Neuntes Kapitel.

[306] Im Varietétheater wurde »Die kleine Herzogin« einstudiert. Eben war der erste Akt durchgenommen und man sollte den zweiten beginnen. Im Proszenium saßen Bordenave und Fauchery in alten Sesseln und besprachen sich über das Stück, während der Souffleur, Vater Cossard, ein kleiner, buckeliger Greis, mit einem Bleistift zwischen den Zähnen auf einem schlechten Strohsessel saß und in dem Manuskript blätterte.

Auf was wartet man denn noch? schrie Bordenave, mit seinem dicken Stock auf die Bretter schlagend, Barillot, warum wird denn nicht angefangen?

Herr Bosc ist verschwunden, erwiderte Barillot, der als zweiter Regisseur fungierte.

Da gab's einen Sturm; alles rief nach Bosc. Bordenave fluchte.

Herrgott, es ist doch immer die gleiche Schlamperei. Man klingelt diesen Leuten lange umsonst; sie sind immer, wo sie nicht sein sollten. Dann brummen sie, wenn sie bis vier Uhr bleiben müssen.

Da erschien Bosc mit vollkommener Ruhe.

He, was will man denn von mir? Bin ich an der Reihe? Das hätte man mir sagen sollen ... Gut; Simonne, gib das Stichwort: Da kommen unsere Gäste – und ich werde eintreten ... Wo muß ich denn eintreten?[306]

Natürlich durch die Tür! rief Fauchery verdrossen.

Ja, wo ist denn die Tür?

Da ereiferte sich Bordenave wieder über Barillot. Er fluchte und schlug mit dem Stock aus Leibeskräften gegen die Planken der Bühne.

Zum Teufel. Habe ich denn nicht gesagt, daß man einen Sessel herstellen soll, um die Tür zu bezeichnen? Jeden Tag muß ich von vorne beginnen? Barillot ... Wo ist der wieder hingeraten?

Barillot brachte dienstfertig selber den Sessel, und die Probe nahm ihren Fortgang. Simonne, im Pelz und mit dem Hut auf dem Kopfe, tat, als ob sie mit dem Aufräumen des Zimmers beschäftigt sei.

Sie unterbrach sich dabei, um halblaut zu sagen:

Mir ist kühl, darum werde ich die Hände im Muff behalten.

Dann änderte sie die Stimmung und empfing Bosc mit einem Rufe der Überraschung:

Ah, der Herr Graf! Sie sind der erste, Herr Graf; Madame wird sehr erfreut sein.

Bosc trug ein schmutziges Beinkleid, einen großen, gelben Überzieher und ein ungeheures Tuch um den Hals. Auf dem Kopfe saß ein alter Hut; die Hände steckten in den Taschen. Er sagte mit dumpfer, gedehnter Stimme ohne jedes Gebärdenspiel:

Störe deine Herrin nicht weiter, Isabella; ich will sie überraschen.

Die Probe dauerte fort.

Bordenave lehnte sich in seinem Sessel zurück und hörte mit mürrischer Miene zu.

Fauchery war nervös, wechselte fortwährend den Platz und unterbrach jeden Augenblick die Probe mit seinen Bemerkungen. In dem stillen, dunklen Saale hinter ihm hörte man ein Geflüster.[307]

Ist sie vielleicht hier? fragte er und wandte sich an Bordenave.

Dieser nickte bejahend mit dem Kopfe.

Nana wollte, bevor sie die Rolle Geraldines übernahm, die er ihr angeboten, das Stück sehen; denn sie nahm Anstoß, wieder eine Kokottenrolle zu übernehmen. Nach der Rolle einer ehrbaren Frau trug sie Verlangen. Sie saß im Schatten einer Loge versteckt mit Labordette, der sich für sie bei Bordenave ins Mittel gelegt hatte.

Fauchery suchte sie flüchtig einen Augenblick und folgte dann der Probe. Nur die Vorbühne war beleuchtet. Eine einzige Gasflamme brannte, die sich in dem Halbdunkel wie ein großes gelbes Auge ausnahm. Vater Cossard hob das Manuskript gegen die Gasflamme, um besser zu sehen. Ein Teil des Lichtschein fiel auch noch auf Bordenave und Fauchery, während die Schauspieler im Dunkel der Bühne wie Schatten sich hin und her bewegten. Im Hintergrunde waren Leitern, Kulissen und all das Gerümpel einer Bühne aufgehäuft; die aufgerollten Dekorationen in der Höhe nahmen sich aus wie alte Wäsche, die in einem Speicher zum Trocknen ausgehängt wird. Durch die Decke fiel zuweilen von außen ein Sonnenstrahl herein, der einen Augenblick die Bühne wie durch eine goldene Schranke zu teilen schien.

Im Hintergrunde der Szene plauderten einzelne Schauspieler, die ihr Stichwort erwarteten. Allmählich war ihr Gespräch lauter geworden.

Wollt ihr schweigen, heulte Bordenave und sprang wütend von seinem Sessel auf. Ich höre kein Wort. Geht hinaus, wenn ihr zu reden habt. Wir haben hier zu tun ... Barillot, wenn wieder geredet wird, kriegen alle Gagenabzug.

Sie schwiegen einen Augenblick und nahmen auf einem Bänkchen und mehreren Gartensesseln Platz. Die erste Dekoration des Abends stellte einen Garten vor.[308]

Fontan und Prullière ließen sich von Rosa Mignon erzählen, daß der Direktor des Possentheaters ihr einen großartigen Anstellungsantrag gemacht habe. Da rief eine Stimme:

Die Herzogin von Saint-Firmin!

Erst nach wiederholtem Ruf erinnerte sich Prullière, daß er Saint-Firmin sei. Rosa, die die Herzogin Helene spielte, erwartete ihn bereits, um mit ihm zusammen einzutreten. Der alte Bosc kehrte langsam mit schleppenden Schritten zu seinem Sessel zurück. Clarisse machte ihm auf der Bank Platz.

Was heult denn dieser Bordenave heute so? fragte sie. Das wird immer schöner. Bei jedem neuen Stück bekommt er Nervenanfälle.

Bosc zuckte die Achseln. Er war über derartige Stürme erhaben. Fontan murmelte:

Er spürt den Durchfall; das Stück ist ja zu dumm!

Dann wandte er sich an Clarisse:

Du glaubst an diese glänzenden Anträge, die Rosa bekommen haben will? Dreihundert Franken per Abend und hundert Abende garantiert! ... Warum nicht auch gleich ein kleines Landhaus dazu? Mignon läßt gewiß Bordenave sitzen, wenn man seiner Frau dreihundert Franken für den Abend anbietet.

Clarisse glaubte an die dreihundert Franken. Dieser Fontan streut immer glühende Kohlen auf die Häupter seiner Kollegen. Sie wurde von Simonne unterbrochen, die fröstelnd hinzutrat. Alle Schauspieler waren vermummt und in Tücher eingehüllt; so blickten sie sehnsüchtig nach dem matten Sonnenstrahl, der zuweilen von oben hereinfiel, ohne bis in den kalten, dunklen Raum der Bühne zu dringen.

Draußen herrschte ein kalter Novembertag, es fror.

Im Zimmer ist nicht einmal geheizt, sagte Simonne unwillig.[309] Dieser Bordenave hat schon einen ekligen Geiz. Ich hätte Lust, fortzugehen, ich will mich nicht krank machen.

Still! schrie Bordenave mit seiner Donnerstimme.

Man hörte einige Minuten nichts als das unklare Gemurmel der Theaterprobe. Die Schauspieler machten sich kaum bemerklich, sprachen mit halblauter, eintöniger Stimme, um sich nicht zu ermüden. Wenn sie zuweilen einen Satz schärfer hervortreten lassen wollten, wandten sie sich mit einem Blick gegen den Zuschauerraum. Dieser lag wie ein gähnendes Loch vor ihnen, in dem ein unbestimmter Schatten schwamm gleich einem feinen Staub in einem hohen Speicher ohne Fenster. Der dunkle, nur durch das Zwielicht der Bühne schwach erhellte Saal war in eine Schläfrigkeit, in eine trübselige Verschwommenheit getaucht. Die Malereien an der Decke verschwanden völlig in der Finsternis. Der dunkle Ton des Raumes war nur durch die mattgraue Farbe der Tücher ein wenig gehoben, mit denen der ganze Saal behangen war, um den Samt der Logen und Sitze gegen Staub und Schmutz zu schützen. In der allgemeinen Farblosigkeit konnte man nichts als die Öffnungen der Logen unterscheiden, die gleichsam das Gerüste der Stockwerke zeichneten und deren rote Sessel ins Schwarze spielten. Wenn man den Leuchter sah, wie er herabgelassen fast den Boden streifte und mit sei nen Zierarten und Gehängen das ganze Orchester ausfüllte, mußte man fast glauben, das Publikum sei verreist, um nie wiederzukommen.

Jetzt erschien Rosa in der Rolle der kleinen Herzogin, die maskiert in die Theaterwelt herabsteigt. Sie trat bis zur Rampe vor und zu dem dunklen, traurigen Saal gewendet, sagte sie die Worte nachdrücklich betonend und der Wirkung sicher:

Mein Gott, welch seltsame Gesellschaft.[310]

Nana saß, in einen Schal gehüllt, im Hintergrunde einer Loge, um das Stück anzuhören. Sie verschlang fast Rosa mit den Augen.

In diesem Augenblicke wandte sie sich an Labordette mit der Frage:

Du bist sicher, daß er kommt?

Ganz sicher. Er wird ohne Zweifel mit Mignon kommen, um einen Vorwand zu haben. Sobald er kommt, gehst du in Mathildens Loge hinauf, und ich werde dir ihn zuführen.

Sie sprachen vom Grafen Muffat. Es sollte eine Zusammenkunft zwischen ihm und Nana stattfinden, die Labordette auf neutralem Gebiete veranstaltete. Er hatte eine ernste Unterredung mit Bordenave gehabt, der durch den Durchfall von zwei Stücken arg mitgenommen war. Bordenave hatte daher Nana eine Rolle angeboten, weil er dadurch hoffte, den Grafen Muffat heranzuziehen und bei ihm eine Anleihe zu machen.

Und was hältst du von der Rolle der »Geraldine«? fragte Labordette weiter.

Nana saß unbeweglich und antwortete nicht. Sie beobachtete das Stück. Der erste Akt enthielt die Einleitung. Der Verfasser zeigt, wie der Herzog von Beaurivage seine Gemahlin mit der blonden Geraldine, einem Stern der Operette, betrügt. Im zweiten Akt erscheint die Herzogin Helene auf einem Maskenball der Schauspielerin, um zu erfahren, durch welche magische Kraft diese Damen die Herren der vornehmen Gesellschaft erobern und an sich fesseln. Ihr Vetter, der schöne Oskar von Saint-Firmin, führt sie hier ein, in der Hoffnung, daß sie schließlich an dieser Art Vergnügungen Geschmack finden und ihm ihre Gunst zuwenden werde. Als erste Lektion vernimmt sie zu ihrer Überraschung, wie Geraldine dem Herzog, der sehr geschmeidig und bezaubert scheint, eine Szene im Stile eines[311] Karrenziehers machte. Bei diesem Auftritt ruft die Herzogin aus: In dieser Weise muß man also die Herren behandeln! Geraldine hat in diesem Akte eine Szene. Die Herzogin wird von der Strafe für ihre Neugierde bald ereilt. Ein alter Frauenjäger, Baron Tardiveau, hält sie für eine Kokotte und zeigt sich ihr gegenüber sehr galant, während auf der anderen Seite Beauvrage auf einem Liegestuhl mit Geraldine Frieden macht, indem er sie zärtlich küßt. Da die Rolle Geraldines noch nicht vergeben war, las der Seuffleur Cossard sie, wobei er, in den Armen des alten Bosc liegend, unwillkürlich spielte. Man war bei dieser Szene; die Probe schleppte sich in mürrischer Stimmung dahin, als Fauchery plötzlich von seinem Sessel aufsprang. Er hatte sich bisher zurückgehalten, doch die Erregung riß ihn fort.

So geht das nicht! rief er.

Die Schauspieler hielten inne, und Fontan fragte mit seiner frechen Stimme:

Was soll nicht so gehen?

Keiner von euch ist bei der Sache; ganz und gar nicht, rief Fauchery, gestikulierend und erregt auf und ab gehend. Vor allem Sie, Fontan, der Sie den Tardiveau spielen. Sie müssen sich mehr neigen und mit dieser Gebärde – so – die Herzogin zu fassen suchen. In diesem Augenblicke hast du, Rosa, lebhaft vorbeizugehen; aber nicht zu früh, erst wenn du den Kuß hörst ...

Er unterbrach sich, um im Eifer seiner Erklärungen dem alten Cossard zuzurufen:

Geraldine, den Kuß ... Aber stark, damit man ihn höre.

Vater Cossard wandte sich zu Bosc und schnalzte laut mit den Lippen.

Gut, das ist der Kuß, sagte Fauchery triumphierend. Noch einmal den Kuß. Siehst du, Rosa, ich hatte Zeit, vorüberzugehen,[312] und nun stoße ich einen leisen Schrei aus: Ah, sie hat ihn geküßt! Doch dazu ist nötig, daß Tardiveau hervortritt ... Hören Sie, Fontan, Sie müssen hervortreten. Vorwärts, versuchen wir's im Zusammenspiel.

Die Schauspieler nahmen die Szene von vorne auf; doch Fontan machte seine Sache so unwillig, daß es nicht weitergehen wollte. Fauchery wiederholte zweimal seine Unterweisung, wobei er sich immer mehr ereiferte. Alle hörten ihm mit mürrischer Miene zu, blickten einander an, als ob er verlange, sie sollten auf dem Kopfe gehen. Sie fingen nochmals von vorne an, machten aber ihre Sache so linkisch wie ein Hampelmann, dessen Schnur abgerissen ist.

Nein, für mich ist das zu stark, ich verstehe es nicht, sagte Fontan.

Bordenave saß bisher in seinem Sessel zurückgesunken mit zusammengepreßten Lippen schweigend da; man sah aus dem Dunkel nichts als seinen Hut hervortauchen. Den Stock hielt er quer über den Bauch und man hätte geglaubt, daß er schlafe. Plötzlich richtete er sich auf.

Mein Lieber, das ist blöde, erklärte er Fauchery ruhig.

Wie, blöd? rief der Verfasser erbleichend. Blöd sind Sie selbst.

Bordenave geriet in Zorn und wiederholte das Wort, ja, er gebrauchte noch stärkere Ausdrücke. Er meinte, das Publikum werde die Szene auszischen, und man werde den Akt nicht zu Ende spielen können. Und da Fauchery, ohne sich um die Schimpfworte sonderlich zu kümmern, sich noch mehr ereiferte und Bordenave ein dummes Tier nannte, geriet der Direktor außer Rand und Band. Er schlug mit seinem Stock in die Luft und schnaufte wie ein Ochs.

Herrgott, lassen Sie mich in Ruhe. Wir verlieren eine Viertelstunde mit lauter Dummheiten. Das hat keinen Sinn ... Und es ist doch so einfach: Du, Fontan, rührst dich nicht[313] von der Stelle, und du, Rosa, machst diese kleine Bewegung – so – nichts weiter, und trittst zurück. Vorwärts: Cossard, den Kuß.

Nun entstand eine allgemeine Verwirrung, und die Szene ging auch jetzt nicht besser. Jetzt begann Bordenave mit seiner Elephantenanmut ihnen vorzuspielen, während Fauchery mitleidig die Achseln zuckte. Da wollte Fontan sich einmengen; sogar Bosc erlaubte sich Ratschläge. Rosa verlor die Geduld und nahm auf dem Sessel Platz, der die Türe bezeichnete. Man wußte gar nicht mehr, wie weit man gekommen sei. Um das Maß voll zu machen, trat jetzt Simonne auf, die glaubte, ihr Stichwort gehört zu haben. Sie fiel mitten in den Wirrwarr hinein, was Bordenave dermaßen in Wut brachte, daß er ihr mit dem Stock einen Schlag versetzte. Oft schlug er die Weiber, nachdem er mit ihnen geschlafen.

Sie lief hinaus, während er ihr nachschrie:

Da hast du, steck' das ein ... Meiner Seel', ich sperre die Bude, wenn man mich zum äußersten bringt.

Fauchery hatte seinen Hut wütend aufgestülpt und schickte sich an, das Theater zu verlassen; doch blieb er im Hintergrunde der Szene, und als er sah, daß Bordenave sich wütend niedersetzte, kam auch er wieder zum Vorschein und nahm in dem anderen Sessel Platz. Sie saßen eine Weile nebeneinander, ohne sich zu rühren, während der dunkle Saal in tiefem Schweigen lag. Die Schauspieler warteten seit zwei Minuten; alle waren erschöpft, als ob sie irgendeine schwere Arbeit verrichtet hätten.

Fahren wir fort, sagte endlich Bordenave, der vollkommen besänftigt schien.

Jawohl, fahren wir fort, fügte Fauchery hinzu. Wir können diese Szene morgen probieren.

Die Probe nahm im gleichen gelangweilten, schleppenden[314] Tone ihren Fortgang. Während des Streites zwischen dem Direktor und dem Verfasser hatten die Schauspieler es sich auf der Bank und den Gartenstühlen bequem gemacht. Sie lachten über die Zankenden und verhöhnten sie. Als aber Simonne schluchzend zu ihnen trat, kehrte sich ihre Wut gegen Bordenave. Sie sagten, an ihrer Stelle hätten sie dieses Schwein erdrosselt. Sie trocknete die Tränen und nickte zustimmend mit dem Kopfe. Jetzt sei es aus, meinte sie; sie lasse ihn sitzen, um so mehr, als Steiner ihr gestern gesagt habe, er wolle ihr den Weg bahnen. Clarisse schien sehr überrascht, denn ihres Wissens hatte der Bankier zur Zeit nicht einen Sou in der Tasche. Doch Prullière lachte und erinnerte an den Kniff dieses Juden mit Rosa Mignon. Er kündigte sein Verhältnis mit ihr an, um sich auf der Börse den Anschein zu geben, als ob er wieder auf der Höhe sei, und so gelang ihm seine Reperation mit den Landessalinen. Jetzt plane er ein neues Unternehmen, einen Tunnel unter dem Bosporus. Simonne hörte mit vielem Interesse zu. Was Clarisse betreffe, so war diese seit acht Tagen wütend. Sie hatte La Faloise der Gaga an den Hals geworfen, und jetzt hatte dieser Bengel einen sehr reichen Onkel beerbt. Überdies hatte dieses Schwein von einem Bordenave ihr eine Rolle von fünf Zeilen gegeben, als ob sie nicht die der Geraldine hätte spielen können. Sie träumte von dieser Rolle, denn sie hoffte, daß Nana sie zurückweisen werde.

Na, und erst ich? ... bemerkte Prullière verdrossen, ich habe eine Rolle von kaum zweihundert Zeilen. Ich wollte die Rolle auch zurückgeben. Es ist eine Schande, daß man mich diesen blöden Saint-Firmin spielen läßt. Und welche Sprache. Das wird ein Durchfall werden – kolossal.

Jetzt kam Simonne, die einen Augenblick mit Barillot geplaudert hatte, herbei und sagte:[315]

Ihr sprecht von Nana. Wißt ihr, daß sie im Saale ist?

Wo denn? fragte Clarisse lebhaft, indem sie aufstand, um sie zu sehen.

Das Gerücht machte rasch die Runde. Jeder neigte sich vor, um Nana zu sehen. Die Probe wurde einen Augenblick fast unterbrochen. Doch Bordenave trat aus seiner Unbeweglichkeit heraus und schrie:

Wie? Was geht denn vor? Beendet den Akt. Und ihr da unten seid still. Es ist unerträglich.

Nana saß noch immer in der Loge und verfolgte die Probe mit Aufmerksamkeit. Labordette hatte zweimal zu plaudern begonnen, doch sie war ungeduldig und stieß ihn mit dem Ellbogen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Der zweite Akt ging eben zu Ende, als im Hintergrunde des Theaters zwei Schatten auftauchten. Die Gestalten kamen auf den Fußspitzen geräuschlos näher, um Bordenave still zu grüßen, und Nana erkannte in ihnen Muffat und Mignon.

Ah, da sind sie, murmelte sie mit einem Seufzer der Erleichterung.

Rosa Mignon gab eben das letzte Stichwort. Bordenave sagte, der zweite Akt müsse noch einmal vorgenommen werden, dann beeilte er sich, den Grafen Muffat mit einer übertriebenen Höflichkeit zu begrüßen, während Fauchery tat, als ob er ganz mit den Schauspielern beschäftigt sei.

Mit den Händen hinter dem Rücken, pfiff Mignon leise vor sich hin und beobachtete unverwandt seine Frau, die nervös zu sein schien.

Wollen wir hinaufgehen? fragte Labordette Nana. Ich will dich hinaufbringen und dann herunterkommen, um ihn zu holen.

Nana verließ die Loge. Sie ging tastend durch die Orchesterreihen. Doch Bordenave erkannte sie, wie sie im Schatten dahinglitt und erwischte sie am Ende des Ganges,[316] der hinter der Bühne dahinlief, eines schmalen Durchlasses, wo Tag und Nacht das Gas brannte. Um die Geschichte zu beschleunigen, sprach er sofort von der Rolle der Kokotte.

Prächtige Rolle, was? Wie für dich geschaffen. Komm morgen zur Probe.

Nana blieb kühl; sie wollte erst den dritten Akt sehen, meinte sie.

Oh, der dritte Akt ist ausgezeichnet. Die Herzogin spielt zu Hause die Kokotte, was den Herzog anwidert und wieder auf die Bahn des Guten führt. Dazu eine sehr drollige Verwechslung: Tardiveau erscheint und glaubt bei einer Tänzerin zu sein ...

Und Geraldine? unterbrach sie ihn.

Geraldine? sagte Bordenave verlegen, Geraldine hat eine Szene in dem Akte, nicht sehr lang, aber höchst wirkungsvoll ... Wie für dich gemacht, sage ich dir. Nun, unterschreibst du?

Sie blickte ihm scharf ins Gesicht und sagte endlich:

Wir werden sofort sehen.

Sie folgte Labordette, der sie auf der Treppe erwartete. Das ganze Theater hatte sie wieder erkannt. Man zischelte; Prullière tat sehr entrüstet über die Wiederaufnahme Nanas; Clarisse zitterte für ihre Rolle. Fontan benahm sich sehr kühl; er könne einer Frau nicht feindlich gesinnt sein, die er einst geliebt, meinte er. Im Grunde aber bewahrte er einen tiefen Haß gegen sie; das war sein Dank für ihre Ergebenheit, ihre Schönheit, für dieses Zusammenleben, das ihm in der Verderbtheit seines ungeheuerlichen Geschmackes nicht mehr behagte.

Rosa Mignon, durch Nanas Anwesenheit stutzig gemacht, hatte, als sie Labordette sich dem Grafen nähern sah, sofort begriffen, was vorgehe. Muffat war ihr im Grunde lästig, doch der Gedanke, im Stiche gelassen zu werden, brachte[317] sie außer sich. Sie trat aus dem Schweigen heraus, das sie sonst über diese Dinge ihrem Gatten gegenüber beobachtete und sagte rauh:

Du siehst, was da vorgeht? Wenn sie die Geschichte mit Steiner wiederholen will, kratze ich ihr die Augen aus.

Mignon zuckte ruhig die Achseln wie ein Mann, der alles sieht, und sagte leise:

Tu' mir den Gefallen und schweige.

Er wußte woran er war. Er hatte Muffat ausgebeutet und war bereit, ihn der Nana zuzuführen. Gegen Leidenschaften dieser Art kämpfte man vergebens, und als gewiegter Kenner der Herrenwelt dachte er nur mehr daran, aus der Lage den größtmöglichen Nutzen zu ziehen. Das Weitere würde sich finden.

Rosa auf die Bühne, rief Bordenave; wir beginnen den zweiten Akt.

Vorwärts, sagte Mignon, laß mich nur machen.

Es kam ihm der drollige Gedanke, Fauchery zu seinem neuen Stücke zu beglückwünschen. Das Stück ist vortrefflich, meinte er, aber die große Dame ist zu tugendhaft. Das sei unnatürlich. Und so spottete er weiter, indem er fragte, wer für den Herzog von Beaurivage, den schwachsinnigen Verehrer der Geraldine, Modell gestanden habe? Fauchery lächelte und schien durchaus nicht zu zürnen. Bordenave dagegen, der einen Seitenblick auf Muffat geworfen, schien verdrossen zu sein, was Mignon überraschte und nachdenklich machte.

Werden wir endlich anfangen? heulte der Direktor. Vorwärts, Barillot! Ist Bosc wieder nicht da? Macht sich der etwa gar einen Ulk mit mir?

Doch Bosc kam ruhig und die Probe wurde in dem Augenblicke wieder aufgenommen, als Labordette den Grafen fortführte. Dieser zitterte bei dem Gedanken, Nana[318] wiederzusehen. Nach dem Bruche zwischen ihnen hatte er eine ungeheure Leere im Innern empfunden und sich willenlos zu Rosa führen lassen. In dem Taumel, der ihn gefangen genommen, wollte er alles vergessen. Er bekämpfte den Gedanken, Nana aufzusuchen, und vermied auch jede Erklärung der Gräfin gegenüber. Er glaubte, diese Vergessenheit seiner Würde schuldig zu sein. Doch im Innern seines Wesens vollzog sich unmerklich eine Wandlung. Nana eroberte ihn allmählich wieder durch die Erinnerungen, durch die Feigheit seines Fleisches, durch neue zärtliche, fast väterliche Gefühle. Die Erinnerung an jene abscheuliche Szene verwischte sich langsam; er sah Fontan nicht mehr; er hörte Nana nicht mehr, wie sie ihm die Türe wies und ihm den Ehebruch seiner Gattin ins Gesicht schleuderte. Alldas waren verlöschte Worte, während im Herzen eine Beklemmung zurückgeblieben war, deren Wonne ihn immer mehr bedrückte, um ihn fast zu ersticken. Zuweilen kamen ihm kindische Gedanken; er klagte sich selbst an und dachte, sie hätte ihn vielleicht nicht betrogen, wenn er sie wirklich geliebt hätte. Seine Beklemmung wurde unerträglich; er war sehr unglücklich. Es war wie das ewige Brennen einer alten Wunde; nicht mehr das blinde, unmittelbare Befriedigung heischende Verlangen, das sich allem anpaßt, sondern eine Leidenschaft, die eifersüchtig war auf diese Frau; ein Bedürfnis nach ihr, ihrem Haar, ihren Augen, ihrem Leib. Wenn er sich des Klanges ihrer Stimme erinnerte, lief ein Frösteln durch seine Glieder. Er verlangte nach ihr mit der Gier eines Geizigen, mit dem Bedürfnis nach unendlichen Zärtlichkeiten. Diese Leidenschaft hatte ihn dermaßen bewältigt, daß er bei den ersten Worten Labordettes, der ein Stelldichein zwischen ihnen beiden vermitteln wollte, diesem in die Arme sank; allerdings schämte er sich dann dieses bei einem Manne seines Ranges lächerlichen[319] Benehmens. Doch Labordette durchschaute rasch die Lage. Er gab wieder einmal einen Beweis seines Taktes, indem er den Grafen am Fuße der Treppe mit den einfachen Worten verließ:

Im zweiten Stock, der Korridor rechts; die Türe ist nur angelehnt.

Muffat befand sich allein in diesem stillen Winkel des Theaters. An dem Künstlerzimmer vorbeikommend, sah er durch die offene Türe die greuliche Unordnung, die an solchen Tagen in diesem großen Raume herrschte. Was ihn überraschte, als er aus der Dunkelheit und dem Lärm der Bühne heraustrat, war die tiefe Ruhe, die jetzt auf dieser Treppe herrschte, die er eines Abends im dunstigen Gaslichte, bevölkert von Statistinnen gesehen, die durch alle Stockwerke rasten. Die Logen waren leer, die Gänge verödet; kein Mensch war da, kein Geräusch ließ sich hören. Durch die vergitterten Fenster des Treppenhauses fiel das bleiche Licht des Novembertages in gelben Streifen herein, in denen der feine Staub dieser stillen Räume wogte. Diese Stille, diese Ruhe tat dem Grafen wohl; er ging langsam hinauf und suchte sich zu fassen. Sein Herz pochte stürmisch. Er fürchtete, sich wie ein Kind zu benehmen, seufzend und Tränen vergießend. Auf dem Treppenabsatz des ersten Stockwerkes lehnte er sich an die Mauer. Das Taschentuch an die Lippen gedrückt, betrachtete er die ausgetretenen, zerbrochenen Treppenstufen, die abgegriffene Eisenrampe, die stellenweise vom Mörtel entblößten kahlen Wände, das ganze Elend, das sich zu dieser Stunde, da die Schauspielerinnen noch schlafen, in seiner Nacktheit zeigte. Im zweiten Stockwerke angekommen, mußte er über eine große, rote Katze steigen, die auf einer Treppenstufe zusammengekauert schlief. Diese allein hütete jetzt das dunkle, staubige, mißduftende Haus.[320]

Im Korridor rechts fand er die angelehnte Türe. Nana erwartete ihn. Greulicher Schmutz und heillose Unordnung herrschte in der Loge Mathildens, einer kleinen, schmierigen Naiven. Überall zerbrochene Töpfe, die Toilette ganz fettig, der einzige Sessel voll roter Schminkflecke. Die Papiertapete war bis zur Decke hinauf mit Seifenwasser bespritzt. Es roch so übel in diesem Raume, daß Nana das Fenster öffnen mußte. Sie lehnte sich einen Augenblick an das Gesims, um frische Luft zu schöpfen und blickte in den schmalen Hof hinunter, dessen grünliche Steinplatten Madame Bron eben zu reinigen versuchte. Draußen hing ein Käfig, in dem ein Zeisig seine traurigen Triller hören ließ. Das Geräusch der Wagen von der Straße drang nicht bis hierher; es herrschte eine peinliche Ruhe. Die Augen erhebend, sah Nana die Auslagen der Passage der Panoramen und dahinter die Häuser der Vivienne-Straße, deren hintere Mauern leer und kahl in die Luft ragten. Auf einem der Dächer hatte ein Photograph sein Atelier in der Form eines großen blauen Käfigs errichtet. Durch ein Pochen an die Türe wurde Nana aus ihrer Träumerei aufgestört.

Herein! rief sie.

Als sie den Grafen erblickte, schloß sie das Fenster. Es war nicht warm, und diese neugierige Frau Bron brauchte nicht zuzuhören. Die beiden blickten einander ernst an. Als sie sah, daß er stumm und steif, mit stockendem Atem dastand, brach sie in ein Gelächter aus und sagte:

Bist du da, dummer Junge?

Er war in tiefer Erregung, wie zu Eis erstarrt. Er nannte sie Madame; er schätzte sich glücklich, sie wiederzusehen. Um rascher ans Ziel zu gelangen, zeigte sie sich noch vertraulicher.

Gib dich doch nicht so würdevoll, sagte sie, du hast gewünscht, mich zu sehen und wir sind nicht zusammengekommen,[321] um einander anzustarren wie zwei Porzellanfiguren. Wir haben beide Fehler begangen; ich verzeihe dir.

Und sie einigten sich, darüber nicht weiter zu sprechen. Der Graf war zufrieden; er beruhigte sich allmählich, wußte aber in der Sturmflut von Worten, die sich ihm auf die Lippen drängte, nichts zu sagen.

Überrascht von dieser Kälte, spielte nun Nana die große Komödie.

Sei gescheit, sagte sie lächelnd. Wir haben Frieden gemacht, so wollen wir einander die Hände reichen und gute Freunde sein.

Wie, gute Freunde? murmelte er, plötzlich beunruhigt.

Ja, du wirst es vielleicht unsinnig finden, aber ich legte Wert darauf, deine Achtung zu erhalten. Wir haben uns gegenseitig erklärt und werden, wenn wir uns künftig treffen, einander nicht ausweichen.

Er machte ein Zeichen, um sie zu unterbrechen.

Laß mich ausreden ... sagte sie. Kein Mann hat mir eine Unanständigkeit vorzuwerfen, und es verdroß mich, daß du der erste sein solltest.

Aber sprich nicht davon, sagte er heftig. Setz' dich und hör' mich an.

Gleichsam aus Furcht, daß sie ihm davongehen könne, nötigte er sie, auf dem einzigen Sessel, der sich vorfand, Platz zu nehmen. Er ging in wachsender Aufregung auf und ab. In der kleinen, verschlossenen Loge, erhellt vom Sonnenlicht, herrschte trauliche Stille, die durch kein Geräusch von draußen gestört wurde. Nur von Zeit zu Zeit tönte gleich fernem Flötensang der Triller des Zeisigs herein.

Hör' mich an, sagte er und stellte sich vor sie hin. Ich bin gekommen, um dich wieder zu erlangen ... Ja, ich will von vorne beginnen. Du weißt es wohl. Warum sprichst[322] du also in diesem Tone mit mir, wie du es eben tatest? Antworte, willigst du ein?

Sie schaute zu Boden und kratzte mit den Nägeln das Stroh des Sessels, auf dem sie saß. Da sie sah, daß er vor Angst zitterte, beeilte sie sich nicht. Endlich erhob sie das Gesicht, das ernst geworden, mit den schönen Augen, in denen Traurigkeit sich ausdrückte.

Ach, unmöglich, mein Lieber. Ich kann mich nicht mit dir verbinden.

Warum nicht? stammelte er, wobei ein unsagbares Leiden sein Gesicht entstellte.

Warum nicht ... Weil ... Unmöglich ... Ich will nicht ...

Er blickte sie noch einige Sekunden glühend an, dann sank er mit schlotternden Knien zu Boden.

Sie begnügte sich, mit gelangweilter Miene zu sagen:

Ach, mach' doch keine Kindereien.

Er war in der Tat ein Kind geworden.

Zu ihren Füßen liegend, hatte er seine Arme um ihren Leib gelegt, sie eng an sich gezogen und sein Gesicht zwischen ihren Knien versteckt. Als er sie so in seinen Armen hatte, als er unter dem feinen Stoff ihres Kleides den Samt ihres Fleisches fühlte, da wurde er von nervösen Zuckungen, vom Fieberfrost geschüttelt; er geriet außer sich und drückte sie mit solcher Gewalt an sich, als ob er in ihr habe völlig aufgehen wollen. Der alte Sessel krachte. Unter der niedrigen Decke dieses von Parfümgerüchen erfüllten Raumes hörte man erstickte Seufzer des Verlanges.

Was weiter? fragte Nana, indem sie ihn ruhig gewähren ließ. All das bringt dich nicht weiter. Es ist eben unmöglich ... Mein Gott, wie bist du kindisch geworden.

Er beruhigte sich allmählich, doch blieb er zu ihren Füßen und ließ sie nicht los.

Hör' wenigstens, was ich dir anbieten will, sagte er mit[323] stockender Stimme. Ich habe für dich ein Haus in der Nähe des Park Monceau. Alle deine Wünsche will ich befriedigen. Um dich ungeteilt zu besitzen, will ich mein Vermögen opfern ... Ja, da wird die einzige Bedingung sein: ungeteilt ... Und wenn du einwilligen wolltest, niemandem als mir anzugehören, würde ich dich zur Reichsten und Schönsten machen! Du sollst alles haben: Wagen, Diamanten, Kleider ...

Nana schüttelte zu allen diesen Anerbietungen verneinend den Kopf.

Als er fortfuhr und davon sprach, Geld für sie anzulegen, da schien sie die Geduld zu verlieren.

Hörst du noch nicht auf, mich zu quälen? rief sie. Ich bin gutmütig und wollte dich einen Augenblick anhören, da das Verlangen, mich zu sehen, dich fast krank machte; doch jetzt habe ich genug ... Laß mich aufstehen, du ermüdest mich.

Sie machte sich los; und als sie stand, wiederholte sie:

Nein, nein, nein! ich will nicht.

Auch er erhob sich mit vieler Mühe und sank erschöpft auf den Sessel. Da saß er, den Kopf auf die Hände gestützt. Nana ging auf und ab, betrachtete die zerrissene Tapete, den fettigen Toilettetisch, dieses ganze, schmutzige Loch. Dann blieb sie vor dem Grafen stehen und sagte:

Es ist drollig. Die reichen Leute bilden sich ein, daß sie für ihr Geld alles haben können ... Aber wenn ich doch nicht will? Ich mag deine Geschenke nicht! und wenn du mir ganz Paris gibst, sage ich immer nein ... Schau umher: es ist hier nicht sehr sauber. Und doch würde ich es hier reizend finden, wenn ich daran Gefallen fände, mit dir da zu leben; während man in Euren Palästen krepiert, wenn das Herz nicht dabei ist ... Das Geld? Ich pfeife auf das Geld, ich trete es mit Füßen ...[324]

Sie machte eine Miene des Ekels. Dann wurde sie weicher und fügte in trübem Tone hinzu:

Ich weiß etwas, was mehr wert ist als Geld. Ach, wer mir gäbe, was ich verlange.

Er erhob langsam das Haupt, ein Hoffnungsschimmer leuchtete in seinen Augen.

Ach, du kannst es mir nicht geben, fuhr sie fort. Es hängt nicht von dir ab und ich rede auch nur deshalb vor dir davon. Wir plaudern ja nur ... Ich möchte die Rolle der ehrbaren Frau in diesem Stücke haben.

Welcher ehrbaren Frau? murmelte er erstaunt.

Der Herzogin Helene. Wenn Sie glauben, daß ich die Geraldine spielen werde, da täuschen sie sich sehr. Das Ganze ist eine Szene und weiter nichts ... Die Rolle paßt mir überhaupt nicht. Ich habe genug mit den Kokotten. Immer und ewig Kokotten; man möchte glauben, ich hätte nichts als Kokotten im Leibe. Das verstimmt mich. Diese Leute glauben gar, ich hätte eine schlechte Erziehung genossen. Da sind sie auf dem Holzweg. Wenn ich nobel sein will, da habe ich Schick ... Schau einmal her.

Sie trat zum Fenster und ging dann mit zurückgeworfenem Kopfe und gespreizten Schritten durch das Zimmer wie ein stolzer Hahn, der mit den Beinen nicht in die Pfütze will. Er folgte ihr mit tränenfeuchten Augen, verblüfft durch diese Komödie, die den Ausbruch seines Schmerzes durchkreuzte.

Sie machte das so eine Weile und trat dann befriedigt vor den Grafen hin.

Das ist doch das Rechte, wie?

Oh, vortrefflich, stammelte er, sie mit seinen trüben. Augen anblickend.

Ich sage dir: ich will die Rolle der ehrbaren Frau. Ich habe sie bei mir zu Hause probiert und kann versichern,[325] daß keine dieser Schauspielerinnen die schnippische Herzogin, die sich über die Herrenwelt lustig macht, so treffen wird wie ich. Es liegt mir im Blute; du mußt es gesehen haben ... Ich will die Rolle haben, hörst du; ich bin sonst unglücklich ...

Sie war ernst, fast hart geworden. Muffat, noch immer unter dem Eindruck ihrer Weigerung stehend, wartete auf nähere Erklärungen, denn er begriff nicht, wo sie hinaus wolle.

Ein Stillschweigen trat ein, man hörte keine Fliege in dem stillen Raume summen.

Verstehst du mich nicht? sagte sie endlich gerade heraus. Du mußt mir die Rolle verschaffen.

Er war verblüfft; dann sagte er mit einer Gebärde der Verzweiflung.

Aber, das ist unmöglich; du sagtest ja selbst vorhin, daß dies nicht von mir abhänge.

Sie unterbrach ihn mit einem Achselzucken.

Du wirst hinuntergehen und wirst Bordenave sagen, daß du die Rolle haben willst ... Sei doch nicht so kindisch! Bordenave braucht Geld; du wirst ihm welches leihen, da du so viel hast, um es zum Fenster hinauszuwerfen.

Da er sich noch sträubte, wurde sie ärgerlich.

Ach, ich begreife, du fürchtest, dich mit Rosa zu überwerfen. Ich habe von der geschwiegen, als du vorhin am Boden vor mir lagst und heultest; und doch hätte ich viel darüber zu sagen ... Jawohl, wenn man einer Frau schwört, sie ewig zu lieben, darf man sich nicht am nächsten Tage an die erste beste hängen ... Diese Wunde brennt mir noch im Herzen. Hättest du nicht mit diesen schmutzigen Leuten brechen sollen, ehe du hierherkamst, dich zu meinen Füßen zu wälzen?

Ach, ich kümmere mich um Rosa sehr wenig und bin bereit, sie sofort zu verlassen.[326]

Nana schien darüber befriedigt zu sein.

Was hält dich dann weiter ab? Bordenave ist der Herr ... Du wirst mir vielleicht entgegenhalten, daß hinter Bordenave noch Fauchery stecke ...

Sie stockte, denn sie kam jetzt zum heikelsten Punkte der Angelegenheit. Der Graf senkte die Blicke und schwieg. Er war in einer freiwilligen Unkenntnis der intimen Beziehungen des Journalisten zur Gräfin geblieben. Er beruhigte sich allmählich und wiegte sich in der Hoffnung, daß er sich getäuscht habe in jener furchtbaren Nacht, die er unter dem Haustor in der Taitbout-Straße zugebracht hatte. Doch nährte er einen geheimen Zorn, einen unbesiegbaren Widerwillen gegen Fauchery.

Fauchery ist auch nicht der Teufel, fuhr Nana prüfend fort, um zu erfahren, wie weit die Dinge zwischen dem Gatten und dem Geliebten gediehen seien. Man wird auch mit Fauchery fertig werden. Ich versichere dir, er ist im Grunde ein guter Junge. Also abgemacht ... Du wirst ihm sagen, es sei für mich.

Der Gedanke an einen solchen Schritt versetzte den Grafen in die höchste Aufregung.

Nein, niemals, rief er aus.

Sie wartete. Es drängten sich ihr die Worte auf die Lippen: Fauchery darf dir nichts abschlagen; aber sie fühlte, daß dieser Schatz als Grund gar zu grausam sei. Doch lächelte sie, und ihr drolliges Lächeln sagte alles. Muffat, der sie angeblickt hatte, schlug verwirrt die Augen nieder.

Du bist nicht sehr gefällig, murmelte sie endlich.

Ich kann nicht, erwiderte er beklommen. Alles, was du willst, nur das nicht. Ich bitte dich.

Jetzt verlor sie nicht viel Zeit mehr mit Worten. Sie lehnte mit ihren kleinen Händen seinen Kopf zurück und drückte ihm einen langen Kuß auf die Lippen. Er[327] bebte unter ihrer Umarmung zusammen und schloß die Augen.

Sie richtete ihn wieder auf und sagte einfach:

Geh'.

Und er ging. Bevor er die Schwelle überschritt, nahm sie ihn noch einmal in ihre Arme, spielte die Unterwürfige und Zutunliche und rieb wie eine Katze ihr Kinn an seiner Weste.

Wo ist das Haus? fragte sie leise mit der Miene eines schlimmen Kindes, das auf die guten Sachen zurückkommt, die es anfänglich nicht gewollt.

Villiers-Allee.

Und ich bekomme auch Wagen?

Ja.

Und Spitzen, Diamanten?

Ja.

Wie gütig bist du, mein Hündchen! Weißt du – vorhin geschah es nur aus Eifersucht ... Es soll nicht wieder so kommen, wie das erstemal; du weißt nun, was eine Frau braucht. Du gibst mir alles, wie? Ich brauche sonst niemanden. Nun ist alles dein ... das und das und das.

Sie erstickte ihn fast mit Küssen, dann schob sie ihn hinaus. Sie war wieder allein in dem mißduftenden Raume, den diese unordentliche Mathilde so verwahrloste. Sie öffnete das Fenster wieder und blickte hinaus auf die Passage, um sich die Zeit des Wartens abzukürzen. Muffat stieg schwankend und mit summendem Kopfe die Treppe hinab. Was sollte er sagen? Wie sollte er diese Angelegenheit anfassen, die ihn gar nichts anging?

Als er auf die Bühne kam, hörte er einen Streit. Man beendigte eben den zweiten Akt, und Prulliére regte sich auf, weil Fauchery aus seiner Rolle etwas streichen wollte.[328]

So streichen Sie das ganze, rief er; das ist mir lieber ... Die Rolle macht kaum zweihundert Zeilen und Sie wollen sie noch beschneiden? Nein! Ich bin es satt und gebe die Rolle zurück.

Er zog ein kleines, zerknittertes Heft aus der Tasche, drehte es fieberhaft zwischen den Fingern und machte Miene, es dem Vater Cossard hinzuwerfen. Die verletzte Eitelkeit zog sein bleiches Gesicht, seine schmalen Lippen, seine funkelnden Augen zusammen; er vermochte seine Aufregung nicht zu meistern. Er, Prulliére, der Abgott des Publikums, sollte eine Rolle von zweihundert Zeilen spielen.

Warum läßt man mich nicht gar Briefe auf der silbernen Platte hereinbringen? fügte er bitter hinzu.

Seien Sie vernünftig, sagte Bordenave, der ihn wegen des Eindrucks schonte, den er auf das Logenpublikum machte. Fangen Sie nicht Ihre Geschichten wieder an. Man wird etwas für Sie finden, nicht wahr, Fauchery? Man kann sogar im dritten Akte noch eine Szene einfügen.

Gut, dann will ich den Schluß des letzten Aktes haben. Man ist mir das schuldig.

Fauchery machte eine zustimmende Miene, und Prulliére schob, obgleich noch immer unzufrieden, die Rolle wieder in die Tasche. Bosc und Fontan blickten während dieser Auseinandersetzung sehr gleichgültig drein. Das interessierte sie nicht. Die Schauspieler umringten Fauchery, um verschiedene Fragen an ihn zu richten und ein Lob aus seinem Munde zu erhaschen. Mignon hörte die letzten Beschwerden Prulliéres an und spähte dabei nach dem Grafen Muffat, dessen Rückkehr er erwartete. Der Graf war im Hintergrunde der Bühne stehen geblieben, weil er in den Streit nicht hineingeraten wollte, doch Bordenave erblickte ihn und eilte auf ihn zu.

Eine saubere Gesellschaft, wie, Herr Graf? Sie können[329] sich nicht denken, welche Plage ich mit diesen Leuten habe. Der eine ist eitler als der andere und schlecht und verdorben, entzückt, wenn ich mir Hals und Beine bräche. Doch Verzeihung, ich ereifere mich allzusehr.

Er hielt an sich, Stillschweigen ...

Muffat rang nach dem ersten Worte, doch er fand nichts und stieß plötzlich hervor:

Nana will die Rolle der Herzogin haben.

Bordenave fuhr auf und schrie:

Das ist ein Wahnsinn.

Dann blickte er auf den Grafen und sah diesen bleich, verstört. Er beruhigte sich bald.

Teufel! sagte er einfach.

Da schwiegen wieder beide. Ihm war es im Grunde gleichgültig. Diese große, starke Nana wird in der Rolle einer Herzogin vielleicht ganz drollig sein. Überdies war es ein Mittel, den Grafen zu erwischen und festzuhalten. Er faßte denn auch rasch einen Entschluß und rief Fauchery herbei.

Der Graf hielt Bordenave zurück; Fauchery hatte den Ruf nicht gehört. Er stand mit Fontan abseits und mußte von diesem eine Erklärung über sich ergehen lassen, wie er, Fontan, den Tardiveau auffasse. Er faßte ihn als Marseiller auf, der auch mit diesem Akzent spricht, und ahmte den Akzent auch gleich nach. Fauchery blieb kühl und machte Einwendungen, was Fontan erregte. Gut, meinte er, wenn man glaubt, ich habe den Geist der Rolle nicht aufgefaßt, so ist es besser, sie gleich einem anderen zu geben.

Fauchery! rief Bordenave.

Der Journalist war froh, dem Schauspieler zu entkommen; Fontan war wütend über diese plötzliche Flucht.

Kommen Sie, meine Herren, sagte Bordenave.

Um vor unberufenen Ohren sicher zu sein, führte er die[330] Herren in das Requisitenmagazin, das hinter der Bühne lag. Mignon sah sie zu seiner Überraschung verschwinden. Die Herren mußten einige Stufen hinabsteigen, um dorthin zu gelangen. Es war dies ein viereckiger Raum mit zwei Fenstern, die auf den Hof gingen; durch die schmutzigen Scheiben fiel fahles Zwielicht. Da war ein unbeschreibliches Durcheinander von verschiedenartigem Plunder; Teller und Becher aus Kartonpapier, alte rote Regenschirme, italienische Krüge, Wanduhren in jedem Stil, Tassen, Tintenfässer, Waffen aller Gattung, alles bedeckt mit einer fingerdicken Staubschicht, unkenntlich, zerbrochen, übereinander geworfen. Ein unerträglicher Geruch von altem Eisen, schmutzigen Fetzen, feuchtem Papier stieg aus diesem Haufen empor, in dem seit fünfzig Jahren die Requisiten abgespielter Stücke übereinandergeworfen wurden.

Treten Sie ein, meine Herren, sagte Bordenave, da werden wir ungestört sein.

Der Graf befand sich in arger Verlegenheit; er stand abseits und überließ es dem Direktor, den Vorschlag zu machen.

Was gibt es denn? fragte Fauchery erstaunt.

Wir haben einen Gedanken, sagte Bordenave endlich. Sie dürfen sich darüber nicht allzu sehr aufregen, die Sache ist ernst. Was halten Sie von Nana in der Rolle der Herzogin?

Der Autor war einen Augenblick sprachlos; dann brach er los:

Nein, das ist nicht möglich. Sie scherzen wohl nur. Man würde zuviel lachen.

Wenn man lacht, wäre es schon nicht so schlimm ... Überlegen Sie ... Der Herr Graf findet großen Gefallen an den Gedanken.

Um sich Haltung zu geben, hatte Muffat von einem staubigem Brett einen Gegenstand genommen, den er nicht[331] zu erkennen glaubte. Es war ein Eierbecher, dessen Fuß man aus Gips ersetzt hatte. Er betrachtete diesen eine Weile wie geistesabwesend und näherte sich dann den Herren, indem er bemerkte:

Ja, ja, es wäre mir sehr angenehm.

Fauchery wandte sich mit der Gebärde der Ungeduld zum Grafen. Was hatte sich der Graf um sein Stück zu kümmern? Er erklärte rundweg:

Niemals ... Nana als Kokotte: das geht. Aber Nana als ehrbare Frau: das hat keinen Sinn.

Sie täuschen sich, ich versichere Ihnen, sagte Muffat, allmählich Mut gewinnend. Sie hat mir soeben die ehrbare Frau vorgespielt ...

Wo denn? fragte Fauchery mit wachsendem Erstaunen.

Da oben, in einer Loge. Es ging sehr gut. Eine seltene Vornehmheit ... Sie hatte insbesondere einen Blick ... Warten Sie, ich will Ihnen zeigen ...

Und in seinem blinden Willen, die Herren zu überzeugen, vergaß er sich so weit, daß er, den Eierbecher in der Hand, sich anschickte, Nana nachzuahmen. Fauchery betrachtete ihn verblüfft. Er begriff und zürnte nicht mehr. Der Graf, der den spöttischen und mitleidsvollen Blick des Journalisten auf sich ruhen fühlte, hielt errötend inne.

Mein Gott, es ist ja möglich, murmelte der Verfasser gefällig. Sie wird vielleicht sogar gefallen. Aber die Rolle ist vergeben; wir können sie der Rosa nicht wegnehmen.

Ach, wenn kein anderes Hindernis ist, sagte Bordenave, so nehme ich es auf mich, die Angelegenheit zu regeln.

Da der Journalist sah, daß er alle beide gegen sich habe, und daß Bordenave ein geheimes Interesse an der Sache haben müsse, sträubte er sich jetzt mit doppelter Hartnäckigkeit gegen diese Zumutung, so daß es schien, als solle die ganze Verhandlung Schiffbruch leiden.[332]

Nein, nein, nein. Selbst wenn die Rolle frei wäre, würde ich sie ihr nicht geben. Da haben Sie meine klare Antwort, lassen Sie mich jetzt in Ruhe. Ich habe keine Lust, mein Stück umbringen zu lassen.

Wieder Stillschweigen. Bordenave fühlte, daß er überflüssig sei, und zog sich zurück. Der Graf stand mit gesenktem Kopfe da; endlich blickte er auf und sagte mit bebender Stimme:

Mein Lieber, wenn ich mir das als eine Gefälligkeit von Ihnen erbitte?

Ich kann nicht, wiederholte Fauchery, sich noch immer sträubend.

Muffat verfiel nun in einen härteren Ton:

Ich bitte Sie darum ... Ich will es.

Er sah ihm starr ins Gesicht. Vor diesem finsteren Blick, in dem er eine Drohung zu sehen glaubte, gab der junge Mann plötzlich nach und stammelte verwirrt:

Machen Sie was Sie wollen, ich schere mich nicht weiter darum ... Sie werden schon sehen.

Jetzt war die Verlegenheit noch größer. Fauchery lehnte sich an eine Kiste und klopfte nervös mit der Fußsohle auf den Boden. Muffat schien mit Aufmerksamkeit den Eierbecher zu betrachten, den er noch immer in der Hand hin und her drehte.

Das ist ein Eierbecher, sagte Bordenave höflich, indem er sich den Herren wieder näherte.

Schau, schau. Wirklich, das ist ein Eierbecher, wiederholte der Graf.

Verzeihung, Sie haben sich ganz mit Staub bedeckt, sagte Bordenave, indem er den Eierbecher wieder an seinen Platz stellte. Sie begreifen, wenn man hier täglich alles abstauben wollte, würde man gar nicht fertig werden. Es ist auch hier recht staubig. Aber es sind Gegenstände für[333] ein schönes Stück Geld aufgehäuft. Schauen Sie nur, schauen Sie ...

Er führte den Grafen zu den Kisten umher und nannte ihm einzelne Sachen, um ihn für sein Fetzeninventar zu interessieren. Dann sagte er leichten Tones:

Wenn wir alle einig sind, können wir unsere Angelegenheiten auch abschließen ... Da kommt auch Mignon.

Mignon schlich seit einigen Minuten im Gang umher. Nun trat er ein. Bei den ersten Worten Bordenaves über die Abänderung des Kontraktes seiner Gattin geriet Mignon in Aufregung. Das sei eine Schmach, schrie er; man wolle die Zukunft seiner Frau ruinieren, er werde Prozeß führen. Bordenave blieb ruhig und suchte ihm mit Vernunftgründen beizukommen. Die Rolle scheine Rosas gar nicht würdig zu sein; er wolle sie lieber für eine Operette schonen, die gleich nach der »Kleinen Herzogin« zur Aufführung kommen solle. Als aber dies nichts half und Mignon fortfuhr zu schreien, bot ihm Bordenave plötzlich die Lösung des Kontraktes an, indem er der Gerüchte erwähnte, wonach Rosa vom Possentheater Anstellungsanträge bekommen habe. Mignon geriet einen Augenblick in Verlegenheit; er wagte es nicht, diese Tatsache in Abrede zu stellen, aber er meinte, die günstigen Anerbietungen des Possentheaters verlockten ihn nicht. Man habe seiner Frau diese Rolle der Herzogin Helene zugeteilt, und sie werde die Rolle spielen; das werde er durchsetzen und sollte es sein ganzes Vermögen kosten. Er betrachte es als Ehrensache. In dieser Weise schien die Angelegenheit nicht zum Ziele zu führen. Bordenave kam immer darauf zurück, daß Rosa fünfzehntausend Franken gewinnen könne, da ihr das Possentheater dreihundert Franken für hundert Abende anböten, während sie von ihm, Bordenave, nur hundertfünfzig bekomme. Mignon beharrte jedoch auf dem künstlerischen Standpunkte. Was würde[334] man sagen, wenn man sehe, daß seiner Frau die Rolle abgenommen werde? Der Ruhm gehe über das Geld!

Plötzlich stellte er folgenden Antrag:

Seine Gattin habe eine Strafe von zehntausend Franken zu bezahlen, wenn sie ihren Kontrakt lösen wolle. Man gebe ihr zehntausend Franken, und werde gehen.

Bordenave war von diesem Antrage ganz verblüfft, während Mignon, der den Grafen keinen Augenblick aus den Augen ließ, ruhig wartete.

Die Sache scheint endlich doch zu gehen, sagte Muffat erleichtert, wir können uns verständigen.

O nein, das wäre doch zu dumm! rief Bordenave. Zehntausend Franken, um Rosa ziehen zu lassen ... Man würde sich ja über mich lustig machen.

Doch der Graf winkte ihm einzuwilligen. Der Direktor zögerte noch. Endlich gab er nach, allerdings unwillig wegen der zehntausend Franken, obgleich sie nicht aus seiner Tasche bezahlt wurden.

Meinetwegen, sagte er schroff, wenigstens werde ich Euch los sein.

Fontan stand seit einer Viertelstunde im Hofe und belauschte diese Unterredung. Als er begriffen hatte, eilte er auf die Bühne und machte sich den Spaß, Rosa davon zu verständigen, was abgemacht worden war, Diese lief wütend in das Requisitenmagazin. Die Herren schwiegen, als sie eintrat. Sie sah die vier Männer an. Muffat ließ das Haupt sinken. Fauchery beantwortete ihren fragenden Blick mit verzweifeltem Achselzucken. Mignon selbst besprach mit Bordenave den Wortlaut des Vertrages ...

Was gibt's? fragte sie kurz.

Nichts! sagte ihr Gatte. Bordenave will zehntausend Franken geben, um deine Rolle zurück zu bekommen.

Sie wurde bleich, begann zu zittern und preßte die Fäuste[335] zusammen. Sie, die es sonst gänzlich ihrem Gatten überließ, die geschäftlichen Angelegenheiten zu führen, sah ihn mit unbeschreiblicher Verachtung an, als ob sie ihn peitschen wolle, und schrie dann wütend:

Du bist ein Feigling.

Dann ging sie. Mignon eilte ihr bestürzt nach und rief, sie solle sich doch nicht so unsinnig benehmen. Dann erklärte er ihr halblaut, daß zehntausend Franken von der einen und fünfzehntausend Franken von der anderen Seite, zusammen fünfundzwanzigtausend Franken ausmachen. Ein ausgezeichnetes Geschäft. Muffat lasse sie nun einmal sitzen, und es sei ein Kunststück von seiner, Mignons Seite, ihm noch diese Feder auszurupfen. Rosa war wütend und antwortete ihm nicht. Mignon verlor die Geduld und ließ sie stehen. Als Bordenave mit Fauchery wieder auf die Bühne kam, sagte er:

Wir werden morgen unterzeichnen, halten Sie das Geld bereit.

Nana, durch Labordette von dem Geschehenen verständigt, kam eben triumphierend die Treppe herab. Sie gab sich ein vornehmes Ansehen, um allen diesen Leuten zu zeigen, daß sie vornehm sein könne, wenn sie nur wolle. Fast hätte sie sich lächerlich gemacht. Als Rosa sie sah, stürzte sie wie wahnsinnig auf sie los und schrie:

Du, ich werde dich schon erwischen. Es muß ein Ende nehmen zwischen uns beiden, hörst du?

Durch diesen unvermuteten Angriff sich vergessend, schickte sich Nana an, die Arme in die Seiten zu stemmen und die andere als »Vettel« zu behandeln. Doch sie hielt an sich, schraubte den flötenartigen Ton ihrer Stimme noch mehr in die Höhe und rief mit der Miene einer Herzogin, die auf eine Orangenschale getreten:

Wie, was? Sind Sie verrückt, meine Liebe.[336]

Dann setzte sie ihre Komödie fort, während Rosa sich entfernte, gefolgt von Mignon, der seine Frau nicht wieder erkannte.

Clarisse war entzückt, denn sie hatte soeben von Bordenave die Rolle der Geraldine erhalten. Fauchery ging in düsterer Stimmung auf und ab und konnte sich nicht entschließen, das Theater zu verlassen. Sein Stück war verdorben; er sann jetzt darüber nach, wie es noch zu retten sei. Nana nahm ihn am Handgelenk, zog ihn an sich und fragte ihn, ob er sie denn so greulich finde? Sie werde ihm sein Stück nicht fressen. Schließlich brachte sie ihn zum Lachen; sie gab ihm zu verstehen, daß es dumm sei, wenn er in seiner Stellung bei den Muffats sich mit ihr überwerfen wolle. Er möge wegen des Stückes unbesorgt sein; wenn ihr Gedächtnis sie im Stiche lassen solle, werde sie den Souffleur zu Hilfe nehmen. Man werde gewiß volle Häuser machen. Er täusche sich übrigens in bezug auf sie; er werde sehen, daß sie ihre Sache vortrefflich mache. Man einigte sich schließlich dahin, daß der Verfasser die Rolle der Herzogin ein wenig umarbeitet, um die des Prullière etwas zu verlängern. So war auch dieser glücklich. In der allgemeinen Freude, die mit Nana einzuziehen schien, blieb nur einer kühl, Fontan. Er stand unter der Gasflamme, deren volles Licht auf sein Bocksgesicht fiel, und nahm eine sorglose Miene an. Nana ging ruhig auf ihn zu und reichte ihm die Hand.

Es geht dir gut ...

Ja und dir?

Sehr gut, ich danke.

Das war alles, als ob sie gestern abends vor der Tür des Theaters voneinander geschieden seien. Inzwischen warteten die Schauspieler; doch Bordenave sagte ihnen, daß heute der dritte Akt nicht mehr probiert werde. Bosc, der[337] diesmal zufällig pünktlich zur Stelle war, entfernte sich brummend; man halte die Leute von Notwendigkeiten zurück und raube ihnen den halben Tag, meinte er. Damit gingen alle fort. Auf der Straße mußten sie vor dem hellen Sonnenschein die Augen schließen wie Leute, die drei Stunden in einem Keller zugebracht haben. Der Graf stieg mit abgespannten Nerven und wüstem Kopfe in Gesellschaft Nanas in den Wagen, während Labordette sich mit Fauchery entfernte und diesen weiter zu besänftigen suchte.

Einen Monat später wurde »Die kleine Herzogin« zum ersten Male aufgeführt, und diese erste Aufführung war für Nana ein großer Mißerfolg. Sie spielte sehr schlecht und suchte den Ton des feinen Lustspiels zu treffen, was das Publikum nur erheiterte. Man zischte nicht einmal, so sehr amüsierte man sich über sie. In einer Vorbühnenloge saß Rosa und empfing ihre Rivalin, sooft diese die Bühne betrat, mit lautem Gelächter, womit sie dem ganzen Saale das Signal gab. Das war ihre erste Rache.

Nana war wütend, und als sie nach der Vorstellung mit Muffat allein war, der sehr bekümmert schien, sagte sie:

War das eine Verschwörung? Nichts als Eifersucht! Wenn sie wüßten, wie ich mich über sie lustig mache! Ich bedarf ja ihrer nicht mehr. Ich wette hundert Louis, daß alle diese Leute, die sich heute gegen mich verschworen haben, noch vor mir auf dem Boden liegen und den Staub lecken werden. Ja, ich will ihnen die große Dame spielen ... Ganz Paris soll darüber die Augen aufreißen ...

Quelle:
Zola, Emile: Nana. Berlin, Wien 1923, S. 306-338.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Nana
Nana: Roman
Nana (insel taschenbuch)
Nana: Roman (insel taschenbuch)
Nana: Roman (Fischer Klassik)
Nana

Buchempfehlung

Auerbach, Berthold

Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 5-8

Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 5-8

Die zentralen Themen des zwischen 1842 und 1861 entstandenen Erzählzyklus sind auf anschauliche Konstellationen zugespitze Konflikte in der idyllischen Harmonie des einfachen Landlebens. Auerbachs Dorfgeschichten sind schon bei Erscheinen ein großer Erfolg und finden zahlreiche Nachahmungen.

554 Seiten, 24.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon