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[178] Unterdessen hatte auch Philipps Substitut als Nachtwächter auf den Straßen der Stadt seine Rolle gespielt. Es ist wohl nicht nötig, erst zu sagen, was jeder von selbst weiß, daß dies kein anderer als Prinz Julian war, der, des süßen Weines voll, auf den Einfall gekommen, in die Nachtwächterei hineinzupfuschen. – Sobald er den Philipp verlassen hatte, rief und blies er von Straßenecke zu Straßenecke die Stunden nach Herzenslust, machte zu seinem Gesang allerlei komische Zusätze und bekümmerte sich wenig um das vorgeschriebene Revier, das er zu behüten und zu beblasen hatte.

Indem er auf einen neuen Vers sann, ging seitwärts eine Haustür auf, ein wohlgekleidetes Mädchen trat hervor und winkte mit einem lockenden: Bst! bst! Dann zog es sich in die Dunkelheit des Hausgangs zurück.

Der Prinz ließ seine Verse fahren und folgte der angenehmen Erscheinung. In der Finsternis ergriff ihn eine zarte Hand, und eine weiche Stimme lispelte: »Guten Abend, lieber Philipp! Sprich leise, daß uns niemand hört. Ich bin nur auf ein Augenblickchen von der Gesellschaft weggeschlichen, dich im Vorbeigehen zu grüßen. Bist du vergnügt?«[178]

»Wie ein Gott vergnügt, du Engel!« sagte Julian. »Wer könnte bei dir auch traurig sein?«

»Philipp, ich habe dir etwas Gutes zu sagen. Du sollst morgen abend bei uns essen. Die Mutter hat es erlaubt. Kommst du auch?«

»Alle Abend, alle Abend!« rief Julian, »und so lange du willst. Ich wollte, du könntest beständig bei mir sein oder ich bei dir, bis an der Welt Ende. Das wäre ein Götterleben!«

»Höre, Philipp, in einer halben Stunde bin ich bei der Gregorienkirche. Da erwarte ich dich. Du fehlst doch nicht? Laß mich nicht lange warten. Dann machen wir noch einen Gang durch die Stadt. Nun geh, damit uns niemand überrascht.«

Sie wollte gehen. Julian aber zog sie zurück in seinen Arm. »Willst du mich so kalt von dir scheiden lassen?« fragte er und drückte seinen Mund auf ihre Lippen.

Röschen wußte nicht, was zu Philipps Keckheit sagen. Denn Philipp war immer so bescheiden und zärtlich gewesen, daß er höchstens einen Kuß auf ihre Hand gewagt hatte, ausgenommen einmal, da ihnen beiden die Mutter allen und jeden Umgang hatte verbieten wollen. Damals war von ihnen im Gefühl der höchsten Liebe und des höchsten Schmerzes der erste Kuß gewechselt worden; seitdem nie wieder. Röschen sträubte sich; aber der vermeinte Philipp war so ungestüm, daß man, um kein verräterisches Geräusch zu machen, wohl das Sträuben aufgeben mußte. Sie vergalt den Kuß und sagte: »Philipp, nun geh!«

Er aber ging nicht, sondern sagte: »Da wäre ich wohl ein Narr. Meinst du, ich hätte mein Nachtwächterhorn lieber als dich? Mitnichten, du Herzchen.«

»Ach«, seufzte Röschen, »es ist aber doch nicht recht.«

»Warum denn nicht, du Närrchen? Ist denn das Küssen in deinen zehn Geboten untersagt?«

»Ja«, versetzte Röschen, »wenn wir uns einander haben dürften, dann wär' es etwas anderes.«[179]

»Haben? Wenn es nichts anderes ist, alle Tage kannst du mich haben, wenn du willst.«

»Ach, Philipp, wie sprichst du auch heute so wunderlich! Wir können ja daran noch nicht denken.«

»Wahrhaftig, ich denke aber ganz ernstlich daran. Wenn du nur willst.«

»Philipp, hast du ein Räuschchen? Ob ich will? Geh, du beleidigst mich. – Höre, Philipp, mir hat die letzte Nacht von dir geträumt.«

»War's was Schönes?«

»Du habest in der Lotterie gewonnen, Philipp. Da hatten wir beide Jubel. Du hattest dir einen prächtigen Garten gekauft. Kein schönerer Garten ist in und außer der Stadt. Alles hatten wir da vollauf; Blumen an Blumen, wie ein Paradies, und große Beete voll des feinsten Gemüses, und die Bäume hingen schwer von Obst. Ich ward beim Erwachen recht traurig, daß mich der Traum nur geneckt hatte. Sage mir, Philipp, hast du etwa in die Lotterie gesetzt? Hast du etwas gewonnen? Heute war ja Ziehung.«

»Wenn ich bei dir, du schönes Kind, das große Los gewänne, wer weiß, was geschähe? Wieviel müßte ich dann gewinnen für dich?«

»Wenn du auch nur so glücklich wärst, tausend Gulden zu gewinnen. Dann könntest du schon einen artigen Garten kaufen.«

»Tausend Gulden? Und wenn es mehr wäre?«

»O Philipp, was sagst du? Ist's wahr? Nein, betrüge mich nicht wie mein Traum! Du hast gesetzt, du hast gewonnen. Gesteh es nur!«

»Soviel du willst.«

»O Gott!« rief Röschen und fiel ihm freudetrunken an den Hals und küßte ihn mit glühender Freude. »Mehr als tausend Gulden? Wird man dir auch das viele Geld wohl geben?«

Unter ihren Küssen vergaß der Prinz das Antworten. Es ward[180] ihm ganz wunderbar, die zarte, edle Gestalt in seinen Armen zu halten, deren Liebkosungen ihm doch nicht galten, und die er doch so gern für seine Rechnung genommen hätte.

»Antworte doch, antworte doch!« rief Röschen ungeduldig. »Wird man dir auch die Menge Geldes geben wollen?«

»Ich habe es schon; und macht dir's Freude, so geb' ich's dir.«

»Wie, Philipp, du trägst es mit dir?«

Der Prinz nahm seine Börse hervor, die er, schwer von Gold, zu sich gesteckt hatte, um sie beim Spieltische anzuwenden. »Nimm und wäge, Mädchen!« sagte er und legte sie, indem er die kleinen, zarten Lippen küßte, in Röschens Hand. »Bleibst du mir dafür hold?«

»Nein, Philipp, wahrlich für dein vieles Geld nicht, wenn du nicht mein Philipp wärst.«

»Und wie zum Beispiel, wenn ich dir noch einmal soviel geben würde und nicht dein Philipp wäre?«

»So wärf' ich dir deine Schätze vor die Füße und machte dir einen höflichen Knicks!« sagte Röschen.

Indem ging eine Tür droben auf; man hörte Mädchenstimmen und Gelächter. Der Schimmer eines Lichts fiel von oben auf die Treppe. Röschen erschrak und flüsterte: »In einer halben Stunde bei der Gregorienkirche!« und sprang davon, die Treppe hinauf. Der Prinz stand wieder im Finstern. Er ging zum Hause hinaus und betrachtete das Gebäude und die erleuchteten Fenster. Die plötzliche Trennung war ihm natürlich sehr unzeitig geschehen. Zwar die Geldbörse gereute ihn nicht, mit der das Mädchen davongeflogen war; wohl aber, daß er das Gesicht der unbekannten Schönen nicht beim Lichte gesehen hatte; daß er nicht einmal ihren Namen wußte und noch weniger, ob sie aus der Drohung, ihm das Geld vor die Füße zu werfen, ernst machen würde, wenn er ihr in seiner wahren Gestalt erschiene. Inzwischen vertröstete er sich auf das Finde-mich bei der Gregorienkirche. Eben dies Plätzchen hatte ihm auch der[181] Nachtwächter angewiesen. Julian verstand bald, daß er sein glückliches Abenteuer nur diesem, doch ohne dessen Willen zu danken hatte.

Quelle:
Heinrich Zschokke: Hans Dampf in allen Gassen. Frankfurt a.M. 11980, S. 178-182.
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