiel sie über die Kleinen her und prügelte sie. Estelle, die auf allen vieren kroch, fiel, und ihr Geschrei vermehrte noch den Lärm. Die Mutter schrie sie an, um sie still zu machen. Welch ein Glück wäre es gewesen, wenn die[470] Kleine sich zu Tode gefallen hätte! Sie sprach von Alzire und wünschte den anderen Kindern dasselbe Schicksal. Dann plötzlich brach sie in Schluchzen aus und weinte – den Kopf an die Wand gelehnt – lange vor sich hin.

Etienne stand mitten in der Stube; er hatte nicht den Mut sich einzumengen. Er galt im Hause nichts mehr; selbst die Kinder wichen mißtrauisch vor ihm zurück. Aber die Tränen dieses unglücklichen Weibes bedrückten ihm das Herz.

»Mut, Mut!« sagte er tröstend. »Wir werden versuchen, wieder hochzukommen.«

Sie schien ihn nicht zu hören und fuhr in ihrer leisen Klage fort.

»Ist's denn möglich? Vor diesen Schreckenstagen ging es noch. Man aß sein trockenes Brot, aber man war doch beisammen ... Was haben wir getan, daß so schweres Leid über uns gekommen ist? Daß die einen unter der Erde liegen und die andern nichts sehnlicher wünschen, als ebenfalls dahinzukommen? ... Man spannte uns wie Pferde vor die Arbeit; es war keine gerechte Teilung, daß wir die Stockstreiche empfingen, das Vermögen der Reichen vermehren halfen ohne Hoffnung, jemals etwas Gutes zu genießen. Man hat keine Lust zu leben, wenn man keine Hoffnung mehr hat. Ja, es konnte so nicht länger dauern ... Und doch, wenn man gewußt hätte! Ist es möglich, daß man so unglücklich werden kann, weil man Gerechtigkeit wollte?«

Ihre Stimme erstarb in unendlicher Trauer.

»Immer sind Schlauköpfe da, die einem versprechen, daß alles wieder gut wird, wenn man sich Mühe gibt ... Man setzt sich allerlei Dinge in den Kopf und leidet soviel durch das, was ist, daß man nach dem verlangt, was nicht ist. Ich träumte und sah ein Leben der Freundschaft mit aller Welt; ich schwebte in der Luft zu den Wolken empor. Da fällt man in den Schmutz und zerbricht sich die Knochen. Das Elend kam, mehr als man wollte, und Flintenschüsse dazu ...«[471]

Etienne wußte nicht, was er sagen sollte, um Frau Maheu zu beruhigen, die ganz gebrochen schien. Sie war mitten in die Stube getreten, schaute ihm ins Gesicht und rief in einer letzten Aufwallung irrer Wut:

»Und was ist's mit dir? Redest du auch davon, zur Grube zurückzukehren, nachdem du uns alle ins Unglück gebracht hast? ... Ich will dir keinen Vorwurf machen, aber an deiner Stelle wäre ich schon tot vor Kummer darüber, soviel Elend über die Kameraden gebracht zu haben!«

Er wollte antworten; doch begnügte er sich, mit verzweifelter Miene die Achseln zu zucken. Wozu sollte er ihr Erklärungen geben, die sie in ihrem Schmerze nicht verstehen würde? Weil ihn das Leid zu sehr bedrückte, ging er fort und nahm seine ziellose Wanderung wieder auf.

Das Dorf schien ihn noch immer zu erwarten, die Männer auf den Türschwellen, die Weiber an den Fenstern. Sobald er sich zeigte, ging ein Gemurmel durch die Menge, das immer mehr anwuchs. Das Gerede der Klatschbasen schwoll seit vier Tagen an und brach jetzt in einer allgemeinen Verwünschung los. Fäuste wurden nach ihm ausgestreckt; Mütter zeigten ihn ihren Söhnen mit wütender Gebärde; die Alten spien aus, als sie ihn erblickten. Es war der Umschwung nach der Niederlage, die verhängnisvolle Kehrseite der Volkstümlichkeit; ein Abscheu, verschärft durch alle Leiden, die man zu ertragen hatte. Er sollte ihnen Hunger und Tod entgelten.

Zacharias, der eben mit Philomene ankam, stieß Etienne an, als dieser aus dem Hause heraustrat. Er grinste höhnisch und rief in boshaftem Ton:

»Schau, wie fett er wird! Die Not der andern scheint ihn zu mästen!«

Schon erschien die Levaque, von Bouteloup begleitet, auf der Schwelle ihrer Haustür. Sie zeterte über Bebert, ihren Knaben, den eine Kugel niedergestreckt hatte.[472]

»Ja, es gibt Feiglinge, welche die Kinder niedermetzeln lassen!« schrie sie. »Mag er das meine aus der Erde holen, wenn er es mir wiedergeben will!«

Sie hatte ihren Mann vergessen, der eingesperrt war; im Haushalt trat keine Stockung ein, denn Bouteloup war da. Doch jetzt erinnerte sie sich und fuhr mit schriller Stimme fort:

»Die Schurken sieht man lustwandeln, während die rechtschaffenen Leute eingesperrt sind!«

Als Etienne ihr ausweichen wollte, begegnete er Frau Pierron, welche durch die Gärten herbeieilte. Sie hatte den Tod ihrer Mutter wie eine Erlösung begrüßt, denn die Heftigkeit der Alten hatte dem Ehepaar viel Verdruß verursacht; sie weinte auch nicht um die Tochter ihres Mannes; sie war froh, sie los zu sein. All dies hinderte sie aber nicht, es jetzt mit den Nachbarinnen zu halten; es war eine Gelegenheit, sich mit ihnen auszusöhnen.

»Und meine Mutter? Sprich! Und das Kind! Man hat dich gesehen, wie du dich hinter ihnen verstecktest, als sie statt deiner die Kugeln empfingen!«

Was sollte er tun? Die Pierron und die anderen erdrosseln, es mit dem ganzen Dorf aufnehmen? Einen Augenblick hatte er Lust dazu. Das Blut stieg ihm zu Kopf. Abscheu ergriff ihn, als er sich ohnmächtig sah, und er begnügte sich die Schritte zu beschleunigen, als sei er taub gegen alle Verwünschungen. Doch sein Gang wurde bald zur Flucht; aus jedem Hause flogen ihm Beschimpfungen zu, man war wütend hinter ihm her; ein ganzes Volk verfluchte ihn mit immer mächtiger anschwellender Stimme in überströmendem Haß. Er war der Ausbeuter, der Mörder, die einzige Ursache alles Unglücks. Bleich und seiner Sinne nicht mehr mächtig, rannte er aus dem Dorf, die heulende Bande hinter ihm her. Auf der Straße ließen viele von ihm ab, einige jedoch waren hartnäckig und hielten aus; da, vor der Schenke »Zum wohlfeilen Trunk«, stieß er auf eine andere Gruppe, die aus dem Voreuxschacht kam.[473]

Der alte Mouquet und Chaval waren dabei. Seit dem Tode seiner Tochter Mouquette und seines Sohnes Mouquet hatte der Alte seinen Stallwärterdienst fortgesetzt, ohne ein Wort des Bedauerns oder der Klage hören zu lassen. Doch als er Etienne bemerkte, wurde er von Wut geschüttelt, Tränen stürzten aus seinen Augen, und eine Flut von Schimpfreden kam aus seinem schwarzen, blutigen Mund.

»Halunke! ... Wart'! Du sollst mir meine armen Kinder entgelten! Du mußt ihnen nach!«

Er hob einen Ziegel auf, zerbrach ihn und schleuderte die beiden Stücke nach Etienne.

»Ja, ja, wir wollen ihn fassen!« rief Chaval höhnisch, voll Freude über diese Rache. »Jeder kommt an die Reihe ... Nun klebst du an der Mauer, schmutziger Lumpenkerl!«

Auch er stürzte sich mit Steinwürfen auf Etienne. Ein wildes Geschrei erhob sich; alle ergriffen Ziegel, zerbrachen und schleuderten sie nach ihm, um ihn zu töten, wie sie die Soldaten morden wollten. Er hatte den Kopf verloren und floh nicht mehr; er hielt ihnen stand und suchte sie zu beschwichtigen. Er wiederholte die Worte, mit denen er sie betäubt hatte zu jener Zeit, da er sie in seiner Gewalt hatte wie eine Herde; allein seine Macht war tot, Steine waren die Antwort. Da traf ihn ein Wurf am linken Arm; er wich zurück, die Gefahr war groß, er war gegen die Mauer des Wirtshauses gedrängt worden.

Seit einer Weile stand Rasseneur auf der Schwelle.

»Komm herein!« sagte er einfach.

Etienne zögerte; es bedrückte ihn, hier Zuflucht zu suchen.

»Komm herein; ich will mit den Leuten reden.«

Er entschloß sich und verbarg sich im Hintergrund des Saales, während der Schankwirt mit seinen breiten Schultern den Eingang verstellte.

»Hört, meine Freunde, nehmt doch Vernunft an! ... Ihr wißt wohl, daß ich euch niemals getäuscht habe.[474] Ich war stets für die Ruhe; hättet ihr mir Gehör geschenkt, ihr wärt heute gewiß nicht dort, wo ihr seid.«

Die Schultern und den Leib wiegend, sprach er lange in diesem Ton; seine leichte Beredsamkeit sprudelte wohltuend und besänftigend hervor wie warmes Wasser. Sein ehemaliger Erfolg stellte sich wieder ein; er gewann seine Volkstümlichkeit wieder ohne Anstrengung, als hätten die Kameraden einen Monat früher ihn nicht verhöhnt und einen Feigling geschimpft. Einzelne Stimmen gaben ihm recht. Sehr gut! Man halte zu ihm, hieß es. So müsse man reden. Alle klatschten ihm Beifall.

Etienne fühlte die Kräfte schwinden und das Herz sich mit Bitternis füllen. Er erinnerte sich, was Rasseneur im Walde ihm vorausgesagt, wie er ihm mit dem Undank der Menge gedroht hatte. Welch blöde Roheit, welch schmähliches Vergessen der geleisteten Dienste! Er erinnerte sich, daß unter den Buchen des Waldes von Vandame dreitausend Herzen bei seinen Worten höher geschlagen hatten. An jenem Tage gehörte dies Volk ihm; er fühlte sich als Herr. Wahnsinnige Träume hatten ihn damals betäubt; Montsou lag zu seinen Füßen; er sah sich als Abgeordneten in Paris, die Bürger mit einer Rede zu Boden schmetternd, der erste Arbeiter auf der Parlamentstribüne. Jetzt war's aus! Er erwachte als ein Erbärmlicher und Verachteter; sein Volk schickte ihn mit Steinwürfen heim.

Rasseneurs Stimme erhob sich von neuem:

»Die Gewalt hat niemals zu einem Erfolg geführt; man kann die Welt nicht in einem Tage ändern. Die euch versprochen haben, alles mit einem Schlage zu ändern, sind Spaßvögel oder Schurken.«

»Bravo! Bravo!« schrie die Menge.

Wer war also der Schuldige? Diese Frage, die Etienne sich vorlegte, drückte ihn nieder. Dies Unglück, unter dem er selbst blutete; das Elend der einen, der Tod der andern, das Darben der Weiber und der[475] Kinder: war all dies wirklich seine Schuld? Er hatte sie niemals geleitet; vielmehr waren sie es, die ihn führten, die ihn nötigten, Dinge zu tun, die er ohne das ungestüme Drängen der Menge nicht getan hätte. Bei jeder neuen Gewalttat hatte er unter dem verblüffenden Eindruck der Ereignisse gestanden, er hatte keines vorausgesehen oder gewollt. Konnte er darauf gefaßt sein, daß seine Kameraden ihn eines Tages steinigen würden? Er fühlte, daß es mit seinem Mut zu Ende sei; er war nicht mehr einig mit seinen Kameraden; er hatte Furcht vor ihnen, vor dieser ungeheuren, blinden, unwiderstehlichen Masse, die wie eine Naturgewalt daherzog. Der Widerwille hatte ihn allmählich vom Volke losgelöst, das Unbehagen seines verfeinerten Geschmacks, das langsame Emporstreben seines ganzen Wesens zu einer höheren Gesellschaftsklasse.

In diesem Augenblick verlor sich Rasseneurs Stimme in dem begeisterten Geschrei der Menge.

»Hoch Rasseneur! Bravo! Bravo!«

Der Schankwirt schloß die Tür, während die Menge sich draußen zerstreute. Die beiden Männer betrachteten einander stillschweigend und zuckten die Achseln. Schließlich tranken sie zusammen einen Schoppen. –

Am nämlichen Tage wurde ein großes Festmahl in der Piolaine veranstaltet. Man feierte die Verlobung von Negrel und Cäcilie. Die Grégoire hatte am vorhergehenden Tage den Fußboden des Speisezimmers frisch wichsen und die Möbel des Salons abstauben lassen. Melanie herrschte in der Küche, überwachte die Braten, rührte die Tunken, deren Geruch bis zum Dachboden emporstieg. Niemals hatte solcher Aufwand von Prunk dies patriarchalische und ernste Hauswesen aus dem Alltagsgeleise gebracht.

Alles ging trefflich vonstatten. Frau Hennebeau zeigte sich überaus liebenswürdig gegen Cäcilie und lächelte Negrel zu, als der Notar von Montsou die Gesellschaft einlud, auf das Wohl des Brautpaares zu trinken. Auch Herr Hennebeau war sehr liebenswürdig. Seine lachende[476] Miene fiel den Gästen auf; man erzählte sich, daß er bei der Bergwerksverwaltung wieder in Gunst stehe und demnächst Offizier der Ehrenlegion werden solle zum Lohne für die tatkräftige Art, wie er den Streik niedergeschlagen hatte. Man vermied es, von den letzten Ereignissen zu sprechen; aber das Festmahl gestaltete sich zu einer öffentlichen Siegesfeier. Endlich war man befreit; man konnte wieder in Ruhe essen und schlafen. Doch fiel eine versteckte Anspielung auf die Toten, deren Blut der Boden im Werkhof von Voreux noch nicht völlig eingesogen hatte, und alle wurden von Rührung ergriffen, als die Grégoire hinzufügten, daß jetzt jedermann die Pflicht habe, die Arbeiterdörfer aufzusuchen und die Wunden zu verbinden.

Deneulin war mit seinen beiden Töchtern da. Er bemühte sich, inmitten des allgemeinen Frohsinns den Kummer über seinen Ruin zu verbergen. Am Morgen hatte er den Vertrag über den Verkauf seines Unternehmens an die Gesellschaft von Montsou unterschrieben. An die Wand gedrückt, hatte er sich den Bedingungen des Verwaltungsrates gefügt, ihnen endlich die Beute, auf die sie so lange gelauert hatten, für einen Betrag überlassen, der kaum hinreichte, seine Gläubiger zu befriedigen. Er hatte sogar im letzten Augenblick ihr Anerbieten angenommen, als Abteilungsingenieur in ihre Dienste zu treten; er entschloß sich, als bezahlter Beamter jenes Bergwerk zu überwachen, in dem sein Vermögen begraben lag. Er allein zahlte die Kosten des Streiks; er fühlte wohl, daß man auf sein Unglück trank, als man Herrn Hennebeau feierte, und schöpfte nur Trost aus dem Mut seiner Töchter, die reizend aussahen in ihren aufgefrischten Toiletten und über ihren Ruin lachten wie hübsche Mädchen, die sich aus Geld nichts machen.

Als man in den Salon hinüberging, um dort den Kaffee zu nehmen, führte Herr Grégoire seinen Vetter beiseite und beglückwünschte ihn zu seinem mutigen Entschluß.[477]

»Was willst du? Dein einziger Fehler war der, daß du deinen Anteil an Montsou, eine Million, in Vandame riskiertest. Du hast dich furchtbar geplagt, und das Geld ist in dieser Hundearbeit draufgegangen, während das meine ruhig im Schrank geblieben ist und mich schön ernährt, ohne daß ich eine Hand zu rühren brauche, wie es noch die Kinder meiner Enkelkinder ernähren wird.«

Quelle:
Zola, Emile: Germinal. Berlin [1927], S. 465-478.
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