Elftes Kapitel.

[379] Es war an einem Sonntag. Ein gewitterschwüler Junihimmel wölbte sich über Paris. Im Boulogner Gehölz fand das Rennen um den Pariser großen Preis statt. Die Sonne war am Morgen inmitten einer roten Staubwolke heraufgezogen. Als gegen elf Uhr die ersten Wagen bei dem[379] Hippodrom auf dem Rennplatz eintrafen, trieb ein Südwind die Wolken vor sich her. Ein grauer Dunst schwamm in langen Streifen durch die Luft und ließ nur vereinzelt ein breites Stück des blauen Firmaments sehen. Von Zeit zu Zeit brachen die Sonnenstrahlen zwischen zwei Wolken hervor und vergoldeten plötzlich den Rasen, der sich allmählich mit Wagen, Reitern und Fußgängern bevölkerte, sowie die noch leere Bahn mit dem Schilderhäuschen des Preisrichters, dem Zielpfosten, den Anzeigetafeln und dem Wiegeraum, endlich die gleichmäßig aufgebauten fünf Tribünen mit ihren aus Ziegeln und Bretterwerk erbauten Galerien. Darüber hinaus dehnte sich die ungeheure Ebene, in der Mittagssonne gebadet und mit jungen Bäumen umsäumt, im Westen abgeschlossen durch die bewaldeten Hänge von Saint-Cloud und Suresneh, welche die scharfen Umrisse des Mont-Valérien beherrschten.

Nana, die sich für das Rennen leidenschaftlich interessierte, als ob der große Pariser Preis ihr Lebensglück entscheiden solle, wollte sich durchaus hart an der Einfriedigung, bei dem Zielpfosten aufstellen. Sie war frühzeitig als eine der ersten in ihrem silberbeschlagenen, mit vier prachtvollen milchweißen Schimmeln bespannten Landauer, einem Geschenk des Grafen Muffat, erschienen. Als sie am Eingang des Rennplatzes mit ihren zwei Bereitern und den zwei Bedienten erschien, entstand ein Gedränge unter der Menge, wie wenn eine Königin vorbeiziehe. Sie trug die Farben des Vandeuvres'schen Stalles: blau und weiß, in einer ganz ungewöhnlichen Toilette. Das kleine Leibchen und der Überwurf von blauer Seide lagen knapp an und waren an den Hüften in großen Puffen gerafft, wodurch die Schenkel sich kühn abzeichneten; dazu Ärmel und Schärpe aus weißem Samt, das Ganze war geputzt mit einer Silberschnalle, die in der Sonne hell erglänzte. Um die Ähnlichkeit[380] mit einem Jockei zu vervollständigen, hatte sie einen blauen, mützenförmigen Hut mit weißer Feder aufgesetzt, während das goldblonde Haar in dichten Flechten auf den Rücken hinabfiel.

Es war zwölf Uhr; man hatte noch drei Stunden bis zu dem Rennen um den Pariser großen Preis zu warten. Als der Landauer seinen Platz an der Schranke eingenommen hatte, richtete Nana sich in ihm ein, als ob sie zu Hause sei. Sie hatte Bijou und Ludwig mit genommen. Der Hund, der sich in ihren Röcken gelagert hatte, zitterte vor Kälte trotz der Hitze, das Kind hingegen, aufgeputzt mit Spitzen und Bändern, saß still und bleich wie eine Wachsfigur. Unbekümmert um ihre Nachbarschaft plauderte Nana laut mit den Brüdern Hugon, die vor ihr saßen mitten in einem Haufen von blauen und weißen Sträußen und Blumen, die ihnen bis an die Schultern reichten.

Also, sagte sie, da er mich furchtbar quälte, habe ich ihm die Türe gewiesen, und jetzt schmollt er seit zwei Tagen.

Sie sprach von Muffat, aber sie verriet den jungen Leuten nicht die wahre Ursache dieses ersten Zwistes. Er hatte eines Abends den Hut eines unbekannten Mannes bei ihr gefunden. Sie hatte aus Langeweile sich den erstbesten mit nach Hause genommen.

Sie glauben nicht, wie drollig er ist, fuhr sie fort, indem sie zum Scherz weitere Einzelheiten erzählte. Er ist ein vollendeter Betbruder. Jeden Abend spricht er sein Nachtgebet, wahrhaftig. Er glaubt, ich merke nichts, weil ich mich zuerst niederlege, um ihn nicht zu stören. Aber ich beobachte ihn heimlich und sehe, wie er seine Gebete murmelt und wie er sich bekreuzigt, bevor er zu mir ins Bett steigt.

Das ist recht schlau, meinte Philipp. Also vor und nach.

Nana lachte laut.

Jawohl, vor und nach ... sagte sie. Wenn ich einschlafe,[381] höre ich ihn wieder murmeln. Das Dümmste aber ist, daß er nach dem geringsten Wortwechsel, den wir miteinander haben, in seine Frömmigkeit versinkt. Ich habe ja auch zeitlebens meine Religion gehabt. Ihr könnt darüber lachen, wie ihr wollt, aber ich glaube, was ich glaube. Doch er treibt es zu arg; er schluchzt und spricht von seinen Gewissensbissen. Vorgestern hatte er nach unserem Zanke einen förmlichen Anfall; ich war wirklich besorgt.

Sie unterbrach sich und rief:

Schaut, da kommt das Ehepaar Mignon. Ei, sie haben auch ihre Kinder mitgebracht. Sind die aber geschniegelt, die Kleinen.

Die Mignons waren in einem dunkelfarbigen Landauer gekommen, wie es sich für wohlhabende Bürgersleute geziemt. Rosa trug ein graues Seidenkleid mit roten Schleifen geputzt, lächelte und war glücklich über die Freude ihrer Söhne Henri und Charles, die in ihren etwas zu weiten Schülerblusen den Vordersitz einnahmen.

Als ihr Wagen seinen Platz an der Schranke eingenommen hatte und sie Nana erblickte mit ihrem prächtig angeschirrten Viererzuge und inmitten ihrer Blumen, verzog sie den Mund und wandte unwillig den Kopf ab. Mignon hingegen, der aufgeräumt schien, grüßte Nana mit der Hand. Er mengte sich grundsätzlich nicht in Weibergeschichten.

Was ich sagen wollte! rief Nana, das Gespräch wieder aufnehmend. Kennen Sie einen kleinen, alten Herrn mit schlechten Zähnen, namens Venot? Der war heute morgen bei mir.

Herr Venot? rief Georges verblüfft. Unmöglich! der ist ja ein Jesuit.

Richtig, ich habe das auch gleich heraus gehabt. Sie haben keine Ahnung von unserem Gespräch ... Es war höchst drollig ... Er sprach vom Grafen, von dem zerstörten[382] Hausfrieden, und bat mich, einer Familie das Glück wiederzugeben. Er benahm sich übrigens sehr höflich und lächelte häufig. Ich antwortete ihm, daß sein Wunsch dem meinigen begegne, und ich habe es übernommen, den Grafen mit seiner Gemahlin wieder auszusöhnen. Das ist keine leere Redensart von mir; ich wäre froh, wenn ich diese Leute zufrieden sähe. Es brächte auch mir Erleichterung; denn, sehen Sie, an manchen Tagen quält er mich furchtbar.

In diesem Herzensschrei machte sich ihr ganzer Mißmut der letzten Tage Luft. Überdies schien der Graf in argen Geldverlegenheiten zu sein; er war fortwährend in Angst, wie er den durch Labordette verwerteten Wechsel einlösen sollte.

Die Gräfin ist hier, bemerkte Georges, die Tribünen musternd.

Wo denn? rief Nana. Hat der Kleine aber Augen! Halten Sie meinen Sonnenschirm, Philipp!

Doch Georges kam mit einer raschen Bewegung seinem Bruder zuvor. Er war entzückt, den blauseidenen, mit Silberfransen geschmückten Schirm Nanas halten zu dürfen.

Nana schaute nun durch ein riesiges Opernglas umher.

Ach ja, ich sehe sie, sagte sie endlich. In der rechtsseitigen Tribüne bei einer Säule, wie? Sie trägt ein malvenfarbenes, ihre Tochter ein weißes Kleid. Schau, soeben begrüßt Daguenet die Damen.

Da sprach Philipp von der bevorstehenden Vermählung Daguenets mit dieser Hopfenstange der Estella. Die Sache sei beschlossen, die Verlobung bereits angekündigt. Die Gräfin wollte anfangs nicht einwilligen, allein sie mußte sich, so erzählt man, dem Willen des Grafen fügen.

Nana lächelte.

Ich weiß, ich weiß, murmelte sie dann. Umso besser für Paul. Er ist ein lieber Junge und verdient es.[383]

Dann neigte sie sich zu Ludwig und sagte:

Du unterhältst dich wohl ... Welche ernste Miene du machst.

Das Kind betrachtete ohne ein Lächeln diese große Menge mit ernster Miene, als ob es traurige Gedanken über das mache, was es sah.

Bijou, der seine Herrin verlassen hatte, die sich zu viel bewegte, schmiegte sich jetzt zitternd an den kleinen Ludwig.

Inzwischen bevölkerte sich der Rasen immer mehr; durch das Tor kamen noch immer Wagen in unendlicher Reihe an. Da waren Omnibusse, die mit ihren fünfzig Passagieren vom Boulevard der Italiener ankamen und rechts von den Tribünen sich aufstellten, dann Dogarts, Victorias, Landauer, von ausgesuchter Eleganz, vermischt mit Droschken, die von ihren Schindmähren geschüttelt wurden, dann wieder vierspännige Wagen, Mail coachs, wo die Herren auf dem hohen Kutschbock saßen, während die Diener im Innern des Wagens die Champagnerkörbe hüteten; ferner die sogenannten »Spinnen«, deren Räder im Vorbeisausen funkelten wie hellglänzender Stahl; endlich leichte Tandems, so fein gebaut wie ein Uhrwerk, die mit leisem Gerassel vorbeiflogen. Zuweilen kam ein Reiter vorüber; durch die Wagen hindurch drängte sich hastig eine dichte Menge. Das laute Geräusch der Räder, das von den Straßen des Gehölzes herübertönte, verwandelte sich auf dem Rasen plötzlich zu einem gedämpften Schleifen. Man hörte nichts mehr als das Getöse der immer mehr anwachsenden Menge, Schreie, Zurufe, Peitschengeknall. Wenn die Sonne infolge eines Windstoßes hinter den Wolken zum Vorschein kam, übergoß sie mit ihrer Flut von goldenem Lichte die lackierten Wagen und Geschirre, die reichen Toiletten der Damen, die mit ihren Peitschen auf den hohen Böcken sitzenden Kutscher.[384]

Jetzt stieg Labordette aus seinem Wagen, in dem Gaga, Clarisse und Blanche de Sivry ihm ein Plätzchen aufbewahrt hatten. Er eilte über den Weg, um in den Wiegeraum zu gelangen; da ließ ihn Nana durch Georges herbeirufen.

Wie hoch wettet man auf mich? fragte sie lachend.

Sie sprach von Nana, der Stute des Grafen Vandeuvre, die sich in dem letzten Rennen um den Damenpreis schmählich hatte schlagen lassen, während Lusignan rasch Favorit wurde, und man seit gestern auf dieses Pferd zwei gegen eins setzte.

Immer fünfzig, erwiderte Labordette.

Teufel, ich bin nicht viel wert, wie es scheint, sagte Nana scherzend. So werde ich denn auf mich nicht wetten. Nein, nicht einen Louisdor.

Labordette entfernte sich wieder eiligst, doch sie rief ihn noch einmal zurück, sie wollte seinen Rat hören.

Er, der mit den Trainers und Jockeis Beziehungen unterhalte, wisse gewiß Auskunft bezüglich aller Ställe, seine Vorhersagungen hätten sich ja schon zwanzigmal erfüllt. In der Sportwelt nannte man ihn den König der Tips.

Sag' einmal: auf welche Pferde soll ich setzen? wiederholte Nana. Wie hoch wettet man auf den Engländer?

Sprit! das Dreifache ... Valerio II. ebenfalls das Dreifache ... Cosimus fünfundzwanzigfach, Hazard vierzigfach, Boum dreißigfach, Pichenette fünfunddreißigfach, Frangipan zehnfach.

Nein, auf den Engländer wette ich nicht, sagte sie; ich bin Patriotin ... Vielleicht auf Valerio II. Der Herzog von Corbreuse hat soeben strahlend ausgesehen ... Aber nein – doch nicht ... Fünfzig Louisdor auf Lusignan; was meinst du?

Labordette betrachtete sie mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht.[385]

Sie neigte sich vor und besprach sich mit gedämpfter Stimme mit ihm, denn sie wußte, daß Vandeuvres ihn beauftragt hatte, bei den Buchmachern für ihn zu wetten, um leichter spielen zu können.

Doch Labordette, ohne sich in weitere Erklärungen einzulassen, überredete sie, sich ganz seiner Witterung zu überlassen, er werde ihre fünfzig Louisdors bestens anbringen; sie werde es nicht zu bereuen haben.

Du kannst auf alle Pferde setzen, die dir gefallen, nur nicht auf Nana, das ist eine Schindmähre.

Ein lautes Gelächter der Insassen des Wagens belohnte diesen Ausruf. Die jungen Leute fanden das Wort sehr drollig, während Ludwig, der nichts begriff, die matten Augen zu seiner Mutter erhob.

Labordette konnte indes noch immer nicht fort. Jetzt rief ihn Rosa Mignon, um ihm Anträge auf Wetten zu erteilen, die er sich in einem kleinen Schreibheftchen notierte. Dann kamen Clarisse und Gaga an die Reihe, um ihre Wetten auszutauschen; sie hatten verschiedene Dinge unter dem Publikum gehört und wollten nichts mehr von Valerio II. wissen, sondern auf Lusignan wetten. Labordette blieb gleichgültig und schrieb die Aufträge in sein Heft. Endlich konnte er fortkommen; man sah ihn zwischen zwei Tribünen verschwinden.

Es kamen noch immer Wagen, die sich bereits in einer fünften Reihe aufstellen, so daß sich rings um die Schranke eine dichte Masse bildete, aus der sich vereinzelt als weiße Flecke die Schimmel abhoben. Darüber hinaus sah man auf dem Rasen noch eine bunt durcheinander gewürfelte Menge von verschiedenartigen Privatfuhrwerken; den noch restlichen Teil des Rasens hielten die Reiter und Fußgänger besetzt. Über diesem Markttreiben erhoben sich die Trinkhallen, deren Zelte im hellen Sonnenschein weithin schimmerten.[386]

Das lebhafteste Getümmel aber fand in der Umgebung der Buchmacher statt, die auf ihren offenen Wagen standen und fortwährend heftig gestikulierten wie die Zahnreißer, während ihre Notierungen neben ihnen auf hohen Brettern angebracht waren.

Es ist zu dumm, daß man nicht wissen kann, auf welches Pferd man wetten soll. Ich will auch selbst einige Louisdors riskieren, sagte Nana.

Sie erhob sich im Wagen, um einen Buchmacher zu wählen, dessen Gesicht ihr zu gefallen schien. Allein sie vergaß sofort wieder ihre Absicht, als sie eine Menge Leute ihrer Bekanntschaft bemerkte. Außer den Mignon, Gaga, Clarisse und Blanche sah sie rechts und links, vorne und rückwärts, in der Masse der Wagen, die ihren Landauer jetzt umschlossen hielten, Tatan Néné in Gesellschaft von Maria Blond, in einer Viktoria, Caroline Héquet mit ihrer Mutter und zwei Herren in einer Kalesche; Louise Violaine ganz allein, ein kleines Blumenkörbchen in den Farben des Stalles Méchain – orange und grün – in den Händen; Lea de Horn auf dem hohen Bock einer Mailcoach, wo eine Menge von jungen Leuten ihr Unwesen trieb. In einer vornehmen großen Kutsche saß Lucy Stewart, in einfachem schwarzen Seidenkleid, mit vornehmer Miene an der Seite eines schlanken jungen Mannes, der die Uniform der Marineoffiziersaspiranten trug. Was aber Nana am meisten verblüffte, war Simonne, die soeben in einem von Steiner geführten Tandem ankam, auf dem rückwärts ein Lakei mit gekreuzten Armen saß. Simonne war glänzend, in weiße Seide gekleidet und mit Diamanten behangen vom Gürtel bis zum Hut, während der Bankier, eine ungeheure Peitsche schwingend, die zwei prächtigen Pferde lenkte, die vor seinen Wagen gespannt waren.

Zum Teufel, rief Nana, hat dieser Dieb von einem Steiner[387] schon wieder die Börse reingefegt. Ei, diese Simonne hat aber Schick.

Sie tauschte nach allen Seiten Grüße aus; sie überging niemanden, damit auch sie von allen Seiten gesehen werde; dann fuhr sie fort zu plaudern.

Das ist ihr Sohn, der junge Mann, den Lucy im Wagen mit sich führt, er ist sehr nett in seiner Uniform; darum nimmt sie eine so stolze Miene an. Sie wissen, meine Herren, sie hat Furcht vor ihm und gibt sich deshalb für eine Schauspielerin aus. Der arme junge Mann. Er scheint nichts zu ahnen.

Bah, murmelte Philipp lachend, wenn sie will, wird sie ihm eine reiche Erbin in der Provinz finden.

Nana schwieg jetzt, sie hatte im dichten Gewühle der Wagen Madame Tricon wahrgenommen. Die Tricon war in einer Droschke angekommen, von wo sie nichts sehen konnte; darum war sie auf den Kutschbock gestiegen, und wie sie da oben stand mit ihrer langen Taille und ihrem vornehmen Gesicht mit den Löckchen, wuchs sie über die Menge hinaus, sie schien über alle diese Damen zu herrschen. Sie lächelten ihr denn auch freundlich zu. Sie tat sehr stolz und schien keine von ihnen zu kennen. Jetzt war sie nicht gekommen, um Geschäfte zu machen, sie folgte aus Vergnügen dem Wettrennen, denn sie war leidenschaftlich für Pferde eingenommen.

Schau, La Faloise, sagte Georges plötzlich.

Alles staunte; Nana erkannte La Faloise nicht wieder. Seitdem er geerbt, hatte er einen außerordentlichen Schick angenommen. Sehr elegant gekleidet, das Haar glatt gescheitelt, nahm er eine nachlässige Haltung an, sprach mit leiser Stimme im Boulevardstil und beendete keinen einzigen Satz.

Prächtig sieht er aus, erklärte Nana.[388]

Gaga und Clarisse hatten La Faloise herbeigerufen, warfen sich ihm an den Hals und trachteten ihn zu fangen, doch er verließ sie sofort mit einer Miene der Verachtung. Nana bezauberte ihn, er eilte herbei, stellte sich an den Wagenschlag, und als sie ihn mit Gaga neckte, sagte er:

Ach nein. Aus ist's mit der alten Garde. Für Sie schwärme ich jetzt, meine Julia ...

Er hatte dabei die Hände aufs Herz gelegt und Nana lachte sehr laut über diese plötzliche Liebeserklärung vor aller Welt. Doch sie fuhr fort:

Jetzt nichts davon, ich vergesse sonst, daß ich wetten will. Georges siehst du jenen Buchmacher da unten, den großen Roten mit den gekräuselten Haaren? Er hat einen abscheulichen Kopf, der mir gefällt. Geh hin und gib ihm die Aufträge.

Auf was sollen wir denn wetten?

Oh, ich bin in dieser Hinsicht kein Patriot, blökte La Faloise, ich bin für den Engländer, sehr schick der Engländer.

Nana war empört. Man stritt über die Vorzüge der einzelnen Pferde. Um zu zeigen, daß er auf dem Laufenden sei, nannte La Faloise sie sämtlich Schindmähren; Frangipane, Eigentum des Barons Verdier, war von The Truth aus der Leonore, ein großer Falbe, der Gewinnmöglichkeiten gehabt hätte, wenn man ihm nicht beim Einreiten eine Verrenkung beigebracht hätte. Was Valerio II. betrifft, aus dem Stalle Corbreuse, sei dieser nicht fertig, er habe bei dem Aprilrennen die Darmgicht gehabt ... man habe es geheimgehalten, aber er, La Faloise wisse es bestimmt, auf Ehrenwort. Er schloß damit, daß er empfahl, auf Hasard zu wetten, ein Pferd aus dem Stalle Méchain, das am schäbigsten unter allen aussehe und auf das niemand setzen wolle. Nichtsdestoweniger sei Hasard ein vorzügliches Pferd und werde laufen, daß alles verblüfft sein werde.[389]

Nein, sagte Nana, ich will zehn Louis auf Lusignan und fünf auf Boum setzen.

La Faloise schlug die Hände zusammen.

Aber, meine Teure, Boum ist ja ein schäbiger Gaul, nur nicht auf dem Boum. Und gar auf Lusignan, niemals. Lusignan stammt aus Lamb mit Prinzeß, beide hatten zu kurze Beine.

Philipp bemerkte, daß Lusignan dennoch bei den April- und Mairennen zwei Preise gewonnen habe.

Doch La Faloise meinte, das beweise nichts, im Gegenteil, man müsse nur um so mißtrauischer sein. Überdies werde Lusignan von Gresham geritten und Gresham habe Pech, er komme niemals herein.

Das Gespräch, das in Nanas Landauer geführt wurde, schien sich über den ganzen Rasen zu verbreiten. Man hörte überall laute Stimmen, die Leidenschaft des Spiels schien alle Gesichter zu röten und die Hände in lebhafte Bewegung zu setzen, während die Buchmacher auf ihren hohen Plätzen ihre Angebote ausriefen und fortwährend Notizen machten. Die wütendsten Wetten fanden im Wageraume statt. Da war eine Menge kleiner Leute, die ihre hundert Sous wagten und ihre Gier nach einem Gewinne von einigen Louisdors ungeniert zu Markte trugen. Im ganzen beschränkte sich der Kampf zwischen Sprit und Lusignan. Engländer, schon an ihrem Äußern leicht erkennbar, gingen in Gruppen auf und ab, in ihren Gesichtern war schon die Siegesgewißheit zu lesen. Brahmah, ein Pferd des Lord Reading, hatte im vorigen Jahre den großen Preis davongetragen. Es sei ein Unglück, wenn Frankreich heuer wieder geschlagen werde. Alle Damen erwärmten sich schon aus Patriotismus für Lusignan. Der Stall des Grafen Vandeuvres wurde das Bollwerk der nationalen Ehre; man lobte Lusignan, man verteidigte ihn, man rief ihm Beifall zu. Gaga, Blanche, Karoline[390] und alle anderen wetteten auf Lusignan. Lucy Stewart enthielt sich des Wettens mit Rücksicht auf ihren Sohn; dagegen erzählte man sich, daß Rosa Mignon Labordette Aufträge auf hundert Louisdors gegeben habe. Die Tricon, hoch oben neben ihrem Kutscher sitzend, wartete die letzte Minute ab; sie behielt ihre volle Kaltblütigkeit inmitten der Gespräche und beherrschte noch immer die stetig anwachsende Menge. Sie hörte alles mit an und machte mit majestätischer Miene kurze Notizen.

Und Nana? fragte Georges. Setzt denn niemand auf Nana?

In der Tat setzte niemand auf Nana, man sprach nicht einmal von Nana. Der Outsider aus dem Stall Vandeuvres' verschwand völlig neben der Popularität Lusignans. Doch La Faloise erhob die Arme in die Luft und sagte:

Ich habe einen Gedanken ... Ich setze einen Louis auf Nana.

Bravo, ich setze zwei Louis, sagte Georges.

Und ich setze drei Louis, setzte Philipp hinzu.

So gingen sie immer höher, als ob sie sich ein Vergnügen daraus machten, Nana zu versteigern. La Faloise sprach davon, daß er sie mit Gold bedecken wolle. Dann machten sie sich auf den Weg, um unter den Wettenden für Nana Freunde zu gewinnen. Doch die Dirne rief ihnen zu:

Sie wissen doch, ich setze um keinen Preis. Georges, zehn Louis auf Lusignan und fünf Louis auf Valerio II.

Indessen hatten die jungen Leute sich entfernt. Sie blickte ihnen fröhlich nach, wie sie sich zwischen den Rädern und unter den Pferdeköpfen hindurchwanden. Sobald sich Bekannte näherten, liefen sie hinzu und schmeichelten Nana. Lautes Gelächter verbreitete sich unter der Menge, wenn sie zuweilen sich umwandten und mit den Fingern die Summen zeigten, die gesetzt wurden, worauf Nana zum Danke[391] ihren Sonnenschirm schwang. Sie machten übrigens keine glänzenden Geschäfte. Einige Herren ließen sich überreden, so auch Steiner, der von Nanas Anblick bezaubert, dreißig Louisdors wagte. Die Frauen aber lehnten entschieden ab. Sie meinten, es sei ein sicherer Verlust. Auch dachten sie, es sei nicht gar so notwendig, dieser schmutzigen Dirne in die Hände zu arbeiten, die mit ihren vier Schimmeln, ihren Postillons und ihrem frechen Benehmen die ganze Welt verschlingen zu wollen schien. Gaga und Clarisse taten sehr beleidigt und fragten La Faloise, ob er sie zum besten halten wolle. Georges stellte sich am Wagen des Mignonschen Ehepaares auf und bot Wetten auf Nana an. Rosa wandte beleidigt den Kopf, ohne ihm auch nur zu antworten. Man muß ein rechter Schmutzfink sein, meinte sie, um seinen Namen einem Pferde zu überlassen. Mignon hingegen nahm die Wette mit vergnügter Miene an und sagte, die Frauen brächten immer Glück.

Nun? fragte Nana, als die jungen Leute nach einem langen Besuch bei den Buchmachern zurückkehrten.

Vierzigfaches Geld sitzt auf Ihnen, sagte La Faloise.

Was, vierzigfaches Geld? rief sie verblüfft, es saß ja schon fünfzigfaches Geld. Was geht denn vor?

Jetzt erschien auch Labordette. Man schloß eben die Bahn ab, ein Glockenzeichen kündete das erste Rennen an. Inmitten des Geräusches der Erwartung befragte sie ihn über dieses plötzliche Ansteigen, doch er antwortete ausweichend; ohne Zweifel war die Nachfrage groß. Sie mußte sich mit dieser Erklärung begnügen; übrigens meinte Labordette, Vandeuvres werde sich einen Augenblick freimachen, um bei ihr vorzusprechen.

Das erste Rennen war bald vorüber, man interessierte sich nicht sehr dafür, denn die ganze Aufmerksamkeit war dem großen Pariser Preise zugewendet. In diesem Augenblicke[392] riß eine Wolke und ein heftiger Gußregen strömte auf die Bahn nieder. Unbeschreibliches Geschrei, untermischt mit Scherzen und Flüchen, erhob sich in der Menge, und wer nur konnte, suchte unter den Zeltdächern der Trinkhallen Zuflucht. Die Damen in den Wagen suchten unter ihren Sonnenschirmen Schutz, während die geschäftigen Lakaien in ihren aufgestülpten Kapuzen umherliefen. Doch der Platzregen dauerte nicht lange, bald brach die Sonne wieder hervor. Hinter der Wolke öffnete sich eine breite blaue Spalte am Himmel. Diese Aufheiterung des Himmels brachte auch den Damen wieder ihre gute Laune.

Ach, du armer kleiner Ludwig, rief Nana; bist du sehr naß geworden, mein Allerliebster?

Der Kleine ließ sich abtrocknen, ohne zu antworten. Nana hatte ihr Sacktuch genommen und trocknete zuerst den Kleinen und dann das Hündchen ab. Ihr weißes, seidenes Kleid werde wohl einige Flecke davontragen, aber sie mache sich nichts daraus. Die Sträuße waren durch den Regen erfrischt worden und schöner und duftiger als vorher. Der Regenguß hatte indessen die Tribünen plötzlich gefüllt; Nana blickte mit ihrem Opernglas umher.

Aus der Entfernung konnte man nur eine feste, undeutliche Masse unterscheiden, einen dunkeln Hintergrund, aus dem sich die weißen Flecke der menschlichen Gesichter abhoben. Nana unterhielt sich hauptsächlich über die Damen, die der Platzregen von den Sesseln verjagt hatte, die hart an der Bahn am Fuße der Tribünen aufgestellt waren. Da den Dämchen von zweifelhaftem Rufe der Eintritt in den Wiegeraum untersagt war, machte Nana herbe, spöttische Bemerkungen über alle diese Damen, die diesen Vorzug genießen durften.

Jetzt lief ein Geräusch durch die Menge: die Kaiserin war eben auf der kleinen Mitteltribüne erschienen. Diese[393] Tribüne hatte die Form eines Schweizer Pavillons; auf dem Balkon stand eine Reihe von roten Sesseln.

Ah, da ist ja auch der Graf, rief Georges. Ich wußte nicht, daß er diese Woche Dienst habe.

Hinter der Kaiserin tauchte die stramme, feierliche Figur des Grafen Muffat auf. Die jungen Leute machten sich lustig über ihn und bedauerten, daß Satin nicht da sei, um ihn zu verhöhnen. In diesem Augenblicke bemerkte Nana durch ihr Opernglas den Kopf des Prinzen von Schottland, der sich auf der kaiserlichen Tribüne befand.

Schau, Charles, rief sie.

Sie fand, daß er in den letzten achtzehn Monaten, seit sie ihn gesehen, sehr fett geworden war; und sie gab Einzelheiten über seinen Körper. Ein prächtig gebauter Herr ...

In den Wagen ringsumher flüsterten die Damen einander zu, der Graf habe Nana sitzen lassen. Es war eine ganze Geschichte. Man sei in den Tuilerien, seitdem der Graf sein Verhältnis zu Nana offenkundig machte, über das Betragen des Kammerherrn empört gewesen. Um seine Stellung zu erhalten, habe er mit Nana gebrochen. La Faloise hinterbrachte Nana diese Geschichte brühwarm und bot sich ihr von neuem an, wobei er sie abermals »Meine Julia« nannte.

Doch sie lachte laut und sagte:

Das ist zu einfältig. Sie kennen ihn nicht. Ich brauche nur »Pst!« zu machen, und er läßt mir zuliebe die ganze Welt fahren.

Seit einigen Minuten betrachtete sie durch das Glas auch die Gräfin und ihre Tochter. Daguenet befand sich in Gesellschaft der Muffatschen Damen. Jetzt kam Fauchery, der die ganze Umgebung störte, um die beiden Damen begrüßen zu können. Auch er blieb lächelnd in der Gesellschaft[394] der Muffatschen Damen. Nana zeigte mit einer verächtlichen Gebärde nach der Tribüne und fuhr fort:

Diese Leute imponieren mir überhaupt nicht ... Ich kenne sie zu genau ... Man muß diese Leute sehen, wenn sie schwach werden ... Da verdienen sie sehr wenig Achtung. Ob hoch, ob niedrig. Schwein bleibt Schwein. Darum soll man mich in Ruhe lassen mit diesem Volk.

Ihre Gebärde umfaßte die ganze große Menge, von den Reitknechten angefangen, die die Pferde an den Zügeln führten, bis zur Kaiserin, die mit dem Prinzen von Schottland sprach, der, wie Nana versicherte, auch ein rechter Schweinekerl sei.

Bravo, Nana. Sehr schick! rief La Faloise entzückt.

Man hörte Glockensignale, die Rennen nahmen ihren Fortgang. Soeben war das Rennen um den Preis von Ispahan beendigt; Berlingot, ein Pferd aus dem Stalle Méchain, hatte ihn gewonnen. Nana rief Labordette herbei, um sich nach dem Schicksal ihrer hundert Louisdors zu erkundigen. Er lachte und weigerte sich, ihr die Namen der Pferde zu nennen, auf die er für sie gesetzt hatte; sie könne sich das Glück verderben, meinte er, ihr Geld sei gut angelegt; sie werde es sofort sehen. Sie gestand ihm, noch zehn Louisdors auf Lusignan und fünf auf Valerio II. gewettet zu haben. Er zuckte die Achseln mit der Miene eines Mannes, der da sagen will: Die Weiber machen doch immer und ewig Dummheiten. Sie war erstaunt darüber und schien nicht zu begreifen.

In diesem Augenblicke bevölkerte der Rasen sich noch mehr. In der Erwartung des Rennens um den großen Preis lagerten sich viele zu einem Frühstück unter freiem Himmel. Man aß und trank im Grase, auf den Kutschböcken der Mailcoachs, in den Landauern, in den Viktorias, überall. Man breitete kalte Speisen aus und entkorkte die aus den[395] Wagenkästchen hervorgeholten Champagnerflaschen. Die Stöpsel knallten; Scherzworte flogen hin und her. Gläser wurden angestoßen. Gaga, Clarisse und Blanche hielten ebenfalls Mahlzeit; sie aßen Sandwichs auf einer Decke, die sie über ihre Knie breiteten. Louise Violaine verließ ihren Wagen und gesellte sich zu Karoline Héquet, die bereits auf dem Rasen saß; zu ihren Füßen richteten mehrere Herren eine kleine Kneipe ein und Tatan, Maria, Simonne kamen herbei, um zu trinken; während neben ihnen hoch auf der Kutsche der Lea de Horn mehrere junge Leute sich geräuschvoll mit Champagner berauschten. Doch bald drängten sich die Leute hauptsächlich um Nanas Landauer. Sie stand aufrecht im Wagen und schenkte den Herren, die herbeikamen, um sie zu begrüßen, Champagner ein. Einer ihrer Diener reichte ihr die Flaschen, während La Faloise mit lauter Stimme die Leute herbeirief:

Kommen Sie, meine Herren. Es kostet nichts ... Jeder bekommt zu trinken ...

Hören Sie auf, sagte Nana endlich. Man wird uns für Bänkelsänger halten!

Sie unterhielt sich indes ausgezeichnet. Einen Augenblick hatte sie den Einfall, der Rosa Mignon, die tat, als ob sie nicht trinke, durch George ein Glas Champagner zu senden. Henri und Charles, ihre Söhne, langweilten sich zum Sterben und hätten wohl gern Champagner getrunken. Doch Georges leerte selber das Glas, er fürchtete, von Rosa Grobheiten zu bekommen. Jetzt erinnerte sich Nana des kleinen Ludwig, der hinter ihr saß, und den sie fast ganz vergessen hatte. Vielleicht hat er Durst: und sie zwang ihn, einige Tropfen Wein zu trinken, wonach er furchtbar hustete.

Herbei, herbei, meine Herren, es kostet nichts ... Ganz umsonst.

Nana unterbrach ihn durch einen Ausruf:[396]

Ei, Bordenave steht da unten ... Rufen Sie ihn. Oh, beeilen Sie sich.

Es war in der Tat Bordenave, der die Hand über den Rücken gekreuzt spazieren ging. Er trug einen von der Sonne gebleichten Hut und einen fettigen, fadenscheinigen Rock. Kurz: ein durch den Bankrott sehr herabgekommener Bordenave, aber noch immer wütend wie vordem, sein Elend unter die gute Gesellschaft tragend und mit der Keckheit eines Menschen auftretend, der jeden Augenblick bereit ist, dem Glücke Gewalt anzutun.

Teufel, welche Anmut, sagte er, als Nana ihm gutmütig die Hand reichte.

Nachdem er ein Glas Champagner geleert, fügte er im Tone des Bedauerns hinzu:

Ach, wenn ich ein Weib wäre ... Doch das tut nichts. Willst du zum Theater zurückkehren? Ich habe die Absicht, das Scherz-Theater zu mieten. Wir beide werden ganz Paris in Aufruhr versetzen. Willst du? Du bist es mir schuldig.

Er war etwas heiterer. Diese vertrackte Nana, sagte er, tropfe ihm Balsam ins Herz, wenn er nur in ihre Nähe komme. Sie sei seine Tochter, sein Blut fließe in ihren Adern.

Der Kreis um Nanas Wagen wurde immer größer. Jetzt schenkte La Faloise Champagner ein, während Philipp und Georges die Leute herbeiriefen. Nach und nach sammelte sich der ganze Rasen an. Nana hatte für jeden ein Lächeln oder scherzhaftes Wort. Die trinkenden Gruppen kamen alle herbei, aller Champagner kam zu ihr; die ganze Menge, der ganze Lärm scharte sich um ihren Landauer, und wie sie dastand mit ihren in der Luft flatternden goldenen Haaren in ihrem im Sonnenschein hellschimmernden, schneeweißen Gesicht, beherrschte sie das ganze Champagnergelage.[397] Auf dem Höhepunkt der Lust, hob sie, um alle ihre Neiderinnen ringsumher bersten zu machen, ihr Champagnerglas hoch, wie ehemals in der Stellung der siegreichen Venus.

Da berührte sie jemand von hinten an der Schulter; als sie sich umwandte, bemerkte sie zu ihrem Erstaunen Mignon auf dem rückwärtigen Sitze. Sie verschwand einen Augenblick aus der Höhe und nahm neben ihm Platz; denn er war gekommen, um ihr etwas Ernstes mitzuteilen. Mignon sagte zu jedem, der es hören wollte, es sei lächerlich von seiner Frau, daß sie Nana zürne, er finde es dumm und überflüssig.

Ich will dich nur benachrichtigen, meine Liebe; sei auf deiner Hut und erzürne Rosa nicht zu sehr, denn sie besitzt eine Waffe gegen dich, und da sie dir wegen der Geschichte mit der »Kleinen Herzogin« noch immer nicht verziehen hat ...

Eine Waffe? fragte Nana. Was geht das mich an?

Es ist ein Brief, den sie in der Tasche Faucherys gefunden zu haben scheint. Ein Brief der Gräfin Muffat an diesen Fauchery. Rosa ist entschlossen, diesen Brief dem Grafen zu senden, um sich an ihm und an dir zu rächen.

Was geht all das mich an? wiederholte Nana. Das wird drollig sein, wir werden etwas zum Lachen haben.

Aber, ich will es nicht, fuhr Mignon lebhaft fort. Es wäre ein hübscher Skandal, und nichts kommt dabei heraus ...

Er hielt inne, er fürchtete schon zuviel gesagt zu haben. Nana tat noch immer sehr gleichgültig; es sei nicht ihre Sache, die ehrbaren Frauen zu schonen. Aber als sie sah, daß er weiter in sie drang, schaute sie ihm fest ins Gesicht. Ohne Zweifel fürchtete er, daß Fauchery wieder in sein Haus zurückkehren könne, wenn der Journalist mit der[398] Gräfin breche. Das war es, was Rosa wollte, indem sie sich rächte; denn sie bewahrte noch immer eine Zärtlichkeit für den Journalisten im Herzen. Nana wurde nachdenklich; sie dachte an den Besuch des Herrn Venot; ein Plan stieg in ihr auf, während Mignon sie zu überzeugen suchte.

Nehmen wir an, Rosa sendet den Brief ab, fuhr er fort; es kommt ein Skandal heraus, du bist in die Sache verwickelt; man sieht, du warst die Ursache von allem ... Vor allem wird der Graf sich von seiner Frau trennen ...

Warum denn? bemerkte Nana, im Gegenteil ...

Nun hielt sie inne. Es war ja nicht nötig, daß sie laut dachte. Sie schien auf die Absichten Mignons einzugehen, um sich seiner zu entledigen. Und da er ihr riet, sich Rosa gegenüber ein wenig zu demütigen, beispielsweise ihr hier vor aller Welt einen kleinen Besuch zu machen, erwiderte sie, sie werde sehen, sie werde sich die Sache überlegen. Jetzt erhob sich lauter Lärm. Auf der Rennbahn kamen Pferde an; das Rennen um den Preis der Stadt Paris war eben zu Ende; Cornemuse hatte den Preis gewonnen.

Nun folgte das Rennen um den Großen Preis. Die Aufregung stieg, eine gewisse Angst peitschte die fortwährend sich bewegende Menge; alles schien die Minuten beschleunigen zu wollen. In dieser letzten Stunde trat für alle Wettenden eine Überraschung ein, nämlich das fortgesetzte Steigen in dem Spiel auf Nana, das Nebenpferd aus dem Stalle Vandeuvres. Jeden Augenblick kamen Herren mit immer neuen Ziffern: Nana steht dreißig, Nana steht fünfundzwanzig, dann zwanzig, dann fünfzehn. Niemand begriff die Sache. Eine Stute, die in allen Rennen geschlagen worden, eine Stute, von der noch niemand am Morgen zu reden wagte? Was bedeutete dieser plötzliche Umschwung? Die einen machten sich lustig und sprachen davon, daß alle, die sich in diese Komödie eingelassen, mit leeren Taschen nach[399] Hause gehen würden. Andere, die die Sache etwas ernster nahmen, witterten eine List dahinter. Man erinnerte an allerlei schmutzige Geschichten bei früheren Wettrennen, doch wagte man nicht laut Anklagen vorzubringen; der Name Vandeuvres bürgte gegen solche Schmutzereien.

Wer wird die Nana reiten? fragte La Faloise.

In diesem Augenblicke tauchte die wahre Nana wieder auf; daher gaben die Herren der Frage des La Faloise einen schmutzigen Sinn, und man lachte ringsumher. Nana grüßte.

Price wird sie reiten, erwiderte sie.

Nun nahm das Gespräch seinen Fortgang. Price war eine englische Berühmtheit, in Frankreich unbekannt. Warum hat Vandeuvres diesen Jockei kommen lassen, da doch Nana sonst von Gresham geritten wurde? Überdies war man erstaunt darüber, daß er Lusignan diesem Gresham überließ, der, wie La Faloise behauptete, niemals ans Ziel kam. Doch alle diese Bemerkungen gingen in einer Flut von Scherzen und Gegenerklärungen und in dem Getöse der bunten Menge unter. Man begann wieder, Champagner zu trinken, um die Zeit zu töten. Da lief ein Geflüster durch die Menge, und die Gruppe machte einem Ankommenden Platz. Es war Vandeuvres.

Nana tat, als ob sie verletzt sei.

Sehr schön, daß Sie jetzt kommen; ich brenne schon vor Verlangen, den Wiegeraum zu sehen.

So kommen Sie, es ist ja noch Zeit; ich habe eine Damenkarte bei mir.

Sie ging an seinem Arme fort, glücklich über die neidischen Blicke von Lucy, Karoline und allen übrigen. Im Wagen blieben die beiden Hugon und La Faloise zurück und schenkten weiter von ihrem Champagner ein. Auf halbem Wege rief sie ihnen zu, sie werde sofort zurückkommen. Vandeuvres bemerkte jetzt Labordette, er rief ihn herbei[400] und die beiden Herren tauschten einige kurze Bemerkungen aus.

Sie haben alles aufgenommen?

Ja.

Für wie viel?

Fünfzehnhundert Louisdors, so ziemlich überall.

Nana spitzte neugierig das Ohr, daher schwiegen sie. Vandeuvres war in höchster Aufregung; in seinen Augen erschien jenes seltsame Leuchten, das zur Nachtzeit sie in ihrem Bette so oft erschreckt hatte. Es war damals, als er davon sprach, sich mit seinen Pferden in seinem Stalle zu verbrennen. Als sie über die Bahn gingen, sprach sie mit gedämpfter Stimme zu ihm:

Sag' einmal. Erkläre mir: warum steigt denn deine Stute im Werte? Das macht Aufsehen.

Er schreckte zusammen und ließ die Worte fallen:

Ah, spricht man schon davon? Welches Gesindel, diese Wettenden? Wenn ich ein Favoritpferd habe, werfen sich alle darauf. Kommt dann ein zweites, so fallen sie wieder über dieses her.

Du hättest mich benachrichtigen sollen; ich habe gewettet. Hat das Nebenpferd Gewinnmöglichkeiten?

Laß mich in Ruh', rief er wütend; jedes Pferd hat sie. Der Wert des Nebenpferdes steigt, weil man darauf gewettet hat; wer gewettet hat, kann ich nicht wissen. Wenn du mich mit solchen Fragen quälen willst, laß ich dich stehen.

Dieser Ton lag seinem sonstigen Wesen, sowie seinen Gewohnheiten fern; sie war mehr erstaunt als beleidigt. Er selbst schämte sich seiner Aufwallung, und da sie ihn ersuchte, etwas höflicher zu sein, entschuldigte er sich. Seit einiger Zeit kamen solche plötzliche Anwandlungen in seiner Stimmung vor. Es war in Paris bekannt, daß er heute[401] seinen letzten Trumpf ausspiele. Wenn seine Pferde nicht gewinnen, wenn sie die ansehnlichen Summen, die auf sie gewettet worden, nicht davontragen, so war es für ihn ein Verhängnis, eine Katastrophe, der Zusammenbruch seines Kredits, ein ungeheurer Abgrund öffnete sich dann unter seiner mühsam aufrecht erhaltenen Scheinexistenz. Nana, auch das wußte jeder, war die Männervertilgerin, die diesem ohnehin stark erschütterten Vermögen den Rest gab. Man erzählte von wahrhaft verrückten Launen, bei denen das Geld sozusagen in den Wind verstreut wurde. Man erzählte von einer Partie nach Baden-Baden, bei der er nicht soviel Geld behielt, um die Hotelrechnung zu bezahlen. Ein anderes Mal soll sie im betrunkenen Zustande eine Handvoll Diamanten in den Kamin geworfen haben, um zu sehen, ob sie eben so gut brennen wie die Kohlen. Dieses große, starke Weib hatte allmählich vollständig Besitz genommen von diesem ruinierten Sprößling eines edlen Geschlechtes. Acht Tage vor dem Rennen erst hatte sie sich von ihm ein Schloß in der Normandie zwischen Havre und Trouville versprechen lassen, und er setzte alle Hebel in Bewegung, um dies letzte Ehrenwort zu halten. Allein, sie machte ihn jetzt nervös, und er fand sie so dumm, daß er Lust hatte, sie zu prügeln.

Der Türhüter ließ sie in den Wiegeraum eintreten; er wagte es nicht, diese Dame, die am Arme des Grafen ging, anzuhalten. Nana, stolz darüber, endlich den Fuß auf diesen verbotenen Boden setzen zu dürfen, benahm sich geziert und ging langsamen Schrittes an den Damen vorbei, die am Fuße der Tribünen standen. Auf zehn Reihen von Sesseln befand sich eine dichte Masse von Toiletten, deren lichte Farben im heiteren Sonnenschein hell schimmerten. Da und dort wurde ein Sessel verschoben; verschiedene Familienkreise bildeten sich je nach dem Zufall des Zusammentreffens[402] wie in einem öffentlichen Garten. Man sah Kinder von einer Gruppe zur anderen laufen. Weiter oben breiteten sich die Tribünen mit ihren langen Sitzreihen voll Zuschauern aus. Nana tat, als wolle sie die Gräfin Sabine scharf beobachten. Als sie später an der kaiserlichen Tribüne vorbeikam, schien der Anblick des Grafen Muffat, der in strammer Haltung hinter der Kaiserin stand, sie zu belustigen.

Wie dumm schaut er doch aus, sagte sie laut zu Vandeuvres.

Sie wollte alles sehen.

Dieser Teil des Parkes mit seinen Rasenplätzen und Gebüsch schien ihr nicht so lustig. In der Nähe des Gitters hatte ein Konditor ein großes Büffet mit Gefrorenem errichtet. Unter einer ländlichen Strohhütte sah sie eine Gruppe von Leuten gestikulieren und schreien. Das war der Ring. Nebenan befanden sich leere Pferdestandplätze; zu ihrer Enttäuschung sah sie da nur das Pferd eines Gendarmen. Dann kam der »Padock«, eine kleine Seitenbahn von hundert Metern im Umfange, wo ein Stallbursche Valerio II., dessen Kopf verhüllt war, umherführte. Auf den Treppenstufen, die zu den Tribünen führten, standen viele Herren mit dem orangefarbenen Abzeichen im Knopfloch. In den offenen Galerien der Tribünen herrschte ein unaufhörliches Gewoge, das Nana einen Augenblick interessierte; aber, dachte sie, im Grunde ist all das nicht wert, daß man sich darüber kränkt, wenn man hier nicht Einlaß findet.

Jetzt gingen Daguenet und Fauchery grüßend vorüber. Sie machte ihnen ein Zeichen, sie mußten also zu ihr kommen. Sie brachte jetzt mit ihrem Treiben eine Weile den ganzen Wiegeraum in Aufruhr. Dann unterbrach sie sich und rief:

Schau, der Marquis von Chouard. Wird der aber alt. Er arbeitet also noch immer daran, sich zugrunde zu richten?[403]

Da erzählte Daguenet den jüngsten Streich des Alten; eine Geschichte von vorgestern, die noch niemandem bekannt war. Nachdem er monatelang um Gaga herumgelungert, hatte er ihr um dreißigtausend Franken ihre Tochter Amélie abgekauft.

Eine saubere Geschichte, rief Nana entrüstet. Es ist eine Freude, Töchter zu haben. Doch da fällt mir ein ... Das muß ja Lily sein, da unten in einem Wagen in Gesellschaft einer Dame. Ich habe das Gesicht erkannt; der Alte scheint sie spazieren geführt zu haben.

Vandeuvres interessierte sich nicht für dieses Gespräch; er war ungeduldig und suchte sich von ihr loszumachen. Da Fauchery ihr im Weggehen gesagt hatte, sie müsse sich die Buchmacher ansehen, sonst habe sie nichts gesehen, mußte der Graf sie wohl oder übel zu den Buchmachern führen. Da war sie auch zufrieden; dieser Anblick interessierte sie.

Zwischen mehreren, von jungen Kastanienbäumen umsäumten Rasenplätzen öffnete sich ein runder Platz. Hier hatten unter schattigem Laub die Gilde der Buchmacher in langer Reihe ihr Lager aufgeschlagen, um den Wettenden zu Diensten zu stehen wie auf offenem Markte. Um die Menge zu beherrschen, stellten sie sich auf hölzerne Bänke. Um ihre Zettel weithin sichtbar zu machen, hefteten sie diese an den Bäumen an. Fortwährend spähten sie ringsumher und auf einen Wink, auf ein Augenblinzeln schrieben sie die Wetten ein, so rasch, daß die Zuschauer sie anstaunten, ohne zu begreifen. Es war ein Wirrwarr von Zurufen und Ziffern. Von Zeit zu Zeit wurde das Getöse noch lauter; Laufjungen erschienen am Eingang des Platzes, riefen den Buchmachern hastig ihre Ziffern zu und verschwanden wieder in der Menge.

Das ist drollig, murmelte Nana, der die Geschichte[404] außerordentlich gefiel. Die sehen ja nach vorn und hinten ... Der große da schaut aber wild aus. Dem möchte ich nicht im Dunkel eines Waldes begegnen.

Vandeuvres zeigte ihr einen Buchmacher, der früher Angestellter in einer Modewarenhandlung, in zwei Jahren drei Millionen gewonnen hatte. Es war ein Blonder von zarter, schmächtiger Gestalt; ein grenzenloser Respekt umgab ihn; die Leute blieben stehen, um ihn zu betrachten.

Sie war im Begriff, den Platz zu verlassen, als Vandeuvres einem der Buchmacher mit dem Kopfe ein Zeichen gab. Dieser rief den Grafen herbei. Er war früher bei Vandeuvres als Kutscher bedienstet gewesen; ein Riese an Gestalt mit Schultern wie ein Ochse, das Gesicht hochgerötet. Seitdem er mit Geldmitteln von zweifelhafter Herkunft auf den Wettrennplätzen das Glück versuchte, trat ihm der Graf näher; er gab ihm geheime Aufträge und behandelte ihn noch immer als Diener, vor dem man keine Geheimnisse hat. Trotz der Freundschaft des Grafen hatte auch dieser Mann große Summen verloren, und auch er spielte heute, fieberhaft erregt, seine letzte Karte aus.

Nun, Maréchal, fragte der Graf leise, wieviel haben Sie gesetzt?

Fünftausend Louisdors, erwiderte der Buchmacher gleichfalls mit gedämpfter Stimme. Das ist hübsch, wie? ... Ich muß gestehen, daß ich den Kurs auf drei gebracht habe ... Der Graf schien unzufrieden.

Nein, nein. Suchen Sie, ihn wieder auf zwei zu bringen. Ich werde Ihnen nichts mehr sagen, Maréchal.

Was kann Ihnen das jetzt schaden? entgegnete der Buchmacher mit der vertraulichen Unterwürfigkeit eines Mitschuldigen. Ich muß die Leute heranlocken, um Ihre zweitausend Louis anzubringen.

Vandeuvres hieß ihn schweigen. Als er sich entfernte,[405] bedauerte der Buchmacher, daß er den Grafen über den steigenden Wert seiner Stute nicht befragt hatte. Wenn die Stute Glück hätte, wäre er geliefert, denn er hat zweihundert gegen fünfzig gesetzt. Nana, die nichts von dem Geflüster verstanden hatte, wagte es nicht, Aufklärungen zu verlangen. Der Graf wurde immer nervöser und übergab sie plötzlich Labordette, den sie trafen.

Führen Sie sie zurück ... Ich habe zu tun ... Auf Wiedersehen.

Er trat in den Saal ein. Es war dies ein enger Raum mit niedriger Decke, fast ganz ausgefüllt durch eine große Wage. Der Saal glich dem Gepäckmagazin auf einer kleinen Bahnstation. Da war Nana wieder stark enttäuscht. Sie hatte sich einen riesigen Raum vorgestellt mit einer ungeheuren Wage, um die Pferde zu wiegen. Und jetzt sah sie, daß nur die Jockeis gewogen werden. Ah, da lohnt es ja gar nicht die Mühe, daß sie mit ihrer Wage so viel Aufsehens machen. Eben stand ein Jockei mit dummem Gesicht auf der Wage und wartete, daß der Wiegemeister, ein dicker Mensch im Überrock, sein Gewicht feststelle. Inzwischen hielt ein Stallknecht vor der Türe das Pferd Cosinus, das eine bewundernde Menge stillschweigend umstand.

Man schickte sich an, die Bahn abzuschließen. Labordette trieb Nana zur Eile an; doch bevor sie gingen, zeigte er ihr einen kleinen Menschen, der mit Vandeuvres abseits stehend sprach.

Das ist Price, der da ...

Ah, der mich reiten wird ... murmelte sie lachend.

Sie fand ihn sehr häßlich. Alle Jockeis schienen ihr wahre Kretins zu sein. Sie fand es auch natürlich, denn »man hinderte sie zu wachsen« sagte sie. Price, ein Mann von vierzig Jahren, sah aus wie ein vertrocknetes altes[406] Kind, mit einem langen, magern, runzligen, harten, bewegungslosen Gesicht.

Der Körper war so hager, so knochig, daß die blaue Jacke mit weißen Aufschlägen auf einer hölzernen Puppe zu sitzen schien.

Nein, der wird mir kein Glück bringen ... murmelte Nana im Weggehen.

Eine große Menschenmenge bedeckte noch immer die Bahn, deren durchnäßter und zertretener Rasen schwarz geworden war. Vor den zwei Anzeigetafeln, die auf hohen gußeisernen Säulen angebracht waren, drängte sich die Menge, die Köpfe erhebend und jede Pferdenummer, die durch eine elektrische Leitung vom Wiegeraum aus ersichtlich gemacht wurde, mit lautem Gejohle begrüßend. Die Herren machten Notizen auf ihren Programmen. Die Anzeige, daß Pichenette nicht laufen werde, verursachte Erregung. Nana ging mit Labordette rasch über die Bahn. Die Glocke tönte unaufhörlich, damit das Publikum den Rasen räume.

Ah, Kinder, rief Nana, wieder in den Landauer steigend. Lauter Schwindel, ihr Wiegeraum ...

Man begrüßte sie mit lautem Jubel und Klatschen. Bravo Nana! Sie ist uns wiedergegeben! ... Es war auch dumm zu glauben, daß sie durchgehen werde. Sie kam eben im rechten Augenblick zurück. Aufgepaßt, das Rennen beginnt! Man vergaß den Champagner; niemand dachte mehr ans Trinken ...

Nana fand zu ihrer Überraschung Gaga in ihrem Wagen und Bijou und Ludwig auf ihren Knien. Gaga sagte, sie sei gekommen, um das Kindchen zu küssen, denn sie liebe die Kinder gar so sehr. In Wahrheit aber war sie gekommen, um sich La Faloise zu nähern.

Nun und Lili? fragte Nana. Sie ist wohl da unten im[407] Kupee des Alten? Ich habe soeben eine saubere Geschichte gehört ...

Gaga machte eine betrübte Miene.

Meine Teure, ich bin sehr traurig darüber, sagte sie. Gestern habe ich soviel geweint, daß ich im Bett bleiben mußte, und ich dachte wirklich nicht, daß ich würde heute ausgehen können. Du kennst ja meine Meinung über diesen Punkt ... Ich wollte nicht; ich habe sie in einem Kloster erziehen lassen, um sie anständig zu verheiraten. Ich habe ihr stets gute Ratschläge erteilt; habe sie streng überwacht ... Aber sie hat durchaus wollen ... Es hat eine Szene gegeben; Tränen, harte Worte; ja sie erhielt sogar eine Ohrfeige von mir. Alles umsonst ... Sie langweilte sich zu sehr und wollte darüber hinwegkommen. Als sie mir zurief: Du hast kein Recht, mich daran zu hindern! – sagte ich ihr: Du bist eine Elende, die uns entehrt, geh! So ist es geschehen. Ich habe es wenigstens übernommen, die Sache zu regeln ... Meine letzte Hoffnung ist dahin ... Ich hatte für sie eine so schöne, ehrbare Zukunft erträumt ...

Jetzt vernahm man lauten Streit. Es war Georg, der den Grafen Vandeuvres gegen allerlei unbestimmte Anschuldigungen verteidigte, die in den verschiedenen Gruppen laut wurden.

Wie kann man denn auch behaupten, schrie er, daß der Graf sein Pferd fallen läßt? Gestern erst, im Jockeiklub, hat er tausend Louisdors auf Lusignan gewettet.

Jawohl, ich war dabei, bestätigte Philipp, und nicht einen Louis hat er auf Nana gewettet. Wenn Nana jetzt auf zehn steht, so hat er keine Schuld daran. Wo bliebe denn auch sein Interesse?

Labordette hörte ruhig zu, dann sagte er, die Achseln zuckend:[408]

Lassen Sie die Leute reden ... Soeben wieder hat der Graf wenigstens fünfhundert Louisdors auf Lusignan gesetzt, und wenn er vielleicht auch hundert Louis auf Nana gesetzt hat, so geschah es, weil doch der Eigentümer die gute Meinung von seinem Pferde nicht verlieren darf.

Still, was geht all das uns an? rief La Faloise, mit den Händen herumfuchtelnd, es wird ja ohnehin Spirit gewinnen. Hoch England.

Ein längeres Läuten der Glocke zeigte die Ankunft der Pferde auf der Bahn an. Allgemeine Bewegung ging durch die Menge. Nana, um besser zu sehen, stieg auf einen der Sitze ihres Landauers, unbekümmert um die Sträuße und Blumen, die sie mit Füßen trat. Mit einem Rundblick umfaßte sie den ganzen ungeheuren Horizont. Sie sah zunächst die leere, durch graue Schranken abgeschlossene Bahn, wo eine lange Kette von Polizeileuten – bei jedem zweiten Pfosten einer – aufgestellt war. Der Rasen, in ihrer Nähe schwarz und zertreten, war weiter schön grün, um in der Ferne sich in einen zartgrünen Teppich zu verwandeln. In der Mitte sah sie den großen Rasenplatz, bevölkert mit einer ungeheuren Menge, die sich auf die Fußspitzen erhob, an die Wagen klammerte, während die meisten Fußgänger sich auf die Schranke zu lehnen trachteten. Richtete sie den Blick nach der anderen Seite, so sah sie die Tribünen, wo das wiedererwachte Interesse die Gesichter neu belebte. Die dichten Massen von Köpfen füllten vollständig die Gänge, Treppen, Terrassen und Galerien, wo eine gewaltige Anhäufung von schwarzen Gestalten sich vom Himmel abzeichnete. Darüber hinaus herrschte rings um das Hippodrom die Ebene. Hinter der mit Schlingpflanzen bekleideten Mühle rechts sah man weite Wiesenflächen, von schattigen Plätzchen unterbrochen. Geradeaus bis zur Seine hinab, die zu Füßen des Abhanges floß, kreuzten sich Parkalleen,[409] in denen lange Droschkenreihen unbeweglich hielten. Links, in der Richtung nach Boulogne öffnete sich eine weite Landschaft bis zu den blauen Fernen von Meudon, das durch eine Allee von Pavlonias abgeschlossen wurde, deren rote Wipfel eine weithin glänzende helle Linie bildeten. Es kamen noch immer Leute. Durch einen schmalen Weg, der quer über die Felder lief, sah man die Leute wie einen endlosen Ameisenhaufen sich nähern, während in noch weiterer Ferne, nach Paris zu, das nicht zahlende Publikum unter den Bäumen des Wäldchens kampierte.

Eine plötzliche Heiterkeit durchströmte diese ungeheure Menge von hunderttausend Menschen. Die Sonne, die seit einer Viertelstunde hinter Wolken verborgen war, erschien am Himmel und streute ein Meer von Licht über den Platz aus. Alles schimmerte wieder. Die Sonnenschirme der Frauen über der Menge nahmen sich aus wie unzählige goldene Schilder. Man klatschte, begrüßte die Sonne mit Gelächter und streckte die Arme in die Luft, gleichsam als wolle man die Wolken gänzlich beseitigen.

Auf der leeren Rennbahn ging stillschweigend ein Zielrichter auf und ab. Weiter oben links erschien ein Mann mit einer roten Fahne in der Hand.

Das ist der Starter, Baron Mauriac, erwiderte Labordette auf die Frage Nanas.

Rings um die Dirne dauerten unter den Männern, die sich an ihren Wagenschlag herandrängten, die Ausrufe, die Gespräche fort. Philipp und Georges, Bordenave und La Faloise hatten immer Bemerkungen zu machen und konnten nicht schweigen.

Stoßen Sie doch nicht ... Lassen Sie mich auch sehen ... Ah, der Preisrichter erscheint auf seinem Platz ... Sie sagen, es ist Herr von Souvigny? Ei, der muß gute Augen haben, um eine Nasenlänge genau zu untersuchen.[410]

Schweigen Sie doch, meine Herren, das Zeichen wird gegeben. Da sind sie, aufgepaßt ... Cosinus ist erster.

Das Zeichen wurde gegeben; eine große gelbe und rote Fahne auf der Höhe eines Mastes. Die Pferde erschienen einzeln von Stallknechten geführt mit den Jockeis im Sattel, die in ihren dunklen Jacken im Sonnenlicht weithin sichtbar waren. Nach Cosinus kamen Hazard und Boum, dann erschien, von einem allgemeinen Gemurmel empfangen, Spirit, ein großer herrlicher Brauner; die dunklen Farben seines Jockeis, zitron und schwarz, waren von britanischer Düsterkeit. Valerio II. wurde beim Eintritt lebhaft begrüßt; sein Jockei war ein kleines lebhaftes Männchen in grüner Livree mit Rosabesatz. Die beiden Pferde Vandeuvres ließen auf sich warten. Endlich tauchten hinter Frangipane die blauen und weißen Farben des Grafen Vandeuvres auf. Lusignan, ein dunkler Brauner von untadelhaftem Bau, wurde jedoch fast vergessen in der allgemeinen Überraschung, die Nana hervorrief. So hatte man das Pferd noch nicht gesehen. Der helle Sonnenschein vergoldete die Fuchsstute und verlieh ihr die rote Farbe einer Blondine. Sie schimmerte wie ein neuer Louisdor, die Brust war tief, Kopf und Hals leicht geschwungen.

Schauen Sie, sie hat auch meine Haare, rief Nana entzückt, ich kann Ihnen sagen, ich bin ganz stolz.

Nun versuchte jeder auf den Landauer zu steigen. Bordenave war fast auf den kleinen Ludwig getreten, den seine Mutter ganz vergaß.

Er hob ihn nun mit väterlichem Gebrumme auf und setzte ihn auf seine Schulter, indem er murmelte:

Das arme Würmchen ... Er soll auch dabei sein. Wart', ich will dich Mama sehen lassen; siehst du da unten, schau doch das Hopp-Hopp an ...

Und da er fühlte, daß Bijou ihn an den Beinen kratzte,[411] nahm er auch Bijou auf die Arme, während Nana stolz und glücklich über das Pferd, das ihren Namen trug, die übrigen Frauen anblickte, um zu sehen, welche Gesichter sie machten. Sie waren alle wütend. In diesem Augenblick begann die Tricon, die bisher unbeweglich auf ihrem Kutschbock gesessen, mit den Händen zu fuchteln, sie gab ihrem Buchmacher über die Köpfe der Menge hinweg Aufträge. Ihr Instinkt begann zu arbeiten, sie wettete auf Nana. La Faloise fuhr fort, einen unausstehlichen Lärm zu machen. Er begeisterte sich für Frangipane.

Ich habe eine Eingebung, sagte er wiederholt. Betrachten Sie doch diesen Frangipane. Hei, welche Bewegung! Ich setze auf Frangipane das Achtfache. Wer hält?

Seien Sie doch ruhig, rief ihm Labordette zu, Sie werden Ihre Wette bereuen.

Frangipane ist eine Schindmähre, erklärte Philipp; er ist ja schon ganz naß; Sie werden sehen, wie er strauchelt.

Die Pferde hatten sich rechts aufgestellt und machten einen kleinen Probegalopp. Da gab es eine lebhafte Überraschung; alle Welt redete zugleich.

Lusignan hat ein zu langes Rückgrat, doch läuft er gut ... Auf Valerio II. würde ich nicht einen Heller setzen, er ist nervös und trägt den Kopf hoch, das ist ein böses Zeichen. Schau, Spirit wird von Bourne geritten, das Pferd hat keine Schultern. Eine gutgebaute Schulter ist die Hauptsache.

Nein, Spirit ist zu ruhig ...

Ich habe Nana nach dem letzten Rennen gesehen; sie war in Schweiß gebadet und ihre Flanken pochten, daß man glaubte, sie müsse gleich hinwerden. Ich wette zwanzig Louisdors, daß sie aussteht.

Ruhe da unten. Lassen Sie uns doch mit Ihrem Frangipane, es ist nicht mehr Zeit dazu, das Feld geht ab.[412]

La Faloise suchte nach einem Buchmacher und weinte fast, weil er keinen finden konnte. Man mußte ihn zur Vernunft bringen. Alle Hälse reckten sich. Der erste Start war nicht gut, der Starter hatte seine rote Fahne nicht gesenkt. Die Pferde kehrten nach einem kurzen Galopp zurück. Noch zweimal wiederholte sich der unrichtige Start. Endlich hatte der Starter alle Pferde beisammen und ließ sie mit einer Geschicklichkeit laufen, die allgemeine Bewunderung hervorrief. Ausgezeichnet ... Aber nein, es war der reine Zufall ... Gleichviel, es war gelungen ...

Diese Ausrufe erstickten allmählich unter der Beklemmung, die alle ergriff. Die Wetten nahmen nun ein Ende, sie sollten auf der riesigen Rennbahn zur Entscheidung kommen. Anfangs herrschte Stillschweigen, als ob alles den Atem an sich hielte. Überall sah man nervös vorgestreckte, weiße Gesichter. Beim Abgang hatten Hazard und Cosinus die Führung. Ihnen folgte Valerio II., die anderen kamen hinterdrein in einem wirren Durcheinander. Als sie mit geräuschvollem Getrappel und in dem scharfen Winde, den ihr Lauf hervorbrachte, an den Tribünen vorbeikamen, hatte die Schar schon die Ausdehnung von ungefähr vierzig Pferdelängen gewonnen. Frangipane war letztes, Nana hielt sich kurz hinter Lusignan und Spirit.

Alle Wetter, murmelte Labordette, der Engländer hält sich wacker.

Jeder im Wagen fand irgendein Wort, irgendwelche Bemerkung. Man suchte sich zu erheben, man folgte mit den Augen den bunten Jacken der Jockeis, die im Sonnenschein dahinflogen. Auf halber Bahn übernahm Valerio II. die Führung, Cosinus und Hazard verloren an Boden, während Lusignan und Spirit, Nase an Nase laufend, Nana hinter sich hatten.

Weiß Gott, der Engländer hat gewonnen, das ist klar,[413] sagte Bordenave; Lusignan wird müde und Valerio II. kann sich nicht halten.

Das wäre nett, wenn der Engländer gewönne, rief Philipp in einer Aufwallung patriotischen Schmerzes aus.

Ein Gefühl der Angst bemächtigte sich allmählich der Menge. Also wieder ein Mißerfolg. Heiße, fast inbrünstige Wünsche für Lusignan stiegen empor, während man Spirit samt seinem totenfarbenen Jockei verwünschte. Ein fieberhaftes Zucken ging durch die große Menge. Eine Reihe von Reitern jagte in wütendem Galopp über den Rasen. Nana, die allmählich sich herumgedreht hatte, sah zu ihren Füßen diese Flut von Menschen und Pferden, die rings um die Bahn gleichsam gepeitscht wurde durch den Wirbelwind des Rennen, das am Horizont die hellen Farben der Jockeis abzeichnete. Sie folgte ihnen von rückwärts in der Flucht der Hüften, mit dem gestreckten Galopp der Beine, die sich verloren und haardünn wurden. Alles blickte gespannt auf das Feld, das kleiner und kleiner wurde und endlich in der grünen Ferne des Gehölzes verschwand. Dann tauchte es hinter einem Dickicht wieder auf, das mitten im Hippodrom stand.

Sind Sie nur ruhig, rief Georges, der die Hoffnung nicht sinken ließ, das Rennen ist noch nicht zu Ende, der Engländer ist erreicht.

Doch La Faloise gab nicht nach, begeisterte sich für Spirit; England wird den Sieg davontragen; Frangipane wird zweiter sein. Labordette, der endlich die Geduld verlor, drohte ernstlich, ihn vom Wagen hinunterzuwerfen.

Schauen wir, wie viele Minuten es dauern wird, sagte Bordenave ruhig, indem er, immer Ludwig auf den Armen haltend, seine Uhr zog.

Indessen tauchten hinter dem Dickicht die Pferde einzeln wieder auf. Die Menge war höchst überrascht; Valerio II.[414] hatte noch immer die Führung, doch Spirit holte ihn ein, Lusignan war zurückgeblieben und statt seiner ein anderes Pferd drittes geworden. Man begriff nicht sofort und verwechselte die Jockeiblusen. Ausrufe des Erstaunens wurden laut.

Das ist Nana, das ist ja Nana ... Ach warum nicht gar. Lusignan ist an seinem Platze. Aber doch, es ist Nana; man erkennt sie ja an der gelben Farbe. Sehen Sie nun deutlich? Sie ist im Feuer. Bravo, Nana. Bah, es hat nichts zu bedeuten; sie spielt für Lusignan.

Einige Minuten war dies die allgemeine Ansicht. Doch in fortgesetzter Anstrengung gewann die Stute immer mehr Boden. Eine unbeschreibliche Aufregung entstand. Der Rest des Feldes interessierte niemanden mehr. Ein herrlicher Kampf entwickelte sich zwischen Spirit, Nana, Lusignan und Valerio II. Man nannte sie einzeln, man stellte fortwährend den Fortschritt oder das Zurückbleiben jedes einzelnen Pferdes fest. Nana, die endlich auf den Kutschbock gestiegen war, stand bleich, von nervösem Zittern befallen, stumm da. Labordette, der an ihrer Seite stand, hatte sein ruhiges Lächeln wiedergefunden.

Oh, der Engländer wankt, rief Philipp fröhlich aus, er läuft nicht mehr gut.

Auf alle Fälle ist Lusignan fertig, schrie La Faloise, Valerio II. wird erster. Da haben Sie jetzt alle vier im Haufen.

Ein Schrei ertönte von allen Lippen.

Welch ein Lauf, Kinder, welch ein heißer Lauf.

Blitzschnell kam jetzt der Haufe in Sicht. Man fühlte das Herankommen, gleichsam den Hauch, das Schnauben des Feldes, von Sekunde zu Sekunde anwachsen. Die Menge warf sich stürmisch auf die Schranken. Den Pferden vorauseilend, entrang sich allen ein tiefer Aufschrei, der wie[415] das Brausen des Meeres sich immer weiter fortpflanzte. Es war das letzte Aufflammen einer ungeheuren Wette, hunderttausend Zuschauer, unter einer fixen Idee gebeugt, von der nämlichen Gewinnsucht bewegt, an diesen Tieren hängend, deren Galopp Millionen bedeutete. Mit geballten Fäusten und offenem Munde stieß und drängte sich die Menge. Jeder für sich, jeder mit Stimme und Gebärde das Pferd antreibend, das sein Interesse vertrat. Immer deutlicher wurde ein Schrei hörbar, der Schrei des Wilden, der unter dem Überrock des zivilisierten Städters hervorbricht:

Da sind sie ... Da sind sie ...

Nana gewann noch weiter an Boden.

Valerio II. war jetzt zurück, und Nana hatte mit Spirit auf zwei oder drei Halslängen die Führung. Das Getrappel hatte immer mehr zugenommen.

Jetzt kamen sie an. Ein Sturm von Flüchen empfing sie in dem Landauer.

Hü! Lusignan, faules Tier! ... Sehr schick, der Engländer. Nur vorwärts, Alterchen ... Und dieser Valerio, der ist ja ekelhaft! ... Ah, die Schindmähre ... Meine zehn Louis sind futsch ... Es gibt nur eine Nana. Bravo, bravo Nana.

Nana hatte, ohne es zu merken, sich von ihrem Sitz erhoben, ein Schaukeln der Schenkel und Hüften angenommen, als ob sie selbst laufen wollte. Sie bewegte den Bauch; es schien ihr, als ob das der Stute helfen werde. Bei jeder solchen Bewegung stieß sie einen Seufzer der Ermüdung aus. Sie sagte mit leiser, gepreßter Stimme:

Lauf ... Lauf ... Lauf ...

Ein herrliches Schauspiel bot sich. Price, im Steigbügel aufrecht, die Peitsche hoch schwingend, bearbeitete Nana mit eisernem Arm. Dieses vertrocknete, alte Kind, mit dem langen, harten, totenstarren Gesichte sprühte Flammen. In einer äußersten Anstrengung wütender Verwegenheit und[416] siegreichen Willens übertrug er seinen eigenen Eifer auf die Stute. Er hielt sie aufrecht, er führte sie, die schaumtriefend und mit blutunterlaufenen Augen dahin galoppierte. Mit dem keuchenden Atem die Luft vor sich herfegend, raste jetzt das ganze Feld wie der Blitz vorüber, während der Preisrichter sehr kühl und mit ruhigem Auge spähend, auf seinem Posten wartete. Dann ertönte ein ungeheurer Schrei aus der Menge. Price hatte mit einer letzten Kraftanstrengung Nana an den Zielpfosten geworfen und so Spirit um eine Kopflänge geschlagen.

Ein Ruf, wie fernes Meeresbrausen, stieg aus der Menge empor. Nana ... Nana ... Der Schrei pflanzte sich fort und wuchs an mit der Heftigkeit eines Sturmes und erfüllte den Horizont von den Tiefen des Gehölzes bis zum Mont Valerien, von den Wiesen des Longchamps bis zur Ebene von Boulogne. Auf dem Rasen war eine wahnsinnige Begeisterung losgebrochen: Es lebe Nana. Es lebe Frankreich. Nieder mit England. Die Frauen schwangen ihre Sonnenschirme, die Männer hüpften und tanzten unter lauten Jubelrufen. Andere hatten ein nervöses Lachen und schwenkten die Hüte in die Luft. Das Publikum des Wiegeraumes auf der anderen Seite beantwortete diesen Jubel. Eine ungeheure Bewegung ging durch die Tribünen, ohne daß man genau etwas anderes hätte unterscheiden können als ein Zittern in der Luft, wie die unsichtbare Flamme eines Ofens. Oberhalb dieses ungeheuren Haufens von kleinen menschlichen Gesichtern ausgestreckte Arme, die schwarzen Punkte funkelnder Augen. Das nahm kein Ende, das pflanzte sich fort in den fernen Alleen und unter dem Volk, das unter den Bäumen lagerte, bis zur kaiserlichen Tribüne, wo man die Kaiserin klatschen sah. Nana ... Nana ... Nana ... der Schrei stieg bis zur herrlichen Sonne empor, deren goldiges Licht das Entzücken dieser Menge beschien.[417]

Da glaubte Nana, die auf dem Sitz ihres Landauers aufrecht stand und größer geworden schien, daß sie es sei, die von der Menge bejubelt wurde.

In der Verblüffung über ihren Triumph stand sie einen Augenblick unbeweglich und betrachtete die Rennbahn, die jetzt von einer so dichten Menge überflutet war, daß man kein Gras mehr sah, nur ein Meer von schwarzen Hüten. Als die Menge sich aufgestellt hatte und eine lebendige Hecke beim Ausgang von der Bahn bildete, um nochmals Nana zu begrüßen, die mit Price im Sattel, langsam, mit hängendem Kopf wie gebrochen, hinausschritt, schlug sich die Dirne heftig auf die Schenkel, alles vergessend und triumphierend:

Ah, Herrgott, ich bin es ja doch. Herrgott, welcher Schwung, welche Kraft.

Da sie nicht wußte, wie sie die Freude, die ihr Inneres durchwühlte, übertragen sollte, packte sie Ludwig, dem sie in der Luft, auf der Schulter Bordenaves sitzend begegnete und küßte das Kind heftig.

Drei Minuten vierzehn Sekunden, sagte Bordenave, seine Uhr wieder in die Tasche steckend.

Nana hörte noch immer ihren Namen, der in der riesigen Ebene widerhallte. Ihr Volk jubelte ihr zu, während sie, im Sonnenschein stehend, mit ihrem goldgelben Haar und ihren weiß-blauen Kleidern herrschte. Jetzt kam Labordette und kündigte ihr einen Gewinn von zweitausend Louisdors an, denn er hatte ihre fünfzig Louisdors auf Nana gegen vierzigfaches Geld gesetzt. Doch dieses Geld berührte sie weit weniger als der unerwartete Triumph, dessen Glanz sie zur Königin von Paris machte. Die anderen Damen ringsumher hatten verloren, Rosa Mignon war so wütend, daß sie ihren Sonnenschirm zerbrach. Karoline Héquet, Clarisse, Simonne und selbst Lucy Stewart – trotzdem ihr[418] Sohn da war – fluchten heimlich wütend über das Glück dieser dicken Dirne; während die Tricon ihre hohe Taille stramm aufrichtete, entzückt über ihren Instinkt, mit dem sie den Sieg Nanas vorausgesehen hatte.

Inzwischen war das Gedränge der Herren um Nanas Landauer noch größer geworden. Diese Gesellschaft stieß ein wildes Gebrüll aus. Georges hörte nicht auf zu rufen, obgleich ihm fast der Atem ausging. Da der Champagner ausgegangen, war Philipp mit einigen Dienern in die Trinkhallen geeilt. Und Nanas Hof erweiterte sich immer mehr; ihr Triumph führte auch jene herbei, die früher gezögert hatten.

Die Bewegung, die ihren Wagen zum Mittelpunkt des Rasens machte, endigte in einer Verherrlichung: die Königin Venus inmitten der Verzückung ihrer Untertanen. Bordenave, der hinter ihr stand, murmelte in der zärtlichen Anwandlung eines Vaters kurze Flüche vor sich hin. Steiner selbst, der wieder erobert schien, verließ Simonne, um an dem Wagenschlag Aufstellung zu nehmen. Als der Champagner kam, und sie ihr volles Glas erhob, ertönte ein solcher Beifall und ein so lautes Geschrei: Nana ... Nana ... Nana, daß die erstaunte Menge nach der Stufe ausblickte und man nicht mehr wußte, ob die Dirne oder das Pferd die Menge zu einem solchen Entzücken hinriß.

Inzwischen war auch Mignon trotz der furchtbaren Blicke seiner Gattin herbeigeeilt. Dieses vertrackte Mädchen brachte ihn außer sich, er wollte es durchaus umarmen. Nachdem er sie auf beide Wangen geküßt, sagte er im väterlichen Tone:

Was mich nur verdrießt, ist, daß jetzt Rosa sicher den Brief absenden wird; sie ist zu wütend ...

Um so besser, das ist mir ganz recht, ließ Nana sich vernehmen.[419] Doch als sie ihn über diese Worte erschrocken sah, beeilte sie sich hinzuzufügen:

Ach, nein. Was rede ich da? ... In der Tat, ich weiß nicht, was ich sage; ich bin betrunken.

Sie war wirklich berauscht; berauscht von der Freude, berauscht von der Sonne, berauscht vom Champagner. So stand sie da, das Glas in der Luft schwingend und sich selber zurufend:

Auf Nana, auf Nana ... und rings umher umgab sie ein verdoppeltes Getöse, Gelächter, Bravorufe, die nach und nach das ganze Hippodrom erfüllten.

Die Rennen gingen zu Ende; man lief jetzt um den Vaublanc-Preis. Die Wagen begannen zu fahren. Inmitten häßlichen Gezänkes tauchte jetzt der Name Vandeuvres auf. Es sei jetzt klar, sagte man: Vandeuvres habe seit zwei Jahren schon den Streich vorbereitet, indem er Gresham beauftragte, Nana zurückzuhalten, und Lusignan nur auf den Rasen gebracht, damit er der Stute das Spiel erleichtere. Die Verlierenden wüteten, während die Gewinnenden die Achseln zuckten. Und was weiter? meinten sie; ist das nicht erlaubt? Jeder Eigentümer führt seinen Stall, wie er es versteht; man hat noch andere Dinge gesehen. Die Mehrzahl der Anwesenden fand es von Vandeuvres sehr stark, daß er durch seine Freunde alles aufnehmen ließ, was er auf Nana bekommen konnte, was denn auch das plötzliche Steigen erklärte.

Man sprach von zweitausend Louisdors im Durchschnitt mit dreißigfachem Geld gewonnen, was zwölfmalhunderttausend Franken Gewinn ausmacht, eine Ziffer, deren gewaltige Höhe Achtung einflößte und alles entschuldigte.

Doch aus dem Wiegeraum her kamen andere Gerüchte, die man einander zuflüsterte. Die Herren, die von dort kamen, erzählten gewisse Einzelheiten. Man sprach von[420] einem greulichen Skandal. Der arme Vandeuvres sei fertig, er habe seinen großartigen Streich durch eine Dummheit, durch einen blöden Diebstahl verdorben, indem er Maréchal, einen schäbigen Buchmacher, beauftragte, für seine Rechnung zweitausend Louisdors gegen Lusignan zu setzen. Dies sollte ein Schachzug sein, um die tausend und einige Louis wieder zu gewinnen, die er offen verwettet hatte. Ein wahrer Bettel. Und das sollte beweisen, daß er, seinen nahen Ruin fühlend, zum Betrug seine Zuflucht nahm. Als der Buchmacher aufmerksam gemacht wurde, daß das Favoritpferd kaum gewinnen werde, hatte er an sechzigtausend Franken auf dieses Pferd weggegeben. Allein Labordette hatte bei dem Mangel an genauen und ausführlichen Anweisungen bei ihm zweihundert Louis auf Nana gewettet, die nun der andere in seiner Unkenntnis des wahren Sachverhaltes weiter fünfzigfach belegte. Als Maréchal vierzigtausend Franken durch den Sieg der Stute verloren, als er den Abgrund zu seinen Füßen sich auftun sah, ging ihm plötzlich ein Licht auf, er begriff, was Labordette und der Graf nach dem Rennen miteinander vor dem Wiegeraum zu flüstern hatten. In der Wut eines ehemaligen Kutschers, in der Gereiztheit eines bestohlenen Menschen machte er öffentlich eine abscheuliche Szene, indem er vor aller Welt in den rohesten Ausdrücken die Geschichte erzählte. Einige meinten, die Wettenrichter würden wegen dieses Falles sich versammeln.

Nana, von Philipp und Georges benachrichtigt, was vorgehe, ließ immer lachend und trinkend kleine Bemerkungen fallen. Es sei möglich, sagte sie. Sie erinnere sich ähnlicher Streiche; auch sei dieser Maréchal ein abscheulicher Kerl.

Indes zweifelte sie noch immer, als plötzlich Labordette auftauchte. Er war sehr bleich.[421]

Nun? fragte sie ihn halblaut.

Fertig, antwortete er einfach.

Er zuckte die Achseln. Dieser Vandeuvres ist ein wahres Kind. Nana begnügte sich, eine Gebärde der Verdrossenheit und Langeweile zu machen.

Auf dem Ball Mabille hatte an dem nämlichen Abend Nana einen kolossalen Erfolg. Als sie gegen zehn Uhr abends erschien, gab es schon ein ungeheures Gedränge. Diese klassische Wahnsinnsnacht vereinigte die ganze galante Jugend. Eine saubere Gesellschaft, die in der Roheit und dem Schwachsinn von Lakeien ihr Behagen fand. Unter den Gasgirlanden war ein Gewühl, daß man einander fast erdrückte. Schwarze Röcke, auffallende Toiletten, entblößte Weiber in alten, fleckigen Kleidern wogten, brüllten, wälzten sich und peitschten einander in einem ungeheuren Taumel. Auf eine Entfernung von dreißig Schritten vernahm man schon nichts von der Musik, kein Mensch tanzte. Die gemeinsten Worte machten die Runde, niemand wußte weshalb. Die Leute schlugen sich auf die Schenkel und doch wollte keine rechte Lustigkeit aufkommen. Eine Schalottenzwiebel, die man gefunden, wurde sofort versteigert und bis auf zwei Louisdors gebracht. Eben kam Nana an, noch immer in ihrer Wettrenntoilette, weiß und blau gekleidet. Man übergab ihr die Schalottenzwiebel inmitten eines Donners von Bravorufen. Man hob sie trotz ihres Widerstandes in die Höhe und drei Herren trugen sie im Triumph durch den Garten, durch Rasen und Dickicht; da das Orchester im Wege stand, eroberte man es im Sturm, wobei Sessel und Pulte zerbrochen wurden. Die Polizei benahm sich dabei sehr väterlich und stellte die Ordnung langsam in milder Weise wieder her.

Erst am Dienstag erholte sich Nana langsam von den Aufregungen ihres Triumphes. Sie plauderte mit Madame[422] Lerat, die gekommen war, um ihr Nachrichten von Ludwig zu bringen, dem die frische Luft vom Sonntag nicht gut bekommen war. Die Lerat erzählte eine Geschichte, die ganz Paris beschäftigte. Der Graf Vandeuvres hatte sich vom Rasen ausgeschlossen und sogar aus dem kaiserlichen Klub hinausgeworfen, am nächsten Morgen mit seinen Pferden im Stalle eingeschlossen und den Stall in Brand gesteckt, so daß er samt seinen Tieren jämmerlich gebraten wurde.

Er hat es mir vorausgesagt, bemerkte Nana. Ein wahrer Narr, dieser Mensch ... Als man es mir gestern abend erzählte, habe ich mich ordentlich gefürchtet. Du wirst begreifen: der Mensch hätte mich ja zur Nachtzeit umbringen können ... Und dann: warum hat er mich denn nicht benachrichtigt, wie es mit seinem Pferd stand? Ich hätte wenigstens mein Glück gemacht. Er sagte zu Labordette, daß ich, wenn ich von der Sache wüßte, es sofort meinem Friseur und einer ganzen Menge von Leuten verraten würde. Ist das höflich? Wahrhaftig. Ich bedauere ihn nicht sehr ...

Eben trat Labordette ein, er hatte ihre Wetten ausgetragen und brachte ihr einen Gewinn von vierzigtausend Franken. Das machte sie noch verdrießlicher gegen Vandeuvres, denn wenn dieser sie benachrichtigt hätte, würde sie eine Million gewonnen haben. Labordette, der in dieser ganzen Sache den Unschuldigen spielte, ließ sie ruhig auf Vandeuvres schimpfen.

Diese alten Familien seien ruiniert, meinte er, und nehmen ein dummes Ende.

Ach nein, sagte Nana, es ist nicht gar so dumm, sich in seinem Stalle zu verbrennen, wie er getan. Ich finde es sogar tapfer ... Du weißt, ich will seine Geschäfte mit Maréchal nicht verteidigen, das war schmählich ... Wenn ich bedenke, daß Blanche mir die ganze Geschichte auf den Hals schieben wollte ... Ich antwortete ihr aber: Habe ich[423] ihn etwa stehlen heißen? Man kann ja von einem Mann Geld verlangen, ohne ihn zum Verbrechen zu drängen. Wenn er mir gesagt hätte: ich habe nichts weiter, so würde ich ihm gesagt haben: Gut, trennen wir uns, und die Geschichte wäre nicht weiter gegangen.

Ohne Zweifel, sagte die Tante ernst; wenn die Männer hartnäckig sind, um so schlimmer für sie.

Was aber sein Ende betrifft, so wiederhole ich, es war sehr schick. Es muß etwas Schreckliches gewesen sein, sieh so bei lebendigem Leibe zu braten. Er hat alle seine Leute entfernt und sich dann in den Stall eingeschlossen, wohin er Petroleum mitgenommen ... Und wie das brannte. Das mußte man sehen, bemerkte sie. Ein großes Gebäude, fast ganz aus Holz, angefüllt mit Stroh und Heu, die Flammen stiegen hoch auf, wie die Türme. Das Schönste waren die Pferde, die nicht verbrennen wollten. Man hörte sie umher rasen, gegen die Türe stoßen und schreien, als seien es Menschen. Ja, die Umgebung denkt mit Entsetzen an dieses Ereignis.

Labordette äußerte einige Zweifel. Er glaube nicht recht an den Tod Vandeuvres; jemand hat geschworen, daß er ihn durch das Fenster habe flüchten gesehen. Er habe wohl in einem Anfall von Geistesstörung seinen Stall in Brand gesteckt, allein, als es ihm etwas heiß wurde, habe er es geraten gefunden, seine Haut in Sicherheit zu bringen. Ein Mensch, der es mit den Weibern so blöde treibe, habe nicht so viel Mut, in dieser Weise zu sterben.

Nana hörte ihn mit einer gewissen Enttäuschung an, dann sagte sie:

Oh, der Unglückliche. Es wäre so schön gewesen ...

Quelle:
Zola, Emile: Nana. Berlin, Wien 1923, S. 379-424.
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