Das zeitgenössische Gefühl

[73] J'étais le carrefour où tout se rencontrait.

E. V.

La beauté nouvelle dans les nouvelles choses.

E. V.


Die Befreiung Verhaerens aus der Umklammerung der Krise war eine Flucht zu den Wirklichkeiten. Nicht mehr den Blick starr auf sich selbst zu heften, Lust und Qual nach innen zu wühlen, sondern zu den Problemen hinzuwenden in die Welt der Erscheinungen war seine Rettung. Nicht einsam will er nunmehr der Welt gegenüberstehen, sondern vielfach sein, in allem sich verwirklichen, was lebendig ist, was einen Willen, eine Idee, eine Form, irgendein Lebendiges ausdrückt. Nicht nur mit sich selbst, sondern mit der ganzen Welt sich auseinanderzusetzen ist nun seine dichterische Absicht.

Die Wirklichkeiten und gerade unsere Wirklichkeiten waren bisher den lyrischen Dichtern fremd. Es war schon Gemeinplatz geworden, von der Gefahr des Industrialismus, der Demokratie, des Maschinenzeitalters für die Kunst zu sprechen, das unser Leben uniformiere, die Individualitäten abtöte, die Poesie aus den Wirklichkeiten lösche. Alle diese Dichter haben die neuen Schöpfungen, die Maschinen, die Eisenbahn, die gigantischen Städte, den Telegraphen, das Telephon, alle die Errungenschaften der Technik als eine Hemmung des Poetischen empfunden. Ruskin predigte, man solle die Fabriken niederreißen, die Schornsteine vertilgen, Tolstoi weist auf den primitiven Menschen hin, der alle seine Bedürfnisse aus eigener Kraft, unabhängig von den Gemeinsamkeiten, erschafft, und erblickt in ihm das moralische und ästhetische Ideal der Zukunft. In der Dichtung war allmählich das Vergangene identisch mit[73] dem Dichterischen geworden. Man schwärmte für die hellenischen Zeiten, für die Postkutschen und die kleinen, winkligen Gassen, begeisterte sich an allen fremden Kulturen und negierte die gegenwärtige als eine Entartung. Die Demokratie, die alle Verhältnisse nivellierte und selbst den Dichter in den bürgerlichen Beruf des Schriftstellers bannte, schien als soziale Ordnung das Korrelat der Maschinen zu sein, die jede Handfertigkeit unnötig machen durch die konstruktive Geschicklichkeit der Fabriken. Alle die Dichter, die willig die Vorzüge der Technik für den praktischen Gebrauch in Beschlag nahmen, die ungeheure Reisen in minimalen Zeiten zurücklegten, den Komfort des modernen Hauses, den Luxus der Lebensbedingungen, die Honorare und die soziale Unabhängigkeit in Beschlag nahmen, weigerten sich hartnäckig, in diesen Nützlichkeiten auch ein dichterisches Moment, ein Objekt der Begeisterung, Anregung oder Ekstase zu entdecken. Nach und nach war das Dichterische zu etwas dem Nützlichen geradezu Entgegengesetztem geworden, alle Entwicklung schien ihnen gleichzeitig ein Rückgang im kulturellen Sinn.

Die große Tat Verhaerens ist es nun, eine Umwertung des Dichterischen vorgenommen zu haben. In der breiten Masse der demokratischen Ordnung hat er das Erhabene gefunden, Schönheit nicht nur dort, wo sie sich vererbten Begriffen fügt, sondern auch dort, wo sie sich tiefer, noch verdeckt vom Keimblatt des Neuen, erst zu entfalten beginnt. Er hat die Grenzen der lyrischen Kunst unendlich erweitert, dadurch, daß er keine Erscheinung, sofern in ihr ein innerer Sinn und eine Notwendigkeit waltete, ablehnte. Und hat so Ackerboden und Frucht gerade dort gefunden, wo alle anderen an poetischer Saat verzweifelten. Er gerade, der solange in Absonderung sich abgeschnürt hat, empfindet die[74] Kraft und die Fülle der Sozietät, das Dichterische der Kraftvereinigung in den großen Städten und den großen Erfindungen. Seine tiefste Sehnsucht, seine erhabenste Tat ist die lyrische Entdeckung der neuen Schönheit in den neuen Dingen.

Zu dieser Tat konnte er nur durch die Überzeugung gelangen, daß Schönheit nichts Absolutes ausdrückt, sondern ein mit den Verhältnissen und mit den Menschen Veränderliches, daß das Schöne wie alle Dinge, die der Entwicklung unterliegen, in beständiger Wandlung sei. Die Schönheit von gestern ist nicht mehr die Schönheit von heute. Auch die Schönheit ist nicht jener Tendenz der Vergeistigung entgegen, die das charakteristischste Symptom und Resultat aller Kultur ist. Die Physiologen haben nachgewiesen, daß die körperliche Kraft des modernen Menschen geringer sei als die seiner Voreltern, sein Nervensystem aber vermehrt, daß also Kraft immer mehr zu einem Geistigen sich verdichte. Der Heros der Griechen war der Ringkämpfer, der Ausdruck eines harmonisch durchbildeten Körpers, die Vollendung von Kraft und Geschicklichkeit; der Heros unserer Zeit ist der Denker, das Ideal geistiger Kraft und Geschmeidigkeit. Und da wir die Vollendung der Dinge immer nur nach dem Ideal unserer persönlichen Empfindung zu bewerten vermögen, hat auch die Schönheitsform eine Wandlung ins Geistige erfahren. Selbst wo wir sie im Körperlichen suchen, wie etwa im Ideal der Frauengestalt, haben wir uns gewöhnt, nicht so sehr in Kraft und Rundung, sondern in einem edlen, schlanken Linienspiel, das irgendwie ein Seelisches ausdrückt, die Vollkommenheit zu sehen. Immer mehr wendet sich die Schönheit von der Außenfläche, vom Körperlichen nach dem Inneren, zum Seelischen. In dem Maße, als der Antrieb sich mehr und mehr verbirgt,[75] die Harmonie nicht sinnfällig wird, intellektualisiert sich die Schönheit. Sie wird für uns nicht so sehr Schönheit der Erscheinung, sondern eine Schönheit der Absicht. Um den Telegraphen oder das Telephon bewundern zu können, genügt uns nicht die äußerliche Form, das Drahtnetz, der Taster, die Schallröhre, sondern die ideelle Schönheit, der Gedanke des Überspringens von Ländern, von ganzen Weltteilen durch einen schwingenden Funken. Die Maschine ist nicht wundervoll durch ihr rasselndes, rußiges, eisernes Gerüst, sondern durch die in dem Körper vergrabene Idee, die sie zur zauberischen Wirksamkeit befähigt. Ein moderner Schönheitsbegriff muß nicht nur sich dem Schönheitsbegriff der Vergangenheit, sondern auch dem der Zukunft anpassen. Und die Zukunft der Ästhetik ist eine Art Ideologie, oder wie Renan es ausdrückt, eine Identität mit den Wissenschaften. Wir werden verlernen, nur sinnlich die Dinge zu begreifen, ihre Harmonie nur an der Außenfläche zu sehen, und werden lernen müssen, ihre geistigen Absichten, ihre innere Form, die seelische Organisation durch die Form als Schönheit zu begreifen.

Denn diese neuen Dinge sind nur häßlich, wenn sie mit dem Blick des vergangenen Jahrhunderts gesehen werden, wenn unser Zeitalter sich jene Überschätzung der Pietät bewahrt, die sie das moderne Kunstwerk mißachten und gleichgültige Kunstwerke der Vergangenheit tausendfach überzahlen läßt. Nur aus diesen Gefühlen heraus ist es möglich, daß die Postkutsche als poetisch, die Lokomotive als häßlich empfunden wird, daß alle die Dichter, die noch nicht frei und unabhängig sehen, in so gehässigem Verhältnis zu unseren Wirklichkeiten stehen oder im besten Falle in einem indifferenten. Nietzsche sagt einmal so schön: »Meine Formel für die Größe am Menschen ist amor fati: daß man nichts[76] anders will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Notwendige nicht bloß ertragen, noch weniger verhehlen – aller Idealismus ist Verlogenheit vor dem Notwendigen – sondern es lieben.« Und so haben einige Wenige in unseren Tagen das Neue geliebt, zuerst als Notwendigkeit, dann als Schönheit. Carlyle predigte vor Jahrzehnten schon den Heroismus des Alltags, die Mahnung an die Dichter, sie sollten nicht mehr aus Chroniken Größen schildern, sondern sie suchen, wo sie ihnen am nächsten seien, in den Wirklichkeiten. Constantin Meunier hat aus der Demokratie die Idee einer neuen Plastik gewonnen, Whistler, Monet in dem Dunst der Großstädte, im Atem des Maschinenzeitalters einen neuen Farbton entdeckt, der nicht weniger schön ist als das ewige Blau Italiens und der halkyonische Himmel Griechenlands. Walt Whitman hat nur aus den großen Versammlungen, aus den ungeheuren Dimensionen der neuen Heimat die Kraft und Gewalt seiner Stimme gewonnen. Die ganze Schwierigkeit, daß sich aber noch immer so wenige gefunden haben, der neuen Schönheit in den neuen Dingen zu dienen, liegt darin, daß gerade unser Zeitalter noch nicht eine Epoche der Entscheidungen, sondern erst die eines Überganges ist. Noch haben die Maschinen nicht vollkommen gesiegt, noch lebt das Handwerk neben ihnen, noch blühen die kleinen Städte, noch immer ist es möglich, zur Idylle zu flüchten, in einem versteckten Winkel die alte Schönheit zu finden. Erst wenn dem Dichter jede Flucht zu den vererbten Idealen versperrt sein wird, wird er zur Wandlung gezwungen sein. Denn noch haben die neuen Dinge ihre Schönheit nicht organisch entwickelt. Jedes Neue mengt ein Befremdendes, Brutales und Häßliches seinem Auftreten bei, formt sich erst nach und nach zu seinem organischen[77] Sinn ästhetisch um. Die ersten Dampfschiffe, die ersten Lokomotiven, die ersten Automobile waren häßlich. Aber die schlanken, geschmeidigen Torpedoboote von heute, die farbigen, in sich geschlossenen, lautlos gleitenden Automobile, die großen breitbrüstigen Pacific-Railway-Maschinen von heute imponieren selbsttätig durch ihre äußere Form. Die großen Warenhäuser, etwa wie sie Messel in Berlin baute, entfalten eine Schönheit in Eisen und Glas, die vielleicht nicht geringer ist als die der Kathedralen und Paläste von einst. Gewisse große Dinge, wie der Eiffelturm, die Firth-Bridge, die modernen Kriegsschiffe, die feurigen Hochöfen, die Boulevards von Paris haben eine neue Schönheit, der die Vergangenheiten nichts an die Seite zu stellen wissen. Einerseits durch die innere Absicht, andererseits durch die demokratische Grandiosität, die ungeheuren Dimensionen – die nur von den allergrößten Werken des Altertums erreicht werden – erzwingen sich die neuen Dinge eine neue Steigerung. Was aber schön ist, muß früher oder später dichterisch begriffen werden. Und so war Verhaeren sicherlich nur einer der ersten Brückenbauer von der alten zur neuen Zeit, andere werden kommen, die die neuen Schönheiten in den neuen Dingen feiern werden, die Riesenstädte, die Maschinen, den Industrialismus, die Demokratie, dieses feurige Streben nach neuen Größen, und sie werden nicht nur die neuen Schönheiten finden müssen, sondern auch neue Gesetze für diese neue Ordnung, eine andere Moral, eine andere Religion, eine andere Synthese für dieses andere Beisammensein. Die dichterische Umwertung des Schönen ist nur ein Anbeginn für die dichterische Umwertung des Lebensgefühles.

Jeder Dichter aber wird in den Dingen immer nur sein Temperament entdecken. Ist er melancholisch, so[78] wird die Welt in seinen Büchern sinnlos, alle Lichter löschen aus, das Lachen stirbt; ist er leidenschaftlich, so brodeln alle Gefühle wie in einem Kessel in feuriger Gischt und schäumen in zornigen Geschehnissen auf. Während die wirkliche Welt vielfältig ist und gleichsam nur als Elemente die Elixiere von Lust und Schmerz, Vertrauen und Verzweiflung, Liebe und Haß in sich enthält, so ist die Welt der großen Dichter die Welt eines einzigen Gefühles. Und so sieht Verhaeren auch alle Dinge in ihrer neuen Schönheit nur mit seinem eigenen Lebensgefühl, nur mit Energie. In diesen seinen feurigen Mannesjahren sucht er nicht die Harmonie, sondern die Energie, die Kraft. Ihm ist ein Ding um so schöner, je mehr es Absicht, Wille und Kraft, je mehr es Energie enthält. Und da die ganze Welt von heute überhitzt ist von Anstrengung und Energie, da die großen Städte nichts anderes sind als ungeheure Zentren von vielfältiger Energie, da die Maschinen nichts anderes ausdrücken als gebändigte organisierte Kraft, da hier unzählbare Mengen sich vereinen zu gemeinsamer Tat, so ist ihm die Welt voll von Schönheit. Er liebt die neue Zeit, weil sie Anstrengung nicht vereinzelt, sondern kondensiert, weil sie sich nicht zersplittert, sondern zu Taten zusammenrafft. Und mit einem Male erscheint ihm alles vor seinem Blick beseelt. Alles was Willen hat, was sich ein Ziel setzt, der Mensch, die Maschine, die Masse, die Stadt, das Geld, alles was schwingt, arbeitet, hämmert, wandert, jubelt, alles was sich fortpflanzt, vermehrt, was Schöpfung werden will, alles was in sich Feuer, Ansprung, Elastizität und Gefühl hat, klingt wider in seinen Versen. Alles was früher tot, kalt und feindlich gegen ihn gewirkt hatte, bekommt Willen und Energie, lebt seine Minute; nichts ist nur Staub oder nutzloser Schmuck[79] in diesem vielfältigen Räderwerk, alles ist Schöpfung, alles wirkt dem Zukünftigen entgegen. Die Stadt, die babylonische Türmung von Steinen und Menschen, wird auf einmal ein Lebewesen, ein Vampir, der die Kraft des Landes aussaugt; die Fabriken, die ihm früher nur häßliches Mauerwerk schienen, werden Schöpfer von tausend Dingen, die wieder Neues aus sich zeugen. Mit einem Male ist Verhaeren der soziale Dichter, der Dichter des Maschinenzeitalters, der Demokratie und der europäischen Rasse. Und Energie erfüllt auch sein Gedicht, es ist entfesselte Kraft, Enthusiasmus, Paroxysmus, Ekstase, wie immer man es nennen mag, aber immer tätige, glühende, bewegte Kraft, nie Ruhe, immer tätig. Sein Gedicht ist nicht mehr Deklamation, nicht mehr marmornes Grabmal einer Stimmung, sondern Schrei, Kampf, Aufzucken, Niederducken und Wiederaufspringen, es ist materialisierter Kampf. Alle Werte haben sich für ihn verändert. Gerade das, was ihn früher am meisten abgestoßen hat, London, die Riesenstadt, die Bahnhöfe, die Börse, lockt ihn nun am meisten als dichterisches Problem. Je mehr ein Ding der Schönheit zu widerstreben schien, je mehr er durch Kampf, durch qualvolles Ringen sich seine Schönheit erst entdecken mußte, um so ekstatischer preist er es nun. Die Kraft, die gegen sich selbst mörderisch gewütet hatte, bricht nun jubelnd und schöpferisch in die Welt. Am Niederringen des Widerstandes, an diesem Aufreißen der Schönheit aus ihrem verborgensten Winkel, ist ihm zehnfache Kraft und Lust des Schaffens geworden. Verhaeren schafft nun das Großstadtgedicht im dionysischen Sinn, den Hymnus an unsere Zeit, an Europa, die immer wieder erneute Ekstase an das Leben.[80]

Quelle:
Insel Verlag, Leipzig, 1913, S. 73-81.
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