Drittes Kapitel

[243] Zwei Wochen waren verflossen; am Montag der dritten Woche zeigten die an die Direktion gesandten Listen eine weitere Verminderung der Anzahl der eingefahrenen Arbeiter. Diesen Morgen zählte man auf die Wiederaufnahme der Arbeit; allein die Hartnäckigkeit der Verwaltung, die nicht nachgeben wollte, erbitterte die Bergarbeiter. Die Gruben le Voreux, Crèvecœur, Mirou, Magdalene waren nicht die einzigen, die feierten; in der Siegesgrube und Feutry-Cantel fuhr jetzt kaum der vierte Teil der Arbeiter ein; auch der Thomasschacht war schon von dem Streik berührt. Der Ausstand wurde nachgerade allgemein.

Bei dem Voreuxschacht lag tiefe Stille auf dem Grubenhof. Es war die tote Fabrik, die Leere und Verlassenheit der großen Werkstätten, wo die Arbeit feiert. Auf den hohen Gestellen standen unter dem grauen Dezemberhimmel einige Karren von trübseligem Aussehen. Der zwischen den dünnen Füßen der Gestelle angehäufte Kohlenvorrat erschöpfte sich, so daß die kahle, schwarze Erde sichtbar wurde, während das Holz unter der Einwirkung der Regengüsse allmählich in Fäulnis überging. Am Landungsplatz des Kanals lag ein halbbeladener Kahn, gleichsam in dem trüben Wasser schlummernd; und auf dem verlassenen Hügel, dessen Schwefelerz trotz des Regens dampfte, streckte ein einsamer Handkarren seine Gabeldeichsel traurig gen Himmel. Doch am trostlosesten sahen die Gebäude aus; das Sichtungswerk mit den geschlossenen Fensterläden, der Fahrstuhl, in dem das Gedröhne der aufsteigenden Karren nicht mehr ertönte, die kalt gewordenen Dampfkessel und der riesige Schlot, der für den spärlichen Rauch viel zu breit war. Die Fördermaschine wurde nur am Morgen geheizt; die Pferdewärter brachten ihren Tieren das Futter; die Aufseher allein arbeiteten in den Gruben als gewöhnliche Arbeiter, um Einstürze zu verhüten; von neun Uhr an dienten die Leitern[244] zum Auf- und Abstieg. Über diesen toten Gebäuden, die in ein Leichentuch von schwarzem Staub gehüllt waren, strömte nur noch der Dampf aus der Pumpe mit zischendem Atem: der letzte Rest von Leben in der Grube, die vom Wasser überflutet wäre, wenn auch die Pumpe stillgestanden hätte.

Das auf der Hochebene gelegene Dorf der Zweihundertvierzig schien tot. Der Präfekt von Lille war herbeigeeilt, Gendarmen streiften auf den Straßen; allein angesichts der ruhigen Haltung der Streikenden hatten sie sich entschlossen heimzukehren. Niemals hatte das Dorf sich so musterhaft betragen. Um nicht in die Schenke zu gehen, schliefen die Männer den ganzen Tag; die Weiber verkürzten ihre Kaffeebesuche und wurden vernünftig, weniger geschwätzig, weniger zänkisch; selbst die Kinder schienen die Lage zu begreifen und benahmen sich so artig, daß sie mit nackten Beinen umherliefen und einander geräuschlos ohrfeigten. Es war die Losung, die von Mund zu Mund ging: man wollte sich klug betragen.

Im Hause Maheus jedoch war ein ununterbrochenes Kommen und Gehen von Leuten. In seiner Eigenschaft als Sekretär hatte Etienne die dreitausend Franken der Unterstützungskasse unter die notleidenden Familien verteilt. Dann waren von verschiedenen Seiten einige hundert Franken gekommen, das Ergebnis von freiwilligen Spenden und Sammlungen. Doch jetzt waren alle Hilfsquellen versiegt, die Grubenarbeiter hatten kein Geld mehr, um den Streik durchzuhalten, und der längst drohende Hunger war da. Der Krämer Maigrat hatte anfänglich einen vierzehntägigen Kredit in Aussicht gestellt, sich aber nach acht Tagen plötzlich eines andern besonnen und die Lieferung von Lebensmitteln eingestellt. In der Regel holte er die Weisungen der Gesellschaft ein; vielleicht wünschte diese sogleich ein Ende zu machen, indem sie die Dörfer aushungerte. Er handelte übrigens als launischer Tyrann, bewilligte oder verweigerte das Brot, je nach dem Gesicht des[245] Mädchens, das die Eltern sandten, um die Vorräte zu holen; und er verschloß seine Tür vornehmlich der Frau Maheu, der er grollte, und die er strafen wollte, weil er Katharina nicht besessen hatte. Um das Maß des Elends vollzumachen, fror es sehr stark; die Weiber sahen voll Angst ihren Kohlenvorrat kleiner werden; es war nicht genug, vor Hunger zu verrecken, man sollte auch vor Kälte sterben.

Bei den Maheu fehlte schon alles. Die Levaque aßen noch; sie lebten von einem Zwanzigfrankenstück, das Bouteloup geliehen hatte. Die Pierron hatten immer Geld; aber um ebenso notleidend zu scheinen wie die andern, weil sie angepumpt zu werden fürchteten, versorgten sie sich auf Kredit bei Maigrat, der seinen ganzen Laden der Frau Pierron hingeworfen hätte, wenn sie sich ihm geneigt erwiesen hätte. Schon am Sonnabend waren viele Familien ohne Nachtessen zu Bett gegangen. Trotz der schrecklichen Tage, die jetzt begannen, war keine Klage zu vernehmen; alle gehorchten ruhigen Mutes der Losung. Das war immerhin ein unbedingtes Vertrauen, eine andächtige Zuversicht, die blinde Hingebung eines Volkes von Gläubigen. Die Kasse war erschöpft, die Gesellschaft schien nicht nachgeben zu wollen, jeder Tag mußte die Lage erschweren, aber sie bewahrten ihre Hoffnung und zeigten eine lächelnde Mißachtung der Tatsachen. Dieser Glaube ersetzte das Brot und hielt den Leib warm.

Wenn die Maheu und die anderen zu schnell ihre klare Wassersuppe verdaut hatten, erlebten sie wie in einem Halbtaumel den Traum von einem schöneren Leben, die Verzückung der Märtyrer, die den wilden Tieren vorgeworfen werden.

Jetzt war Etienne der anerkannte Führer. In den abendlichen Unterhaltungen gab er Prophezeiungen zum besten, das Studium schärfte seinen Geist und erweiterte sein Verständnis für alle Dinge. Er verbrachte ganze Nächte über den Büchern und empfing immer mehr Briefe. Er hatte sogar den »Rächer« abonniert,[246] ein sozialistisches Blatt, das in Belgien erschien. Diese Zeitung, die erste, die in das Dorf kam, hatte ihm bei seinen Kameraden ein ganz außerordentliches Ansehen verschafft. Seine wachsende Volkstümlichkeit erregte ihn von Tag zu Tag mehr. Einen ausgedehnten Briefwechsel unterhalten, mit allen Gegenden der Provinz über das Schicksal der Arbeiter verhandeln, überhaupt ein Mittelpunkt sein, die Welt um sich kreisen sehen: all dies schmeichelte fortwährend der Eitelkeit des ehemaligen Mechanikers, des Kohlenschleppers mit den schwarzen Händen. Er stieg eine Stufe höher, er trat in dies verhaßte Bürgertum ein mit einer Genugtuung, die er sich nicht zu gestehen wagte. Nur ein Unbehagen war ihm geblieben, das Bewußtsein seiner mangelhaften Bildung, das ihn verlegen und schüchtern machte, sobald er sich einem Herrn in städtischem Rocke gegenüber befand. Wohl fuhr er mit heißer Wißbegierde fort, sich selbst zu unterrichten, allein bei dem Mangel an Methode war die Verdauung des Gelesenen eine langsame, und es entstand eine solche Verwirrung in ihm, daß er viele Dinge schrieb, die er nicht begriffen hatte. So geschah es denn, daß er in Stunden der Einsicht eine gewisse Unruhe über seine Berufung empfand, eine gewisse Furcht, nicht der erwartete Mann zu sein. Vielleicht hätte er ein Advokat, ein Gelehrter sein müssen, der die Fähigkeit besaß zu sprechen und zu handeln, ohne die Kameraden bloßzustellen? Allein eine innere Empörung gab ihm bald seine Kühnheit wieder. Nein, nein, kein Advokat, sie sind alle Halunken, nützen ihr Wissen aus, um sich auf Kosten des Volkes zu mästen! Es mochte kommen, wie es wollte: die Arbeiter mußten ihre Sache unter sich ausfechten. Abermals wiegte er sich in seinem Traum, ein Volksführer zu werden; er sah Montsou zu seinen Füßen, Paris in nebelhafter Ferne; konnte man wissen? Vielleicht werde er eines Tages zum Abgeordneten gewählt und in einem reichgeschmückten Saal die Rednertribüne besteigen, um von da das Spießbürgertum[247] zu vernichten mit der ersten Rede, die ein Arbeiter im Parlament hielt.

Seit einigen Tagen war Etienne in Verwirrung. Pluchart schrieb Brief auf Brief und machte sich erbötig, nach Montsou zu kommen, um den Eifer der Streikenden zu schüren. Es handelte sich darum, eine vertrauliche Besprechung zu veranstalten, deren Obmann der Mechaniker werden sollte; hinter diesem Plan barg sich der Gedanke, den Streik auszunutzen und die Bergleute, die sich bis jetzt mißtrauisch gezeigt hatten, für die Internationale zu gewinnen. Etienne fürchtete den Lärm, aber er hätte dennoch Pluchart kommen lassen, wenn nicht Rasseneur sich heftig gegen diese Einmengung ausgesprochen hätte. Trotz seiner Macht mußte der junge Mann Rücksicht auf den Schankwirt nehmen, der unter seinen Kunden treue Anhänger hatte. Er zögerte denn auch noch und wußte nicht recht, was er Pluchart antworten sollte.

Am Montag gegen neun Uhr kam wieder ein neuer Brief von Lille, als Etienne mit der Frau Maheu allein in der Wohnstube war. Maheu, den der Müßiggang krank machte, war angeln gegangen; wenn er das Glück haben sollte, unterhalb der Kanalschleuse einen schönen Fisch zu fangen, werde man ihn verkaufen und Brot dafür einhandeln. Der alte Bonnemort und der kleine Johannes waren fortgegangen, um ihre kranken Beine zu erproben, während die Kleinen mit Alzire unterwegs waren, die stundenlang auf dem Hügel zubrachte, um Kohlenstückchen zu sammeln. Die Maheu saß neben dem dürftigen Feuer, das sie nicht zu unterhalten wagte; sie stillte Estelle an ihrer Brust.

Als der junge Mann den Brief zusammenfaltete, fragte sie ihn:

»Sind's gute Nachrichten? Wird man uns Geld schicken?«

Er schüttelte verneinend den Kopf, worauf sie hinzufügte:[248]

»Ich weiß nicht, was wir diese Woche anfangen sollen. Doch wir wollen uns durchkämpfen. Wenn man das gute Recht für sich hat, verleiht es einem Mut. Wir sind schließlich doch die Stärkeren.«

Sie war jetzt auch für den Streik, nachdem sie die Sache überlegt hatte. Es wäre wohl vernünftiger gewesen, die Gesellschaft zur Gerechtigkeit zu zwingen, ohne die Arbeit zu verlassen. Aber nachdem man sie einmal verlassen, dürfe man sie nicht wieder aufnehmen, bevor man sein Recht errungen. Sie zeigte sich von einer unversöhnlichen Willensstärke. Lieber verrecken, als den Schein des Unrechts auf sich nehmen, wenn man das Recht für sich hatte!

»Möge doch eine tüchtige Cholera ausbrechen,« rief Etienne, »die uns von allen diesen Ausbeutern befreit!«

»Nein, nein«, sagte sie, »man soll niemand den Tod wünschen. Es wäre uns damit auch wenig geholfen, denn es kämen andere. Ich wünsche bloß, daß die Leute von der Gesellschaft vernünftig werden, und erwarte es auch, denn es gibt überall rechtschaffene Leute. Sie wissen, ich bin durchaus nicht für Ihre Politik.«

In der Tat tadelte sie gewöhnlich seine heftigen Worte. Sie fand, daß er ein Kampfhahn sei. Daß man sich seine Arbeit nach Verdienst bezahlen lasse, sei recht, aber was habe man sich mit einer Menge von Dingen zu beschäftigen, mit den Spießbürgern und der Regierung? Was habe man sich in die Angelegenheiten anderer einzumengen, wo man nur Hiebe davontragen könne? Indes bewahrte sie ihm Achtung, weil er sich nicht betrank und regelmäßig seine 45 Franken Pension bezahlt hatte. Wenn ein Mann sich nur anständig betrug, konnte man ihm alles übrige verzeihen.

Da sprach Etienne von der Republik, die jedermann Brot geben werde. Allein Frau Maheu schüttelte den Kopf, sie erinnerte sich des Jahres 48, eines Schreckensjahres, in welchem sie und ihr Mann, jung vermählt, die schlimmste Not zu leiden hatten.[249]

Sie verlor sich in eine Schilderung ihres Ungemachs mit dumpfer Stimme und stieren Augen, während ihre Tochter Estelle auf ihren Knien eingeschlafen war.

»Nicht einen Heller hatten wir«, murmelte sie; »nichts hinter die Zähne zu stecken. In allen Gruben stockte die Arbeit; es war das reine Elend für die armen Leute, ganz wie jetzt.«

Doch in diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und sie blieben stumm vor Überraschung, als sie Katharina eintreten sahen. Seit ihrer Flucht mit Chaval war sie nicht mehr im Arbeiterdorf erschienen. Ihre Verwirrung war so groß, daß sie zitternd und stumm dastand und die Tür zu schließen vergaß. Sie hatte darauf gezählt, ihre Mutter allein zu finden. Der Anblick des jungen Mannes ließ sie die Worte vergessen, die sie sich unterwegs zurechtgelegt hatte.

»Was willst du hier?« rief Frau Maheu, ohne sich von ihrem Sessel zu erheben. »Ich will von dir nichts wissen, geh!«

Katharina suchte nach Worten.

»Mama, ich bringe Kaffee und Zucker für die Kinder. Ich habe Überstunden gemacht und habe an die Kinder gedacht.«

Sie zog ein Pfund Kaffee und ein Pfund Zucker aus der Tasche und fand den Mut, diese Dinge auf den Tisch zu legen. Der Streik in dem Voreuxschacht schmerzte sie, während sie im Jean-Bart-Schacht arbeitete. Sie hatte kein anderes Mittel gefunden, ihre Eltern ein wenig zu unterstützen, und brachte Kaffee und Zucker unter dem Vorwand, an die Kleinen gedacht zu haben. Allein ihre Gutherzigkeit entwaffnete ihre Mutter nicht, die ihr erwiderte:

»Anstatt uns Süßigkeiten zu bringen, hättest du besser getan, bei uns zu bleiben, um Brot für uns zu erwerben.«

Die Mutter erleichterte ihr Herz und warf der Tochter alles an den Kopf, was sie seit einem Monat gegen sie wiederholte. Mit einem Mann durchzugehen, mit sechzehn Jahren sich an einen Mann zu hängen, wenn[250] man eine Familie in Not habe: dazu müsse man die letzte der entarteten Töchter sein. Man könne eine Torheit verzeihen, aber eine Mutter könne einen solchen Streich niemals vergessen. Wenn man sie noch in strenger Zucht gehalten hätte! Aber durchaus nicht; sie sei frei wie die Luft gewesen; man verlangte nur, daß sie des Nachts zu Hause sei.

»Was steckt denn in dir in deinem Alter? Sprich!«

Katharina stand unbeweglich neben dem Tisch und hörte gesenkten Hauptes die Vorwürfe ihrer Mutter an. Ein Zittern befiel ihren mageren Körper, und sie suchte nach Worten, um zu antworten.

»Ach, mir macht es wenig Spaß ...« sagte sie. »Er ist schuld an allem. Wenn er will, muß ich doch, nicht? Er ist eben der Stärkere. Weiß man denn jemals, welche Wendung die Dinge nehmen? Nun ist's geschehen, und man kann's nicht ändern. Er oder ein anderer: jetzt ist's gleich. Er wird mich wohl heiraten müssen.«

Sie verteidigte sich ohne Trotz mit der leidenden Ergebung der Mädchen, die frühzeitig den Mann erkennen. War dies nicht das allgemein gültige Gesetz?

Etienne hatte sich inzwischen erhoben und machte sich mit dem erlöschenden Feuer zu schaffen, um die Auseinandersetzung zwischen Mutter und Tochter nicht zu stören; aber ihre Blicke begegneten sich. Er fand sie bleich, erschöpft, aber dennoch hübsch mit den hellen Augen in dem gebräunten Gesicht. Er empfand ein seltsames Gefühl, sein Groll war geschwunden, er hätte nur gewünscht, daß sie glücklich sei mit diesem Manne, den sie ihm vorgezogen hatte. Es war in ihm ein Bedürfnis, sich noch mit ihr zu beschäftigen, ein Verlangen, nach Montsou zu gehen und den andern zu zwingen, sie rücksichtsvoller zu behandeln. Doch sie sah in dieser Regung der Zärtlichkeit, die sich noch immer anbot, nichts als Mitleid. Er mußte sie sicherlich verachten, da er sie ansah. Ihr Herz zog sich so schmerzhaft zusammen, daß sie kein Wort der Entschuldigung mehr fand.[251]

»Es ist auch besser, daß du schweigst«, sagte die Maheu unversöhnlich. »Wenn du gekommen bist, um dazubleiben, tritt ein; wenn nicht, geh gleich wieder fort und sei froh, daß ich nicht vom Sessel aufstehen kann, sonst hätte ich dir schon einen Fußtritt versetzt.«

Als habe diese Drohung sich plötzlich verwirklicht, empfing Katharina von hinten einen Stoß, dessen Heftigkeit sie vor Überraschung und Schmerz betäubte. Es war Chaval, der mit einem Satz durch die offene Tür hereingesprungen und wie ein bösartiges Tier über sie hergefallen war. Seit einer Weile hatte er sie von außen belauscht.

»Ha, Dirne, ich bin dir gefolgt; ich wußte wohl, daß du hierherkamst, um dich mit ihm gütlich zu tun. Und du bezahlst ihn noch, wie? Du begießt ihn noch mit Kaffee für mein Geld!«

Frau Maheu und Etienne waren dermaßen betroffen, daß sie sich nicht rühren konnten. Mit einer wütenden Gebärde jagte Chaval Katharina nach der Tür.

»Wirst du gehen?« schrie er.

Er hatte Katharina bei den Handknöcheln gefaßt; er schüttelte sie und schleppte sie hinaus. An der Tür wandte er sich abermals nach der Maheu um, die wie festgenagelt auf ihrem Sessel saß. Estelle war eingeschlafen, das Gesichtchen in den Rockfalten der Mutter vergraben.

»Wenn die Tochter nicht da ist, glänzt die Mutter!« schrie Chaval.

Etienne wollte den Kameraden ohrfeigen. Nur die Besorgnis, durch eine Rauferei das ganze Dorf in Aufruhr zu bringen, hatte ihn zurückgehalten, Katharina seinen Händen zu entreißen. Doch jetzt hatte auch ihn die Wut übermannt, und die beiden Männer standen mit blutunterlaufenen Augen einander gegenüber. Ein alter Haß kam zum Ausbruch, eine seit langer Zeit uneingestandene Eifersucht.

»Nimm dich in acht!« stammelte jetzt Etienne mit[252] zusammengekniffenen Lippen. »Ich werde dir die Haut vom Leibe ziehen.«

»Versuch's einmal!« erwiderte Chaval.

Sie schauten einige Sekunden einander so nahe ins Gesicht, daß der heiße Atem ihr Gesicht streifte. Katharina trat bittend dazwischen, faßte ihren Liebhaber bei der Hand und führte ihn hinweg. Sie zog ihn fort und floh mit ihm aus dem Dorf, ohne auch nur den Kopf zu wenden.

»Welch ein Vieh!« brummte Etienne und warf heftig die Tür zu, von einer solchen Wut geschüttelt, daß er sich setzen mußte.

Die Maheu hatte sich nicht vom Platze gerührt. Sie machte bloß eine Handbewegung, dann trat Stille ein, peinlich und drückend infolge all der Dinge, die sie sich nicht sagten. Trotz der Anstrengungen, die er machte, kehrten seine Augen immer wieder zu ihr zurück. Wohl war sie vierzig Jahre alt und unförmig, aber noch viele trugen Verlangen nach ihr; sie war breit und kräftig mit dem langgezogenen Gesicht eines früher hübschen Mädchens.

»So ein Schwein!« sagte sie endlich. »Nur ein schmutziges Schwein kann solch ekelhafte Gedanken haben ... Ich mache mir nichts daraus; er war keiner Antwort wert.«

Dann fügte sie freimütig hinzu, ohne den jungen Mann aus den Augen zu lassen:

»Ich habe gewiß meine Fehler, aber diesen nicht ... Nur zwei Männer haben mich berührt, ein Schlepper einst, als ich erst fünfzehn Jahre zählte, und nachher Maheu. Hätte er mich verlassen wie der andere – ich weiß wahrlich nicht, was aus mir geworden wäre, und ich bin nicht stolz darauf, daß ich seit unserer Ehe mich gut betragen habe; denn man tut das Schlimme oft nur deshalb nicht, weil die Gelegenheit fehlt ... Indes ich sage, wie es ist, und ich kenne Nachbarinnen, die nicht ein Gleiches sagen könnten. Nicht wahr?«

»Ja, das ist wahr«, erwiderte Etienne und stand auf.[253]

Er ging hinaus, während sie sich entschloß das Feuer wieder anzuzünden, nachdem sie die wieder eingeschlafene Estelle auf zwei Sesseln gebettet hatte. Wenn es dem Vater gelingt, einen Fisch zu fangen und zu verkaufen, wird man Suppe kochen.

Draußen senkte sich schon die Nacht herab, eine eiskalte Nacht. Etienne schritt gesenkten Hauptes dahin, von einer dumpfen Traurigkeit erfaßt. Es war nicht mehr der Zorn gegen den Mann, das Mitleid für das arme mißhandelte Mädchen. Die rohe Szene verflüchtigte sich; er versank in das Leid aller, in die Schrecknisse des Elends. Er sah das Arbeiterdorf ohne Brot; er sah, wie die Weiber und Kinder des Abends nichts zu essen hatten; all das Volk, das mit leerem Magen kämpfte. Der Zweifel, der ihn zuweilen packte, erwachte abermals in ihm inmitten der erschreckenden Schwermut der Abenddämmerung und quälte ihn heftiger denn je. Welch furchtbare Verantwortlichkeit lud er auf sich! Sollte er sie noch weiter treiben, zu einem hartnäckigen Widerstand anspornen, jetzt, da er weder Geld noch Kredit mehr hatte? Was wird das Ende sein, wenn keine Hilfe kommt, wenn der Hunger den Mut aller bricht? Plötzlich tauchte vor ihm das Bild des Unglücks auf: sterbende Kinder, schluchzende Mütter, während die Männer bleich und abgehärmt wieder in die Gruben einfuhren. Er ging immer weiter; seine Füße strauchelten über Steine; der Gedanke, daß die Gesellschaft siegen und er das Unglück seiner Kameraden verursachen könne, erfüllte ihn mit unerträglicher Angst.

Als er das Haupt erhob, sah er, daß er sich vor dem Voreuxschacht befand. Die finstere Masse der Gebäude lag schwerfällig im Dunkel. Inmitten des verödeten, von großen, unbeweglichen Schatten erfüllten Werkhofs ähnelte alles einer verlassenen Festung. Wenn die Fördermaschine stillstand, schien die Seele aus diesen Mauern zu entweichen. Zu dieser nächtlichen Stunde war nichts Lebendes mehr da, kein Licht und keine[254] Stimme. Selbst der Dampfstrom der Pumpe klang wie entferntes Röcheln, von dem man nicht wußte, woher es kam inmitten der Todesstille des ganzen Schachtes.

Etienne blickte um sich, und alles Blut strömte ihm nach dem Herzen. Die Arbeiter litten Hunger, aber auch die Gesellschaft sah ihre Millionen zusammenschmelzen. Warum sollte sie die Stärkere sein in diesem Kampfe der Arbeit gegen das Geld? In allen Fällen werde der Sieg ihr teuer zu stehen kommen. Man werde nachher ihre Toten zählen. Er wurde wieder von Kampfwut ergriffen, von einem grausamen Bedürfnis, ein Ende zu machen mit dem Elend – selbst um den Preis des Lebens. Es war besser, das ganze Dorf ging auf einmal zugrunde, als daß man nach und nach vor Hunger verreckte. Er erinnerte sich der Beispiele von Völkern, die ihre Städte in Brand steckten, um den Feind aufzuhalten, jener Geschichten, in denen Mütter ihre Kinder vor der Sklaverei retteten, indem sie ihnen die Köpfe auf dem Straßenpflaster zerschlugen, in denen Männer lieber Hungers starben, als daß sie das Brot der Tyrannen aßen. Alles das begeisterte ihn; eine wilde Freudigkeit folgte der dumpfen Trauer – eine Freudigkeit, die allen Zweifel verscheuchte und ihn wegen seiner flüchtigen Feigheit erröten ließ. In diesem Wiedererwachen seines Glaubens hatte er von neuem Regungen des Stolzes, die ihn aufrichteten; er empfand wieder die Freude, ein Führer zu sein, dem man gehorche bis zur Aufopferung; er träumte von der großen Macht, die er am Tage des Sieges in der Hand haben werde. In seiner Vorstellung sah er eine Szene von großartiger Einfachheit: wie er die Gewalt in die Hände des Volkes zurücklegen werde, nachdem er einen Augenblick der Gebieter gewesen.

Doch plötzlich erwachte er aus seiner Träumerei; Maheu kam und erzählte ihm, er habe eine Forelle gefangen und für drei Franken verkauft. Man werde eine Suppe zur Nacht essen. Er ließ den Kameraden allein nach dem Dorf zurückkehren und sagte, er werde ihm[255] folgen. Doch er ging zu Rasseneur und wartete, bis der einzige Gast, der da war, die Trinkstube verließ. Dann teilte er Rasseneur mit, er wolle an Pluchart schreiben, daß er sogleich kommen möge. Sein Entschluß war gefaßt; er wollte eine vertrauliche Sitzung einberufen; der Sieg schien ihm sicher, wenn die Bergleute von Montsou sich in Massen der Internationale anschlossen.

Quelle:
Zola, Emile: Germinal. Berlin [1927], S. 243-256.
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