|
[274] Wieder verflossen zwei Wochen. Man war in den ersten Tagen des Januar; kalte Nebel lagerten auf der unermeßlichen Ebene. Das Elend war noch schlimmer geworden; in der wachsenden Hungersnot verkümmerten die Arbeiterdörfer immer mehr. Viertausend Franken, welche die Internationale aus London gesandt hatte, genügten knapp, um für vier Tage Brot zu schaffen. Dann war nichts mehr gekommen. Das lange, leere Hoffen beugte alle Gemüter. Auf wen sollte man noch zählen, da die Brüder selbst sie verließen? Von der Welt abgeschnitten, fühlten sie sich völlig verloren mitten im tiefen Winter.
In dem Dorf der Zweihundertvierzig war man am Dienstag mit allen Hilfsmitteln zu Ende. Etienne und die Bevollmächtigten arbeiteten fieberhaft; man eröffnete neue Sammlungen in den benachbarten Städten bis nach Paris; man hielt Vorträge, Beratungen. Doch alle Anstrengungen blieben ohne Erfolg; die öffentliche Meinung, anfänglich gerührt, wurde gleichgültig, als der Streik sich in die Länge zog und einen ruhigen Lauf ohne aufregende Zwischenfälle nahm. Die spärlich fließenden Almosen genügten kaum, um die allerärmsten Familien zu erhalten. Die anderen fristeten ihr Leben, indem sie ihre Schmucksachen verpfändeten, ihren Hausrat Stück um Stück veräußerten. Alles wanderte zu den Trödlern: die Wolle der Matratzen, die Küchengeräte, selbst die Möbel. Einen Augenblick glaubte man sich gerettet; die kleinen Krämer von Montsou, die Maigrat zu erdrücken drohte, hatten Kredit angeboten, um ihm so die Kundschaft abzunehmen; der Gewürzkrämer Verdonck und die beiden Bäcker Carouble und Smelten hielten eine Woche lang offenen Laden; allein ihre Vorräte erschöpften sich, sie mußten bald wieder aufhören. Nur die Gerichtsvollzieher hatten ihre Freude daran; es blieb nichts übrig als eine Schuldenlast, welche die Bergleute lange Zeit bedrücken würde.[275] Man hatte keinen Kredit mehr; man hatte nicht eine alte Schüssel mehr zu verkaufen; man konnte sich in einen Winkel hinlegen und verrecken wie ein räudiger Hund.
Etienne hätte sein Blut hingegeben; er hatte auf sein Sekretärsgehalt verzichtet und war nach Marchiennes gegangen, um seinen Überrock und sein Beinkleid zu verpfänden; er war froh, daß er dadurch der Familie Maheu die Mittel bieten konnte, noch einige Tage den Fleischtopf ans Feuer zu setzen. Nur seine Stiefel behielt er, um gesunde Beine zu haben, wie er sagte. Sein großer Kummer war, daß der Ausstand zu früh gekommen war, als die Unterstützungskasse noch nicht Zeit gehabt hatte, sich zu füllen. Er erblickte darin die einzige Ursache des Unglücks; die Arbeiter würden sicherlich den Sieg über die Arbeitgeber davontragen, wenn sie in der Kasse die nötigen Mittel hätten, den Streik fortzusetzen. Er erinnerte sich der Worte Suwarins, der die Gesellschaft beschuldigte, daß sie zum Streik gedrängt habe, um die ersten Fonds der Unterstützungskasse zum Schwinden zu bringen.
Der Anblick des Dorfes, dieser armen Leute ohne Brot und ohne Holz, raubte ihm seine Ruhe. Er ging lieber fort, um sich in weiten Spaziergängen zu ermüden. Als er eines Abends auf der Heimkehr an Réquillart vorbeikam, sah er eine alte Frau bewußtlos am Wegrande liegen. Ohne Zweifel starb sie Hungers. Er hob sie auf und rief ein Mädchen herbei, das er jenseits der Pfahlhecke bemerkte.
»Du bist's?« sagte er, als er die Mouquette erkannte. »Hilf mir doch; man müßte ihr etwas zu trinken geben.«
Zu Tränen gerührt, eilte die Mouquette heim in die wackelige Hütte, die ihr Vater inmitten der Trümmer bewohnte. Sie kam von dort sogleich mit einem Brot und einem Fläschchen Wacholderbranntwein zurück. Der Branntwein brachte die Alte wieder zur Besinnung; ohne ein Wort zu sprechen, biß sie gierig in das Brot. Es war die Mutter eines Bergmannes; sie wohnte[276] in einem Arbeiterdorf bei Cougny und war hier zusammengesunken auf der Rückkehr von Joiselle, wo sie vergebens versucht hatte, von einer Schwester zehn Sous zu borgen.
Etienne war allein geblieben auf diesem wüsten Feld von Réquillart, dessen eingestürzte Schuppen unter dem Gestrüpp verschwanden.
»Willst du nicht bei uns eintreten, um ein Gläschen zu trinken?« fragte ihn die Mouquette heiteren Tones.
Als er zögerte, fuhr sie fort:
»Hast du denn noch immer Furcht vor mir?«
Er folgte ihr, durch ihr Lachen angelockt. Ihn rührte die Herzlichkeit, mit der sie das Brot hergegeben hatte. Sie wollte ihn nicht in der Stube ihres Vaters empfangen und führte ihn in ihre eigene Kammer, wo sie sogleich zwei Gläschen Branntwein einschenkte. Diese Kammer war sehr sauber; er lobte sie dafür. Es schien übrigens der Familie an nichts zu mangeln: der Vater setzte seinen Dienst als Stallknecht im Voreuxschacht fort; sie selbst war, um nicht die Hände in den Schoß zu legen, Wäscherin geworden, wobei sie täglich dreißig Sous verdiente. Trieb sie auch gern ihren Spaß mit den Männern, so war sie deswegen doch keine Müßiggängerin.
»Warum willst du mich nicht lieben?« fragte sie ihn plötzlich, indem sie ihn artig um den Leib faßte.
Er konnte ein Lachen nicht unterdrücken, so niedlich hatte sie ihre Frage angebracht.
»Ich liebe dich ja«, antwortete er.
»Nein, nicht so, wie ich will ...«
Er betrachtete sie noch immer, wie sie sich an ihn schmiegte, ihn mit ihren zitternden Armen umfing und ihm dabei so liebeheischend in die Augen schaute, daß er davon gerührt wurde. Ihr dickes, rundes Gesicht hatte nichts Schönes; es war gelb, von der Kohle zerstört; aber ihre Augen leuchteten; von ihrer Haut ging ein Reiz, ein Beben aus, das sie ganz rosig und jung erscheinen ließ. Da sie sich ihm so untertänig, so liebeglühend[277] hingab, fand er nicht mehr den Mut, sie zurückzuweisen.
Als er sie verließ, floß sie von Dank über und küßte ihm die Hände.
Etienne schämte sich ein wenig dieses Abenteuers. Man rühmte sich nicht gern, die Mouquette geküßt zu haben. Er schwor sich, es nicht wieder zu tun; aber er bewahrte ihr ein freundliches Angedenken; sie war ein wackeres Mädchen.
Als er nach dem Dorf zurückkehrte, ließen die ernsten Dinge, die er erfuhr, ihn rasch das Abenteuer vergessen. Es lief das Gerücht um, daß die Gesellschaft vielleicht ein Zugeständnis machen werde, wenn die Bevollmächtigten einen neuen Schritt bei dem Direktor versuchen wollten. Einzelne Aufseher hatten dieses Gerücht verbreitet. Die Wahrheit war, daß das Bergwerk in diesem Kampfe mehr litt als die Arbeiter. Von beiden Seiten häufte die Hartnäckigkeit das Elend: während die Arbeiter Hungers starben, ging das Kapital zugrunde. Mit jedem Arbeitsruhetag schwanden Hunderttausende von Franken. Jede Maschine, die stillsteht, ist eine tote Maschine. Das Material und die Arbeitsgeräte verdarben; das festgelegte Kapital schmolz zusammen wie Wasser, das der Sand trinkt. Seitdem der Kohlenvorrat im Werkhof der Gruben sich erschöpfte, sprach die Kundschaft davon, sich nach Belgien zu wenden; darin lag für die Zukunft eine Drohung. Doch was die Gesellschaft hauptsächlich erschreckte, und was sie sorgfältig verheimlichte, das waren die wachsenden Schäden in den Galerien und Schlägen. Die Aufseher genügten nicht, um die Ausbesserungen zu machen, die Verzimmerungen barsten allerorten, jede Stunde erfolgte ein Einsturz. Allerlei Schreckensnachrichten waren schon im Umlauf: zu Crèvecoeur war ein Gang von 300 Meter Länge eingestürzt und verrammelte den Zugang zur Cinq-Paumes-Ader; im Magdalenenschacht zerbröckelte die Maugrétout-Ader und füllte sich mit Wasser. Die[278] Direktion wollte es nicht eingestehen, als zwei Unglücksfälle, die knapp aufeinanderfolgten, sie nötigten, die Wahrheit zu bekennen. Eines Morgens fand man in der Nähe der Besitzung Piolaine den Boden geborsten oberhalb der Nordgalerie von Mirou, die am vorhergehenden Tage eingestürzt war; am nächsten Tage folgte im Voreuxschacht ein Abrutsch, der einen ganzen Winkel des Vorortes erschütterte, so daß zwei Häuser zu versinken drohten.
Etienne und die Bevollmächtigten zögerten, einen Schritt zu tun, bevor sie die Absichten der Verwaltung kannten. Dansaert, den sie befragten, wich der Antwort aus; gewiß, man bedauere das Mißverständnis, man werde alles Mögliche tun, um eine Verständigung herbeizuführen, aber er wußte nichts Bestimmtes zu sagen. Sie beschlossen endlich, sich zu Herrn Hennebeau zu begeben, um das Recht auf ihre Seite zu bringen; denn sie wollten nicht, daß man ihnen später vorwerfe, sie hätten der Gesellschaft die Gelegenheit genommen, ihr Unrecht zu bekennen. Allein sie schworen, in keinem Punkte nachzugeben und an allen ihren Bedingungen festzuhalten, welche die einzig gerechten seien.
Die Begegnung fand am Dienstagmorgen statt, an dem Tage, da im Dorf äußerste Not herrschte. Diese Begegnung war weniger freundschaftlich als die erste. Maheu führte auch diesmal das Wort; er erklärte, die Kameraden hätten sie gesandt, um zu fragen, ob die Herren ihnen nichts Neues zu sagen hätten. Anfänglich spielte Herr Hennebeau den Überraschten; er habe keinerlei Weisung empfangen, sagte er, und die Dinge würden sich auch nicht ändern, solange die Grubenarbeiter in ihrer verdammenswerten Empörung verharrten. Diese herrische Schroffheit brachte zunächst die unliebsamste Wirkung hervor, aber im weiteren Verlaufe der Unterredung entwickelte der Direktor eine Möglichkeit gegenseitiger Verständigung; die Arbeiter sollten sich dazu verstehen, daß die Verzimmerung[279] besonders gezahlt werde; dagegen würde die Gesellschaft diese Bezahlung um jene zwei Centimes erhöhen, die sie angeblich einstecken wollte. Er fügte hinzu, daß er es übernehme, diesen Vorschlag zu machen, daß zwar noch nichts entschieden sei, er aber hoffe dies Zugeständnis in Paris zu erlangen. Doch die Bevollmächtigten lehnten ab und wiederholten ihre Forderungen: die Beibehaltung des alten Systems und eine Erhöhung von fünf Centimes für den Karren. Da gestand er, daß er die Vollmacht habe, sogleich zu verhandeln, drang in sie, seinen Vorschlag anzunehmen, und sprach von ihren Weibern und Kindern, die Hungers starben. Doch sie sagten nein, immer wieder nein, indem sie zu Boden blickten und die harten Köpfe schüttelten. Man schied in feindseliger Stimmung; Herr Hennebeau schlug heftig die Türen zu. Etienne, Maheu und die anderen gingen fort in der stummen Wut von Besiegten, die man zum Äußersten treibt.
Gegen zwei Uhr versuchten die Weiber des Dorfes einen Schritt bei Maigrat. Sie hatten nur noch die eine Hoffnung, diesen Menschen zu erweichen, ihm noch eine Woche Kredit abzuringen. Es war ein Einfall der Maheu, die oft zuviel auf das gute Herz der Menschen zählte. Sie überredete die Brulé und die Levaque, sie zu begleiten; die Pierron entschuldigte sich; sie könne ihren Mann nicht verlassen, dessen Krankheit nicht heilen wolle. Andere Frauen schlossen sich der Gruppe an; es waren ihrer etwa zwanzig. Als die Bürger von Montsou sie ankommen und düster und elend die ganze Breite der Straße einnehmen sahen, schüttelten sie unruhig die Köpfe. Man verschloß die Türen; eine Dame verbarg ihr Silberzeug. Man begegnete ihnen zum ersten Male in dieser Weise; es war ein böses Zeichen. Wenn die Weiber anfingen, sich auf den Heerstraßen umherzutreiben, dann ging alles drunter und drüber. Bei Maigrat gab es eine heftige Szene. Er hatte sie zuerst eingelassen, hatte Späße mit ihnen gemacht und sich gestellt, als glaube er, sie kämen, ihre Schulden zu[280] zahlen; es sei hübsch, daß sie sich verständigt hätten, ihm alle auf einmal sein Geld zu bringen. Doch als die Maheu das Wort nahm, spielte er den Zornigen. Wollten die Leute ihn zum besten halten? Weiteren Kredit verlangten sie? Wollten sie ihn denn zum Bettler machen? Nein; nicht eine Kartoffel, nicht ein Brotkrümchen mehr! Er schickte sie zu dem Gewürzkrämer Verdonck, zu den Bäckern Carouble und Smelten, da sie jetzt dort einkauften. Die Weiber hörten ihm mit demütiger Scheu zu, entschuldigten sich, suchten in seinen Augen zu lesen, ob er sich rühren lasse. Er begann wieder Späße zu machen, bot der Brulé seinen Laden an, wenn sie ihn zum Liebhaber nehmen wolle. Alle waren von einer solchen Feigheit ergriffen, daß sie über diesen Witz lachten; die Levaque überbot ihn noch, indem sie sich bereit erklärte. Doch er wurde sogleich wieder grob und drängte sie zur Tür; als sie fortfuhren, ihn zu bitten, wurde er gegen eine der Frauen ausfallend. Die anderen riefen, er sei eine Schacherseele; die Maheu erhob in rächerischer Entrüstung die Arme und rief den Tod über ihn; ein solcher Mensch verdiene nicht zu essen, schrie sie.
Die Rückkehr nach dem Dorf war traurig. Als die Männer ihre Frauen mit leeren Händen ankommen sahen, ließen sie die Köpfe hängen. Es war aus; der Tag ging zu Ende, ohne daß sie einen Löffel Suppe hatten. Die anderen Tage zogen in eisiger Finsternis dahin, die kein Hoffnungsstrahl erhellte. Sie hatten es gewollt; niemand sprach davon, sich zu ergeben. Die äußerste Not machte sie noch hartnäckiger; stumm, gleich gehetzten Tieren waren sie entschlossen, lieber in ihren Löchern zu sterben als hervorzukommen. Wer würde gewagt haben, zuerst von Unterwerfung zu reden? Die Kameraden hatten geschworen zusammenzuhalten, und sie würden es tun, wie sie in der Grube zusammenhielten, wenn einer unter den Trümmern lag. So gebührte es sich; sie hatten da unten eine gute Schule, Ergebung zu lernen. Wenn man seit seinem[281] zwölften Lebensjahre gewohnt war, Wasser und Feuer zu schlucken, konnte man sich acht Tage lang den Bauch zusammenschnüren. Ihrer Ergebung gesellte sich der Stolz von Soldaten zu, das Selbstbewußtsein von Männern, die sich ihres Gewerbes rühmen und in ihrem täglichen Kampfe mit dem Tode zum Opfermut gestählt sind.
Der Abend war sehr traurig in der Familie Maheu. Alle saßen schweigend um das spärliche Feuer, das mit dem letzten Rest von rauchendem Kohlenstaub unterhalten wurde. Nachdem sie eine Handvoll nach der andern von der Wolle der Matratzen verkauft, hatten sie vor zwei Tagen ihre Kuckucksuhr für drei Franken hingegeben, und die Stube schien kahl und tot, seitdem das trauliche Ticktack sie nicht mehr erfüllte. Was noch an Zierat übriggeblieben, war eine auf dem Eßschrank stehende Schachtel von rosa Papier, ein ehemaliges Geschenk von Maheu, das seinem Weibe kostbar war wie ein Juwel. Die zwei guten Sessel, die man noch gehabt, waren weg; Vater Bonnemort und die Kinder saßen gedrängt auf einer alten, mit schimmeligem Moose bewachsenen Bank, die man aus dem Garten hereingeschafft hatte. Die fahle Dämmerung schien die Kälte noch zu steigern.
»Was tun?« wiederholte Frau Maheu, die neben dem Ofen hockte.
Etienne betrachtete die an der Wand hängenden Bilder des Kaisers und der Kaiserin. Er hätte sie längst heruntergerissen, wenn die Familie es ihm nicht verwehrt hätte. Die Maheus wollten die Bilder als Zimmerschmuck behalten. Er brummte mit zusammengekniffenen Lippen:
»Wenn man bedenkt, daß man nicht zwei Sous von diesen Kerlen haben kann, die ruhig zusehen, wie wir verrecken.«
»Ich sollte vielleicht die Schachtel verkaufen?« sagte die Frau bleich und zögernd.[282]
Maheu, der mit auf die Brust gesenktem Haupte am Tische saß, richtete sich auf.
»Nein, ich will nicht«, sagte er.
Frau Maheu erhob sich mühsam und machte einen Rundgang im Zimmer. War es möglich, in solches Elend zu geraten? Nicht ein Krümchen mehr im Eßschrank, nichts mehr zu verkaufen; kein Mittel, sich Brot zu verschaffen. Auch das Feuer drohte zu verlöschen! Sie wurde böse auf Alzire, die sie am Morgen nach dem Hügel gesandt hatte, um dort Kohlenstückchen zu sammeln, und die mit leeren Händen zurückgekehrt war, weil – wie sie sagte – die Gesellschaft die Nachlese verboten habe. Was hatte man sich um die Gesellschaft zu kümmern? Bestahl man denn jemand, wenn man diese verlorenen Kohlenstückchen auflas? Die Kleine war trostlos und erzählte, ein Mann habe ihr mit Schlägen gedroht; dann versprach sie, am folgenden Tage wieder hinzugehen und sich prügeln zu lassen.
»Wo treibt der Lump Johannes sich wieder umher?« rief die Mutter. »Er sollte Salat bringen; wir würden ihn roh gegessen haben wie die Tiere. Ihr sollt sehen, er kommt nicht heim. Er ist schon gestern über Nacht ausgeblieben. Ich weiß nicht, was der Kerl treibt, aber mir scheint immer, daß er vollgefressen ist.«
»Vielleicht bettelt er Sous auf der Straße!« bemerkte Etienne.
Da geriet sie außer sich und streckte drohend die Fäuste in die Luft.
»Wenn ich das wüßte! ... Meine Kinder betteln! Lieber möchte ich sie umbringen und hernach mich selbst!«
Maheu sank wieder auf seinen Sessel neben dem Tisch. Leonore und Heinrich, erstaunt darüber, daß man nicht aß, begannen zu winseln, während der alte Bonnemort still dasaß und philosophisch die Zunge im Munde wälzte, um seinen Hunger zu täuschen. Niemand sprach mehr; alle saßen wie niedergedrückt unter der Bürde ihres Leidens; der Großvater hustend,[283] schwarz speiend, von seiner Gicht wieder gepackt, die in Wassersucht auszuarten drohte; der Vater asthmatisch, die Knie vom Wasser geschwollen; die Mutter und die Kinder von ihren Erbübeln, den Skrofeln und der Blutarmut, heimgesucht. Die Leute im Dorf fielen schon wie die Fliegen. Man mußte doch etwas finden, um zur Nacht zu essen. Was tun, wohin gehen? Mein Gott!
In dem Dunkel, das die Stube immer verfinsterte, entschloß sich endlich Etienne, dem das Herz zu brechen drohte, zu handeln.
»Wartet auf mich«, sagte er. »Ich will irgendwo schauen.«
Er ging hinaus. Er dachte an die Mouquette. Sie mußte ein Brot haben und würde es ihm gern geben. Es verdroß ihn, unter einem solchen Zwang nach der verfallenen Hütte in Réquillart zurückzukehren. Dies Mädchen mit der Miene einer verliebten Magd würde ihm die Hände küssen.
»Auch ich will schauen«, sagte jetzt Frau Maheu. »Es ist zu dumm!«
Sie öffnete hinter dem jungen Mann wieder die Tür und warf sie heftig zu; die anderen blieben unbeweglich und stumm zurück im spärlichen Licht eines Kerzenstümpfchens, das Alzire angezündet hatte. Draußen blieb sie einen Augenblick nachdenklich stehen; dann trat sie bei der Levaque ein.
»Ich lieh dir neulich ein Brot, vielleicht gibst du es mir heute zurück.«
Doch sie unterbrach sich; was sie sah, war nicht sehr ermutigend; dieses Haus verriet noch mehr Elend als das ihrige.
Frau Levaque schaute mit stieren Augen in ihr erloschenes Feuer; während Levaque, dem einige Nagelschmiede einen Rausch beigebracht hatten, mit leerem Magen auf dem Tisch schlief. Bouteloup stand an die Wand gelehnt und rieb sich mechanisch die Schultern wie ein gutmütiger Junge, dessen Ersparnisse man aufgezehrt[284] hat, und der nun erstaunt ist, sich den Leib zusammenschnüren zu müssen.
»Ein Brot? Ach, meine Gute, ich wollte ein zweites von dir borgen«, antwortete die Levaque.
Als ihr Mann im Schlaf ein schmerzliches Grunzen vernehmen ließ, drückte sie ihm das Gesicht auf den Tisch.
»Still, Schwein!« rief sie. »Wenn es dir die Gedärme verbrennt, um so besser! Anstatt dich volltrichtern zu lassen, hättest du besser getan, von einem deiner Freunde zwanzig Sous zu pumpen.«
In diesem Tone fuhr sie fort, fluchte und wetterte inmitten der Unsauberkeit ihres Hauswesens, das sie schon seit langer Zeit so vernachlässigte, daß ein unerträglicher Geruch von den Fliesen ausströmte. Ihretwegen könne alles aus den Fugen gehen, meinte sie. Ihr Sohn, dieser Halunke Bebert, sei gleichfalls seit dem Morgen verschwunden; man sei eine Last los, wenn er nicht wiederkomme. Dann sagte sie, sie gehe schlafen. Im Bett sei es wenigstens warm. Darauf stieß sie Bouteloup an.
»Vorwärts, laß uns hinaufgehen! Das Feuer ist erloschen; wozu sollen wir die Kerze anzünden? Etwa um die leeren Teller besser zu sehen? ... Kommst du endlich, Louis? Ich sage dir, wir gehen schlafen. Man kriecht im Bett zusammen; das ist immerhin eine Erleichterung. Dieser verdammte Trunkenbold mag meinethalben hier vor Kälte krepieren.«
Als Frau Maheu wieder draußen war, schritt sie quer durch die Gärten, um sich zur Pierron zu begeben. Sie vernahm Gelächter. Als sie anklopfte, trat sogleich Stille ein. Es dauerte eine volle Minute, bis man ihr öffnete.
»Du bist's?« rief die Pierron, eine lebhafte Überraschung heuchelnd. »Ich dachte, es sei der Arzt.«
Ohne sie zu Wort kommen zu lassen, zeigte sie auf ihren Mann, der vor einem großen Kohlenfeuer saß.
»Es geht ihm schlecht«, sagte sie. »Es geht ihm noch[285] immer schlecht. Das Gesicht hat eine gute Farbe; im Bauch sitzt das Leiden. Er muß es immer gut warm haben; was wir noch besitzen, geht in Kohle auf.«
Pierron sah in der Tat fett und gesund aus und hatte eine blühende Gesichtsfarbe. Vergebens schnaufte er, um sich krank zu stellen. Als die Maheu eintrat, verspürte sie einen starken Geruch von Kaninchenbraten. Man hatte sicher die Schüssel versteckt. Auf dem Tisch lagen Brosamen; in der Mitte stand eine Flasche Wein, die man vergessen hatte.
»Die Mutter ist nach Montsou gegangen, um ein Brot zu beschaffen«, setzte die Pierron hinzu. »Wir können ihre Rückkehr kaum noch erwarten.«
Doch sie unterbrach sich. Sie war den Blicken der Nachbarin gefolgt und bemerkte gleichfalls die Flasche. Sie faßte sich sogleich und erzählte die Geschichte: Ja, da sei Wein; die Besitzer der Piolaine hätten die Flasche für ihren Mann gebracht, dem der Arzt Bordeauxwein verordnet habe. Sie erschöpfte sich in Danksagungen. Es seien wackere Leute! Besonders das Fräulein; gar nicht stolz, suche sie die Häuser der Arbeiter auf, um Almosen zu verteilen.
»Ich weiß, ich kenne sie«, sagte die Maheu.
Ihr Herz zog sich zusammen, als sie daran dachte, daß das Gute immer zu denen komme, die es weniger benötigten. Das sei immer so; diese Besitzer der Piolaine hätten Wasser in den Fluß getragen. Wie sei es möglich, daß sie sie nicht im Dorfe gesehen habe? Vielleicht würde sie doch etwas von ihnen erlangt haben.
»Ich bin gekommen,« gestand sie endlich, »um zu sehen, ob auch bei euch Schmalhans Küchenmeister ist, wie bei uns. Hast du nicht Nudeln vorrätig, um mir davon zu leihen?«
Die Pierron tat sehr verzweifelt.
»Nichts, meine Teure, nicht das kleinste Fädchen ... Daß die Mutter nicht kommt, beweist, daß sie nichts erhalten hat. Wir werden ohne Nachtessen schlafen gehen.«[286]
In diesem Augenblick hörte man ein Weinen, das aus dem Keller kam. Die Pierron geriet in Zorn und pochte mit der Faust an die Kellertür. Sie habe diese Straßenläuferin Lydia einsperren müssen, erzählte sie, um sie dafür zu strafen, daß sie erst um fünf Uhr heimgekommen, nachdem sie den ganzen Tag herumgestrichen. Sie sei nicht mehr zu bändigen; sie verschwinde jeden Augenblick.
Die Maheu stand da und konnte sich nicht entschließen wegzugehen. Bei dem großen Feuer empfand sie ein schmerzliches Behagen; der Gedanke, daß man hier zu essen hatte, peinigte noch mehr ihren leeren Magen. Augenscheinlich hatten sie die Alte weggeschickt und die Kleine eingesperrt, um ungestört ihren Kaninchenbraten zu essen. Ach, man konnte sagen, was man wollte: eine Frau, die einen lasterhaften Lebenswandel führt, bringt ihrem Hause immer Glück.
»Gute Nacht!« sagte sie plötzlich.
Draußen hatte die Nacht sich herabgesenkt; der Mond war von Wolken bedeckt und warf nur einen fahlen Schein auf die Erde. Anstatt wieder durch die Gärten zu gehen, nahm Frau Maheu ihren Weg über die Straße; sie war in trostloser Stimmung und hatte nicht den Mut heimzukehren. Die Haustüren längs der Häuserzeile rochen förmlich nach Hungersnot und klangen hohl. Was nützte es, da anzuklopfen? Not und Elend überall. Seit Wochen aß man kaum noch; selbst der Zwiebelgeruch war verschwunden, dieser scharfe Geruch, der in der Landschaft schon von weitem das Dorf ankündigte. Jetzt gab es nur einen Geruch wie von alten, feuchten Kellerlöchern, in denen kein Leben ist. Die Geräusche verstummten: die erstickten Tränen, die verhaltenen Flüche, und in der tiefen Stille, die sich immer mehr ausbreitete, hörte man den Schlaf des Hungers kommen, die Vernichtung der Leiber, die unter dem Alpdruck der leeren Bäuche quer über den Betten lagen.[287]
Als sie an der Kirche vorüberkam, sah sie einen Schatten rasch dahingleiten. Eine Hoffnung ließ sie die Schritte beschleunigen, denn sie hatte den Pfarrer von Montsou erkannt, den Abbé Joire, der am Sonntag in der Kapelle des Dorfes die Messe laß. Ohne Zweifel kam er aus der Sakristei, wo er etwas zu ordnen haben mochte. In gebückter Haltung eilte er dahin, mit der Miene eines wohlgenährten sanften Herrn, der mit aller Welt in Frieden leben will. Wenn er seinen Weg zur Nachtzeit machte, so geschah es wohl, um sich nicht unter den Grubenarbeitern bloßzustellen. Man sagte übrigens, daß er eine Beförderung erhalten habe, und wollte ihn auch schon mit seinem Nachfolger, einem mageren, glutäugigen Abbé gesehen haben.
»Herr Pfarrer! Herr Pfarrer!« stammelte die Maheu.
Aber er blieb nicht stehen.
»Guten Abend, liebe Frau«, sagte er.
Sie stand jetzt vor ihrem Hause; ihre Beine trugen sie nicht länger, und sie trat ein.
Niemand hatte sich von seinem Platz gerührt. Maheu saß noch immer in tiefer Niedergeschlagenheit am Rande des Tisches. Der alte Bonnemort und die Kinder rückten auf ihrer Bank enger zusammen, um weniger zu frieren. Niemand hatte ein Wort gesprochen; die Kerze war so tief herabgebrannt, daß sie bald auch kein Licht mehr geben würde. Als die Tür aufging, wandten die Kinder den Kopf; aber als sie sahen, daß die Mutter nichts mitbrachte, schauten sie wieder zur Erde und schluckten ihre Tränen still hinunter, aus Furcht gescholten zu werden. Die Maheu sank auf ihren früheren Platz neben dem erlöschenden Feuer nieder. Man befragte sie nicht; die Stille dauerte fort. Alle hatten begriffen; es war unnötig, sich noch die Mühe des Sprechens zu machen; sie verharrten in mutloser Erwartung der letzten Hilfe, die Etienne vielleicht irgendwo auftreiben werde. Die Minuten flossen dahin; sie zählten schließlich nicht mehr auf ihn.[288]
Als Etienne wieder erschien, brachte er in einem Abwischlappen ein halbes Dutzend kalter, gebratener Kartoffeln.
»Das ist alles, was ich gefunden habe«, sagte er.
Auch bei der Mouquette fehlte das Brot; sie hatte ihm ihr eigenes Essen gewaltsam in den Lappen gewickelt und ihn herzhaft abgeküßt.
Die Maheu bot ihm seinen Teil an. Aber er lehnte dankend ab; er habe schon gegessen, versicherte er.
Er log; mit verdüsterter Miene betrachtete er die Kinder, die sich auf die Nahrung stürzten. Auch die Eltern verzichteten, um den Kindern mehr davon zu lassen; allein der Alte verschlang gierig das Ganze; man mußte ihm gewaltsam eine Kartoffel für Alzire wegnehmen.
Etienne erzählte, er habe Neuigkeiten erfahren. Ergrimmt über die Hartnäckigkeit der Ausständigen, spreche die Gesellschaft davon, den Arbeitern die Arbeitsbücher zurückzustellen. Sie wollte entschieden den Krieg. Ein noch ernsteres Gerücht war im Umlauf; sie rühmte sich, eine große Anzahl Arbeiter zum Einfahren bestimmt zu haben; der Siegesschacht und Feutry-Cantel sollten schon am nächsten Tage ihre volle Belegschaft haben; auch im Magdalenenschacht und in der Mirouzeche würde ein Drittel der Arbeiter einfahren. Die Maheu waren außer sich.
»Herrgott!« schrie der Vater. »Wenn es Verräter gibt, werden wir mit ihnen abrechnen.«
Fortgerissen von Zorn und Kummer schrie er:
»Morgen abend Zusammenkunft im Walde! Man hindert uns, beim ›Gemütlichen‹ uns zu versammeln; wir werden also im Walde zu Hause sein.«
Dieser Schrei hatte den alten Bonnemort erweckt, der, nachdem er die kalten Kartoffeln hinuntergewürgt, eingeschlummert war. Es war der alte Ruf zur Vereinigung, das Stelldichein der Grubenarbeiter von ehemals, wenn sie über den Widerstand gegen die Soldaten des Königs berieten.[289]
»Ja, ja, nach Vandame! Ich bin dabei, wenn man hingeht«, brummte er.
Die Maheu machte eine energische Gebärde und fügte hinzu:
»Wir alle gehen. Es muß ein Ende haben mit den Ungerechtigkeiten und Verrätereien.«
Etienne bestimmte, die Versammlung solle in sämtlichen Arbeiterdörfern für morgen abend angesagt werden. Das Feuer war inzwischen erloschen wie bei der Levaque, und auch die Kerze ging plötzlich aus. Es war weder Kohle noch Petroleum da; man suchte tastend sein Nachtlager auf in der großen Kälte. Die Kleinen weinten.
Ausgewählte Ausgaben von
Germinal
|
Buchempfehlung
Grabbe zeigt Hannibal nicht als großen Helden, der im sinnhaften Verlauf der Geschichte eine höhere Bestimmung erfüllt, sondern als einfachen Menschen, der Gegenstand der Geschehnisse ist und ihnen schließlich zum Opfer fällt. »Der Dichter ist vorzugsweise verpflichtet, den wahren Geist der Geschichte zu enträtseln. Solange er diesen nicht verletzt, kommt es bei ihm auf eine wörtliche historische Treue nicht an.« C.D.G.
68 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro