|
[41] Niemand muß sich geographischer Unbildung schuldig erachten, wenn er den Namen des Städtchens St-Dié nie vernommen hat; selbst die Gelehrten haben mehr als zwei Jahrhunderte gebraucht, um herauszufinden, wo eigentlich jenes »Sancti Deodati oppidum« gelegen war, das auf die Namensgebung Amerikas so entscheidenden Einfluß genommen. Im Schatten der Vogesen versteckt und zu dem längst verschollenen Herzogtum Lothringen gehörig, besaß dies Örtchen keinerlei Verdienst, um die Neugier der Welt auf sich zu ziehen. Der damals regierende René II. führt zwar wie sein berühmter Ahn, »le bon roi René«, den Titel eines Königs von Jerusalem und Sizilien und des Grafen von Provence, ist aber in Wahrheit nichts als der Herzog dieses kleinen Stückchen lothringischen Lands, das er mit viel Liebe zu den Künsten und Wissenschaften redlich verwaltet. Sonderbarerweise – die Geschichte liebt das Spiel der kleinen Analogien – hatte schon vordem dies kleine Städtchen ein Buch produziert, das auf die Entdeckung Amerikas Einfluß geübt, denn gerade hier hatte der Bischof d'Ailly jenes Werk ›Imago Mundi‹ verfaßt, das zugleich mit dem Briefe Toscanellis Columbus den entscheidenden[41] Anstoß gegeben, Indien auf dem Wege nach dem Westen zu suchen; bis zu seinem Tode hatte der Admiral dies Werk als Leitbuch auf allen seinen Fahrten mit sich, und sein erhaltenes Exemplar zeigt unzählige Randbemerkungen von seiner Hand. So ist ein gewisser präcolumbianischer Zusammenhang zwischen Amerika und St-Dié nicht abzuleugnen. Aber erst unter Herzog René ereignet sich dort jener merkwürdige Zwischenfall – oder Irrtum –, dem Amerika seinen Namen für alle Zeiten verdankt. Unter dem Protektorat René II., wahrscheinlich auch unter seiner materiellen Beihilfe, tun sich in dem winzigen St-Dié ein paar Humanisten zu einer Art Kollegium zusammen, das sich Gymnasium Vosgianum nennt und Wissenschaft entweder lehren oder durch Drucklegung wertvoller Bücher verbreiten will. In dieser Miniaturakademie vereinigen sich Laien und geistliche Herren zu kulturellem Zusammenwirken; wahrscheinlich hätte man aber niemals von ihren gelehrten Diskussionen vernommen, wenn sich nicht – etwa 1507 – ein Drucker namens Gauthier Lud entschlossen hätte, dort eine Presse aufzustellen und Bücher zu drucken. An sich war der Ort gut gewählt, denn in dieser kleinen Akademie hat Gauthier Lud die rechten Leute als Herausgeber, Übersetzer, Korrektoren und Illustratoren zur Hand, außerdem ist Straßburg mit seiner Universität und seinen guten Helfern nicht weit; und da der freigebige Herzog als Protektor seine Unterstützung leiht, kann in dem stillen, weltabgeschiedenen[42] Städtchen auch ein größeres Werk wohl gewagt werden.
Aber welches Werk? Die Neugier der Zeit ist der Erdkunde zugewandt, seit Jahr für Jahr neue Entdeckungen die Kenntnis der Welt erweitern. Nun gab es bisher in der Geographie nur ein einziges klassisches Buch, die ›Cosmographia‹ des Ptolemäus, die mit ihren Erklärungen und Karten den Gelehrten Europas seit Hunderten Jahren als unübertrefflich und vollkommen gegolten. Seit 1475 war es durch eine lateinische Übersetzung allen Gebildeten als der allgemeine Kodex der Weltkunde zugänglich und unentbehrlich geworden: was Ptolemäus sagte oder in seinen Karten darlegte, galt durch die Autorität seines Namens schon als bewiesen. Aber gerade in diesen fünfundzwanzig Jahren hatte sich das Wissen um den Kosmos mehr erweitert als vordem in Hunderten von Jahren, und der durch tausend Jahre mehr gewußt als alle Kosmographen und Geographen nach ihm, erwies sich plötzlich in seinen Kenntnissen um die Welt dementiert und überholt von ein paar kühnen Seefahrern und Abenteurern. Wer die ›Cosmographia‹ nun neu herausgeben will, muß sie berichtigen und ergänzen; er muß die neuen Küsten und Inseln, die im Westen gefunden wurden, einzeichnen in die alten Karten. Erfahrung muß die Tradition berichtigen, bescheidene Korrektur der Ehrfurcht vor dem klassischen Werk neue Verläßlichkeit leihen, wenn weiterhin Ptolemäus als der Allweise und sein Buch als unwidersprechlich gelten sollen. Niemand vor[43] Gauthier Lud war bisher auf den Gedanken gekommen, das unvollkommene Buch wieder vollkommen zu machen. Es ist eine verantwortliche, aber auch zugleich eine aussichtsreiche Aufgabe, die rechte und gegebene darum für einen zu gemeinsamem Werk versammelten Kreis.
Gauthier Lud, nicht nur ein simpler Drucker, sondern auch als Sekretär des Herzogs und Kaplan ein gebildeter und überdies vermögender Mann, mustert seine kleine Schar und muß bekennen, daß er es glücklicher kaum hätte treffen können. Für die Zeichnung und den Stich von Karten findet sich ein ausgezeichneter junger Mathematiker und Geograph namens Martin Waldseemüller, der entsprechend dem Usus der Zeit in gelehrten Werken seinen Namen zu Hylacomylus gräzisieren wird. Siebenundzwanzig Jahre alt, ein Schüler der Universität Breisgau, verbindet er die Frische und Kühnheit der Jugend mit guten Kenntnissen und einer eminenten zeichnerischen Begabung, die seinen Karten für Jahrzehnte einen Vorrang in der Geschichte der Kartographie sichern wird. Auch ein junger Dichter ist zur Stelle, Matthias Ringmann, der sich Philesius nennen wird, wohl geeignet, mit poetischer Epistel ein Werk einzuleiten und die lateinischen Texte geschmackvoll zu polieren. Auch der rechte Übersetzer fehlt nicht; er ist in Jean Basin gefunden, der als rechter Humanist nicht nur in den alten Sprachen, sondern auch in den modernen geschult ist. Mit einer solchen gelehrten Gilde kann man beruhigt an die Revision des berühmten Werkes gehen. Aber wo[44] die Grundlagen für die Darstellung der neuentdeckten Zonen finden? Hat nicht jener Vesputius als erster auf diese »neue Welt« hingewiesen? Anscheinend war es Matthias Ringmann, der schon vorher den ›Mundus Novus‹ unter dem Titel ›De Ora Antarctica‹ in Straßburg 1505 publiziert hatte. Er erteilte den Rat, die in Deutschland noch unbekannte italienische ›Lettera‹ in lateinischer Sprache dem Ptolemäus als natürliche Ergänzung beizufügen.
Das wäre an sich ein redliches und durchaus dankenswertes Beginnen; aber die Eitelkeit der Herausgeber spielt Vespucci einen schlimmen Streich, und so schürzt sich der zweite der Knoten, aus denen die Nachwelt dem Ahnungslosen einen Strick drehen wird. Statt glatt die Wahrheit zu sagen, daß sie die ›Lettera‹, die Berichte Vespuccis über seine vier Reisen, in der Form, in der sie in Florenz erschienen sind, einfach aus dem Italienischen ins Lateinische übersetzen, erfinden die Humanisten in St-Dié, teils um ihrer Publikation mehr Ansehen zu geben, teils um ihren Mäzen, den Herzog René, besonders vor der Welt zu ehren, eine romantische Geschichte. Sie täuschen dem Publikum vor, Americus Vesputius, der Entdecker dieser neuen Welten, dieser hochberühmte Geograph, sei ein besonderer Freund und Verehrer ihres Herzogs, er habe diese ›Lettera‹ direkt an ihn nach Lothringen gerichtet, und diese Ausgabe stelle die erste Veröffentlichung dar. Welche Huldigung dies für ihren Fürsten! Der größte Gelehrte der Zeit, der hochberühmte Mann, sendet[45] außer an den König von Spanien nur noch an diesen Duodezfürsten die Schilderung seiner Reisen! Um diese fromme Fiktion aufrechtzuerhalten, wird die Widmung an die italienische »Magnificenza« umgeändert in eine an den »illustrissimus rex Renatus«; und um außerdem noch möglichst gründlich die Spur zu verwischen, daß es sich um eine simple Übertragung aus einem schon gedruckten italienischen Original handelt, der Vermerk beigefügt, Vespucci habe das Werk in französischer Sprache übersandt und erst der »insignis poeta« Johannes Basinus (Jean Basin) habe es »ex gallico«, aus dem Französischen, in ein vornehmes Latein übertragen (»qua pollet elegantia latina interpretavit«). Bei näherer Betrachtung erweist sich dieser ehrgeizige Betrug als ziemlich durchsichtig, denn der »insignis poeta« hat viel zu flüchtig gearbeitet, um alle die Stellen zu verwischen, die deutlich auf die italienische Herkunft hinweisen. Er läßt Vespucci dem König Renatus in Lothringen Dinge erzählen, die allenfalls für Medici oder Soderini Geltung haben konnten, z. B., daß sie beide zusammen in Florenz bei seinem Onkel Antonio Vespucci studiert hätten. Oder er läßt ihn von Dante als »poeta nostro« sprechen, was selbstverständlich nur denkbar war, wenn ein Italiener einem Italiener schrieb. Aber es wird Jahrhunderte dauern, ehe dieser Betrug – an dem Vespucci so unschuldig ist wie an allem andern – aufgedeckt wird. Und durch Hunderte Werke (bis auf die allerneueste Zeit) betrachtet man diese vier Reiseberichte als tatsächlich an den Herzog von Lothringen[46] gerichtet; aller Ruhm und alle Schmach des Vespucci türmt sich auf das Fundament dieses einen in einem Winkel der Vogesen ohne sein Wissen gedruckten Buches.
Aber all das sind Hintergründe und Geschäftspraktiken, von denen die Zeit nichts weiß. Die Buchhändler, die Gelehrten, die Fürsten, die Kaufleute sehen nur eines Tages auf der Buchmesse am 25. April 1507 ein Werk von zweiundfünfzig Blättern erscheinen, das den Titel führt: ›Cosmographiae introductio. Cum quibusdam geometriae ac astrouomiae principiis ad eam rem necessariis. Insuper quatuor Americi Vespuccii navigationes. Universalis cosmographiae descriptio tam in solido quam plano eis etiam insertis quae in Ptolomeo ignota a nuperis reperta sunt‹. (Einführung in die Kosmographie mit den dazu nötigen Grundprinzipien der Geometrie und Astronomie. Dazu die vier Reisen Amerigo Vespuccis, ferner eine Beschreibung [Karte] des Weltalls sowohl in flacher als in Globusform von all jenen Teilen, die Ptolemäus unbekannt gewesen und in jüngster Zeit entdeckt wurden.)
Wer dieses kleine Bändchen aufschlägt, muß zuerst die poetische Eitelkeit der Herausgeber über sich ergehen lassen, die ihre poetischen Talente zur Schau stellen wollen; ein kurzes lateinisches Widmungsgedicht von Matthias Ringmann an den Kaiser Maximilian und eine Vorrede von Waldseemüller-Hylacomylus an den Kaiser, dem er das Buch zu Füßen legt; erst nachdem die[47] beiden Humanisten ihrer lieben Eitelkeit gefrönt haben, beginnt der gelehrte Text des Ptolemäus, dem sich nach einer kurzen Ankündigung die vier Reisen des Vespucci anschließen.
Mit dieser Publikation in St-Dié ist der Name Amerigo Vespuccis wieder ein ungeheures Stück nach oben gestiegen, freilich der Gipfel noch nicht erreicht. In der italienischen Anthologie ›Paesi nuovamente retrovati‹ war sein Name noch in ziemlich zweideutiger Form als der des Entdeckers der »neuen Welt« auf dem Titelblatt gestanden und im Text seine Reisen jenen des Columbus und anderer Seefahrer noch zur Seite gestellt. In der ›Cosmographiae Introductio‹ ist der Name Columbus schon nicht mehr erwähnt – ein Zufall dies vielleicht, verschuldet durch Unkenntnis der vogesischen Humanisten, aber ein verhängnisvoller Zufall. Denn alles Licht, alles Verdienst der Entdeckung fällt dadurch breit und grell auf Vespucci, und auf Vespucci allein. Im zweiten Kapitel heißt es bei der Beschreibung der dem Ptolemäus schon bekannten Welt, daß sie zwar von andern in ihrer Ausdehnung erweitert worden, nun aber erst von Americo Vesputio wahrhaft zur Kenntnis der Menschheit gebracht (nuper vero ab Americo Vesputio latius illustratam). Im fünften Kapitel wird er ausdrücklich als Entdecker dieser neuen Zonen anerkannt »et maxima pars Terrae semper incognitae nuper ab Americo Vesputio repertae«. Und plötzlich blitzt in dem siebenten Kapitel zum erstenmal jene Anregung auf, die für Jahrhunderte bestimmend werden soll. Wie Waldseemüller den vierten Teil[48] der Erde, »quarta orbis pars«, erwähnt, fügt er als seinen persönlichen Vorschlag bei, »quam quia Americus invenit Amerigem quasi Americi terram, sive Americam nuncupare licet«, »den man, da Americus ihn gefunden, die Erde des Americus oder America von heute an nennen könnte«.
Diese drei Zeilen sind der eigentliche Taufschein Amerikas. Auf diesem Quartoblatte ist zum erstenmal der Name in Lettern gegossen und im Druck vervielfältigt. Wenn man den 12. Oktober 1492, da vom Deck der ›Santa Maria‹ Columbus die Küste von Guanahani aufschimmern sieht, als den eigentlichen Geburtstag des neuen Kontinents bezeichnen kann, so muß man diesen 25. April 1507, da die ›Cosmographiae Introductio‹ die Presse verläßt, seinen Tauftag nennen. Es ist zwar nur ein Vorschlag, den dieser bisher namenlose siebenundzwanzigjährige Humanist in dem abgelegenen Städtchen macht, aber sein eigener Vorschlag entzückt ihn dermaßen, daß er ihn ein zweitesmal noch eindringlicher wiederholt. Im neunten Kapitel führt Waldseemüller seine Anregung in einem eigenen Absatz aus. »Heute sind«, schreibt er, »diese Teile der Erde (Europa, Afrika und Asien) bereits vollkommen erforscht und ein vierter Weltteil von Amerigo Vespucci entdeckt. Und da Europa und Asien weibliche Namen empfangen haben, sehe ich keinen Einwand, diese neue Region nicht Amerigo, das Land Amerigos oder America nach dem weisen Manne zu nennen, der es entdeckt hat.« Oder in seinen eigenen lateinischen Worten: »Nunc vero et, hae partes sunt[49] latius lustratae et alia quarta pars per Americum Vesputium (ut in sequentibus audietur) inventa est, quam non video cur quis iure vetet ab Americo inventore sagacis ingenii viro Amerigem quasi Americi terram sive Americam dicendam; cum et Europa et Asia a mulieribus sua sortita sunt nomina.« Gleichzeitig läßt Waldseemüller dieses Wort »America« an den Rand des Absatzes drucken und zeichnet es überdies in die dem Werke beigelegte Weltkarte ein. Ohne daß er es ahnt, trägt seit dieser Stunde der sterbliche Amerigo Vespucci die Aureole der Unsterblichkeit über seinem Haupt; Amerika heißt seit dieser Stunde zum erstenmal Amerika und wird es heißen für alle Zeiten.
Aber das ist ja absurd, entrüstet sich vielleicht ein aufgeregter Leser. Wie kann dieser siebenundzwanzigjährige Provinzgeograph sich erfrechen, einem Manne, der Amerika nie entdeckt und im ganzen zweiunddreißig Seiten ziemlich anzweifelhafter Berichte verfaßt hat, die Ehre zuzuweisen, den ganzen riesigen Kontinent nach sich benannt zu sehen? Jedoch diese Entrüstung ist eine anachronistische; sie denkt nicht aus der historischen Situation, sondern aus unserer Optik. Wir Menschen von heute verfallen instinktiv in den Fehler, wenn wir das Wort »Amerika« aussprechen, unwillkürlich an den gewaltigen Erdteil zu denken, der von Alaska bis nach Patagonien reicht. Von dieser Ausdehnung des neugefundenen »Mundus Novus« hatte anno 1507 weder der brave Waldseemüller noch irgendein anderer[50] Sterblicher die geringste Ahnung, und ein Blick auf die Karten um Beginn des sechzehnten Jahrhunderts zeigt, was sich die damalige Kosmographie unter dem »Mundus Novus« ungefähr vorstellte. Da schwimmen inmitten der dunklen Suppe des Weltmeers ein paar ungefüge Brocken Land, nur an den Rändern ein wenig angeknabbert von der Neugier der Entdecker. Das winzige Stück Nordamerika, wo Cabot und Cortereal gelandet, ist noch an Asien angeklebt, so daß man in der damaligen Vorstellung von Boston nach Peking nur wenige Stunden brauchte. Florida liegt als große Insel neben Cuba und Haiti, und an der Stelle der Landenge von Panama, die Nordamerika und Südamerika verbindet, flutet ein breites Meer. Südlich davon ist nun dies neue unbekannte Land (das heutige Brasilien) als eine Art Australien, eine große runde Insel, eingezeichnet; sie heißt auf den Karten Terra Sancta Crucis oder Mundus Novus oder Terra dos Papagaios – alles dies unbequeme, unhandliche Namen für ein neues Land. Und da Vespucci diese Küsten zwar nicht als erster entdeckt, aber – dies weiß Waldseemüller nicht – zuerst beschrieben und Europa bekannt gemacht, folgt er nur einem allgemeinen Brauch, wenn er Amerigos Namen vorschlägt. Bermuda heißt nach Juan Bermudez, Tasmanien nach Tasman, Fernando Po nach Fernando Po – warum sollte dies neue Land nicht nach seinem ersten Vulgarisator genannt werden? Es ist eine freundliche Geste der Erkenntlichkeit gegenüber einem Gelehrten, der als erster – dies Vespuccis[51] historisches Verdienst – die These vertreten, daß dies neugefundene Land nicht Asien zugehöre, sondern »quartam pars mundi«, einen neuen Weltteil darstelle. Daß er mit dieser gutgemeinten Zuweisung Vespucci statt bloß dieses vermutliche Inselland Terra Sancta Crucis einen ganzen Erdteil von Labrador bis hinab nach Patagonien zuteilen wird und damit Columbus, den wahren Entdecker dieses Kontinents, um sein Eigentum bestiehlt, davon hat der gute Waldseemüller keine Ahnung. Aber wie sollte er auch dies ahnen, da doch Columbus es selbst nicht ahnt, sondern hitzig und aufgeregt beschwört, Cuba sei China und Haiti Japan? Ein neuer Faden Irrtum hat sich mit dieser Benennung America in den schon ziemlich verwirrten Knäuel verwickelt; jeder der auch in gutwilligster Absicht an das Problem Vespucci rührt, hat bisher immer nur noch einen neuen Knoten hineingeflochten und es damit noch unlösbarer gemacht.
Es ist also eigentlich nur einem Mißverständnis zu danken, daß Amerika Amerika heißt, und überdies noch einem doppelten Zufall. Denn hätte es dem »insigni poetae« Jean Basin beliebt, den Namen Amerigo so, wie es die anderen taten, ins Lateinische mit Albericus statt mit Americus zu übersetzen, so lägen New York und Washington heute in Alberica und nicht in Amerika. Aber nun ist der Name zum erstenmal in Lettern gegossen, die sieben Lettern für alle Zeiten zum Wort vereinigt, und wandert so von Buch zu Buch, von[52] Mund zu Mund, unaufhaltsam, unvergeßbar. Es steht, es besteht, das neue Wort, und nicht allein durch den zufälligen Vorschlag Waldseemüllers, nicht durch Logik oder Unlogik, Recht oder Unrecht, sondern durch die ihm innewohnende phonetische Kraft. Amerika – das Wort schwingt an und schwingt aus mit dem volltönendsten Vokal unserer Sprache, es mengt die andern abwechslungsreich ein. Es ist gut für den begeisterten Ruf, klar für das Gedächtnis, ein kräftiges, volles, männliches Wort, wohlgeeignet für ein junges Land, ein starkes, aufstrebendes Volk; unbewußt hat der kleine Geograph mit seinem historischen Fehlgriff etwas Sinnvolles geschaffen, da er die aus dem Dunkel aufsteigende Welt mit diesem Bruderwort zu Asien, Europa und Afrika benannte.
Es ist ein eroberndes Wort. Es hat Gewalt in sich, es drängt ungestüm all die andern Bezeichnungen fort – ein paar Jahre nur seit dem Erscheinen der ›Cosmographiae Introductio‹, und es hat die Namen »Terra dos Papagaios«, die »Isla de Santa Cruz«, »Brazzil«, die »Indias Occidentales« in den Büchern und auf den Weltkarten ausgelöscht. Ein eroberndes Wort; von Jahr zu Jahr reißt es mehr an sich, tausendmal, hunderttausendmal mehr als der gute Martin Waldseemüller je geträumt. 1507 meint »Amerika« nur die brasilianische Nordküste, und der Süden mit Argentinien heißt noch »Brasilia Inferior«. Wäre es dabei geblieben (im Sinne Waldseemüllers), daß bloß diese eine Küste, die Vespucci zuerst beschrieben, ja daß selbst ganz[53] Brasilien Amerigos Namen erhalten hätte, niemand würde ihn eines Fehlgriffs beschuldigen. Aber ein paar Jahre später, und schon hat der Name Amerika die ganze brasilianische Küste und Argentinien und Chile an sich gerissen, also Gegenden, die der Florentiner nie erreicht oder erschaut. Alles was immer rechts und links, oben und unten, südlich des Äquators entdeckt wird, verwandelt sich in Vespuccis Land. Schließlich heißt – etwa fünfzehn Jahre nach Waldseemüllers Buch – ganz Südamerika schon Amerika. Alle die großen Kartographen haben kapituliert vor dem Willen des kleinen Schulmeisters in St-Dié – Simon Gryneus in seinem ›Orbis Novus‹, Sebastian Münster in seinen Weltkarten. Aber noch immer ist der Triumph nicht vollkommen. Noch immer hält die grandiose Komödie der Irrungen nicht inne. Noch immer ist auf den Karten Nordamerika von Südamerika abgeschieden als eine andere Welt, teils Asien dank der Unbelehrbarkeit der Zeit zugerechnet, teils durch eine imaginäre Meerenge von Amerigos Kontinent getrennt. Aber endlich begreift die Wissenschaft, daß dieser Kontinent eine Einheit ist von Eismeer zu Eismeer, daß ein einziger Name ihn zusammenfassen muß. Und da erhebt es sich mächtig, das stolze, unbesiegbare Wort, dieser Bastard eines Irrtums und einer Wahrheit, um die unsterbliche Beute an sich zu reißen. Bereits 1515 hatte der Nürnberger Geograph Johannes Schöner in einer kleinen Schrift, die seinen Globus begleitete, »Americam sive Amerigem« als »novum Mundum et quartam orbis[54] partem«, als vierten Weltteil öffentlich proklamiert. Und 1538 zeichnet Mercator, der König der Kartographen, in unserem Sinne den ganzen Kontinent als eine Einheit in seine Weltkarte ein und schreibt den Namen Amerika über beide Teile, A M E über den Norden und R I C A über den Süden. Und seitdem gilt kein Wort mehr als dieses. In dreißig Jahren hat Vespucci den vierten Teil der Erde für sich und seinen Nachruhm erobert.
Diese Taufe ohne Wissen und Zustimmung des Vaters ist eine Episode ohnegleichen in der Geschichte des irdischen Ruhms. Mit zwei Worten, »Mundus Novus«, hat ein Mann sich berühmt, mit drei Zeilen eines kleinen Geographen sich unsterblich gemacht; kaum je hat Zufall und Irrtum eine ähnliche verwegene Komödie zustande gebracht. Aber in dieser Komödie der Irrungen ersinnt die Geschichte, die ebenso grandios in der Tragödie als erfindungsreich in ihren Lustspielen zu sein vermag, noch eine besondere, subtile Pointe. Kaum hat die Anregung Waldseemüllers die Öffentlichkeit erreicht, ist sie schon begeistert akzeptiert. Eine Auflage folgt der anderen, jedes neue geographische Werk übernimmt den neuen Namen »Amerika« nach dem seines »inventors« Amerigo Vespucci, und vor allem sind es die Kartenzeichner, die ihn gehorsam eintragen. Überall ist dieser Name Amerika zu finden, auf jedem Globus, auf jedem Stahlstich, in jedem Buch, in jedem Brief – nur auf einer einzigen Karte nicht, einer Karte, die 1513, also sechs Jahre nach jener[55] ersten Waldseemüllers erscheint, die den Namen Amerika enthielt. Aber wer ist dieser widerspenstige Geograph, der sich unwillig gegen den neuen Namen auflehnt? Groteskerweise niemand anderer als der, der diesen Namen erfunden: Waldseemüller selbst. War ihm bange geworden wie dem Zauberlehrling in Goethes Gedicht, der mit einem Wort den dürren Besen in ein wild hintobendes Wesen verwandelt und dann das andere Wort nicht wußte, um den beschworenen Geist zum Innehalten zu bewegen? War ihm durch irgendeine Mahnung – vielleicht Vespuccis selbst – bewußt geworden, daß er Unrecht gegen Columbus getan, indem er seine Tat auf den Erkenner der Tat übertrug? Man weiß es nicht. Man wird es nie wissen, warum gerade Waldseemüller dem neuen Kontinent den von ihm erfundenen Namen Amerika wieder wegnehmen wollte. Aber schon ist es zu spät für jede Korrektur. Selten holt die Wahrheit die Legende wieder ein. Ein Wort, einmal in die Welt gesprochen, zieht aus dieser Welt Gewalt, es lebt frei und unabhängig von dem weiter, der ihm das Leben gegeben. Vergebens, daß der einzelne kleine Mann, der es zuerst gesagt, das Wort Amerika beschämt wieder unterdrücken und verschweigen will – es schwingt schon in den Lüften, es springt von Letter zu Letter, von Buch zu Buch, von Mund zu Mund, es überfliegt die Räume und die Zeiten, unaufhaltsam und unsterblich, weil zugleich Wirklichkeit und Idee.[56]
Buchempfehlung
Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.
286 Seiten, 12.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro