Die Menge

[94] Mets en accord ta force avec les destinées

Que la foule, sans le savoir,

Promulgue en cette nuit d'angoisse illuminée!

E. V.


Das große Geschehnis der modernen Stadt war im Grunde nur möglich durch die Organisation der gewaltigen Volksmenge und die Verteilung ihrer Kräfte. Organisieren heißt, disparate Kräfte sparsam zu einem Organismus verarbeiten, ein Belebtes und Beseeltes nachzuahmen, in dem nichts überflüssig und nichts notwendig ist, einem Material seine einheitliche Kraft, einem Gedanken das Fleisch und Bein seiner Form und Möglichkeit zu geben. Die Stadt nun hat die zerstreuten Kräfte des Landes zu einem neuen Material umgeschmolzen – zur Menge – sie hat manches, was früher individuell tätige Kraft war, verwandelt in materielle, den Menschen erniedrigt zu einem Handgriff, einem rollenden Rad, sie hat überall die Individualität des Einzelnen unterbunden, um eine neue Individualität, die der Masse, zu erzeugen. Denn die Menge als Tatsache ist ein Neues. Jahrhundertelang war sie nur ein Symbol, ein Begriff. Man faßte logisch die Einwohnerzahl von ganzen Ländern zusammen, aber man fühlte, man umfaßte nie ihr unmittelbares Beieinandersein. Zwar: man hat vordem auch schon große Armeen gekannt, Kriegshaufen und Nomadenvölker, dies waren aber flüchtige Konzentrationen, zu wenig seßhaft, zu wenig stetig, um aus sich eine Individualität, einen ästhetischen und moralischen Wert erzeugen zu können. Und selbst die Armeen, deren Größe legendär wurde durch Jahrhunderte, die Heereshaufen Tamerlans, die[94] Kriegsvölker der Perser, die Legionen Roms, wie arm ist ihre Zahl gegen die Masse von Menschen, die in New York oder London oder Paris täglich beisammen ist. Erst in unseren Tagen, erst in Oppidomagnum ist die Menge ewig aneinander geschmiedet, aneinander mit stählernen Bändern verhakt wie die Räder einer ungeheuren Maschine; hier erst ist sie ein lebendiges Wesen, das wächst und sich vermehrt wie ein Wald. Die Demokratie hat ihr geistig neue Formen gegeben, ein Gehirn dem Körper eingesetzt, indem sie die Menge selbst bestimmt machte, nur sich selbst unterworfen. Sie ist eine Schöpfung des neunzehnten Jahrhunderts, sie ist ein neuer Wert in unserem Leben, mit dem man sich abfinden muß, kein geringerer Wert für unsere Entwicklung als die höchsten der Vergangenheit. Walt Whitman, auf den man beim Werke Verhaerens immer hinweisen muß, obwohl – wie es hier ausdrücklich vermerkt sei – Verhaeren gänzlich unabhängig und unbewußt zu gleichen Zielen vom gleichen Ausgangspunkt gelangte, hat einmal gesagt: »Die moderne Wissenschaft und die Demokratie scheinen mir beide die Poesie gleichsam herauszufordern, ihrer beider Wesenheit zu offenbaren im unterscheidenden Gegensatze zu den Mythen und Gesängen der Vergangenheit.« Und jeder moderne Dichter wird sich mit der demokratischen Masse abfinden müssen, wird sie synthetisch wie ein einzelnes Lebewesen, wie einen Menschen oder einen Gott betrachten müssen. Verhaeren hat in seinem utopischen Drama »Les Aubes« sie, »la foule«, unter die Reihen der Gestalten gestellt und, um seine innere Vision auszudrücken, die technische Bemerkung hinzugereiht: »Les groupes agissent comme un seul personnage à faces multiples et antinomiques.« Denn hundertfach wie auf den Bildern der indischen Götter[95] sind ihre Arme, aber einheitlich ihr Schrei, einfach ihr Wille, einförmig ihre Energie, eins ihr Herz, »le cœur myriadaire et rouge de la foule«. Hundert Jahre Gemeinsamkeit, hundert Jahre gemeinsame Not, gemeinsame Hoffnung hat sie zusammengeschweißt zu einem Einheitlichen, zu einem neuen Gefühl. Schlaflos und unruhig wie ein gefährliches Tier liegt sie in den Riesenstädten, alle Leidenschaften des einzelnen Menschen sind die ihren, die Eitelkeit, der Hunger, der Zorn, alle Laster und Verbrechen hat sie gemein mit ihrem kleinsten Gliede, dem Menschen, nur steigert sich bei ihr alles zu unbekannten Größen. Alles wird unerhört überdimensional in ihren Leidenschaften, jenseits der Berechnungen und in einem neuen Sinne göttlich. Denn so wie die Götter von einst nach dem Bilde des Menschen geformt waren, nur daß sie Verhundertfachung ihrer Kraft und Klugheit darstellten, so ist die Menge die Synthese der einzelnen Kräfte, die fruchtbarste Ansammlung der Leidenschaft.

Mit ihr ersteht und ohne sie vergeht der einzelne. Bewußt oder unbewußt ist jeder untertan ihrer Gewalt. Denn der moderne Mensch ist nicht mehr frei vom Einfluß der anderen, wie einst der Mensch der Felder, der Hirt und Jäger, der nur abhängig war vom Zorn des Himmels, den Launen der Erde, von Wetter und Hagelschlag, vom Zufall, den er in das erhabene Bild seines Gottes hüllte. Der moderne Mensch ist in allen seinen Gefühlen von der Umwelt bestimmt, eingereiht in ihr Geschiebe, abhängig in seinen Instinkten. Wir alle fühlen sozial, können die anderen um uns und vor uns nicht wegdenken, ebensowenig wie die Luft, die uns nährt. Wir können sie fliehen, aber nicht dem entfliehen, was von ihnen in uns eingedrungen ist. Denn die Menge beherrscht uns wie[96] eine Naturkraft, nährt uns mit ihren Gefühlen. Der unsoziale Mensch ist eine Fiktion. Ebensowenig, wie man in der Großstadt sein Zimmer ganz abschließen kann vom Lärm, vom Rhythmus der Straße, ebensowenig kann man isoliert denken, ebensowenig kann die Seele sich von den großen geistigen Erregungen der Menge fernhalten. Verhaeren hat es selbst versucht in jenen Zeiten, wo er die Verse schrieb:


»Mon rêve, enfermons nous dans les choses lointaines

Comme en des tragiques tombeaux.«


Aber das wirkliche Leben hat ihn zurückgefordert; denn die Sozietät vernichtet den, der sich von ihr abwendet, wie einen, der sich absperrt von der frischen Luft. Auch der Dichter muß unwillkürlich mit der Menge und an die Menge denken. Denn so sehr die Demokratie nivellierend gewirkt hat, so sehr sie die Individualitäten beschränkt, den Dichter ins Bürgerliche eingereiht, die Kontraste des Zufalls vermindert hat, so sehr hat sie auch neue Kräfte in ihrer Vielheit gezeitigt. Der moderne Dichter kann in ihr alles finden, wofür die früheren sich Göttern entdecken mußten, die Unberechenbarkeit und die Zauberkraft über den Einzelnen. Die Stadt, die Menge nährt seine Energie aus ihrer unendlichen Fülle, sie vervielfacht seine Kraft. Denn in ihr ist alles, was der Einzelne verloren hat, der große Heroismus und die ekstatische Begeisterung. Sie ist die große Quelle des Unerwarteten und Unberechenbaren in unseren Tagen, das Neue, von dem noch keiner weiß, zu welcher Größe es sich gestalten wird. Sie als Bereicherung und nicht als Beschränkung des dichterischen Triebes erkannt zu haben, ist eines der großen Verdienste Verhaerens. Denn während die meisten der Dichter von heute noch die Fiktion der Solitären und Einsamen beibehalten, während sie wie[97] vor Pestkranken zurückschrecken vor der Menge, sich künstlich absondern, während sie verächtlich Vorbeigehen an den Lokomotiven und Telegraphen, an den Banken und Fabriken, trinkt Verhaeren mit Gier aus diesen Quellen der neuen Kraft.


»Comme une vague en des fleuves perdu,

Comme un aile effacé, au fond de l'étendue

Engouffre-toi,

Mon cœur, en ces foules battant les capitales.

Réunis tous ces courants

Et prends

Si large part à ces brusques métamorphoses

Des hommes et des choses

Que tu sens l'obscure et formidable loi

Qui les domine et les opprime

Soudainement, à coup d'éclair, s'inscrire en toi.«


Denn sie, »la foule«, die Menge, ist die große Umwerterin unserer Tage. Sie wandelt die Menschen, die zu ihr vom Lande aus allen vier Richtungen kommen, um in ihrem Beisammensein, keiner von uns entgeht dieser nivellierenden Kraft. Die entferntesten Rassen mischen sich im ungeheuren Behältnis der Stadt, sie passen sich einander an und werden mit einem Male ein Neues, ein Anderes, eine neue Rasse, die neue Rasse des zeitgenössischen Menschen, der sich ausgesöhnt hat mit der Atmosphäre der Großstadt, der nicht nur die Depression ihrer Mauern schmerzlich fühlt und die Entfernung der Natur, sondern aus der vielfachen menschlichen Gegenwart eine neue Kraft und ein neues Weltgefühl sich erzeugt. Eine Beschleunigung der Umwertungen, das ist die Leistung der Masse. Das Individuelle geht unter zugunsten einer Individualität dieser neuen Gemeinschaft. Die alten Gemeinschaften verlieren ihre Einheit, neue müssen erstehen. Amerika[98] ist das erste Vorbild, wo sich aus tausend Völkerkräften eine einzige große Bruderschaft, ein neuer Typus, der amerikanische, in hundert Jahren entfaltet hat, und in unseren Hauptstädten, in Paris, Berlin und London, wachsen schon Menschen auf, die keine Franzosen mehr sind und keine Deutschen, sondern vorerst nur Pariser und Berliner, die eine andere Sprachtönung, eine andere Denkart haben, denen die Großstadt, die Menge zur Heimat geworden ist. Der Großstädter, der demokratische Mensch der Menge, ist eine Erscheinung für sich. Wird er zum Dichter, so muß seine Dichtung sozial sein, wird er zum Denker, so muß die Intelligenz der Masse, der gemeinsame Instinkt der seine sein. Die Psychologie dieser Menge zum ersten Male dichterisch versucht zu haben, ist eine der großen Kühnheiten, für die wir Verhaeren dankbar sein müssen.

Aber diese einzelnen Ansammlungen von Menschen zu einer Menge, diese Vereinungen von Millionen zu Städten sind keine isolierten. Ein Band hält sie alle zusammen, der moderne Verkehr. Die Distanzen der Realität sind geschwunden und mit ihnen auch die nationalen Scheidungen. Neben dem Problem der einzelnen Konglomerate, die nun langsam Organismen werden, neben den einzelnen Rassen, den einzelnen Massen erhebt sich eine größere Synthese, die Synthese der europäischen Rasse. Denn die Menschen auf unserem Kontinent sind sich nicht mehr so fern, nicht mehr so fremd wie einst. Die Sozialdemokratie umspannt mit ihrer Organisation die Massen von einem Ende Europas bis zum anderen. Gleiche Sehnsucht befeuert heute in Paris, London, Petersburg, Wien und Rom die Menschen. Und eine gemeinsame Formel beherrscht schon ihre Bestrebungen: das Geld.[99]


»Races des vieux pays, forces desaccordées

Vous nouez vos destins épars, depuis le temps,

Que l'or mets sous vos fronts le même espoir battant.«


Auf breitem Fundament formt sich über den Ländergrenzen eine einheitliche Rasse, eine neue Gemeinsamkeit, die europäische. Hier greifen hart Wunsch und Wirklichkeit zusammen. Verhaeren sieht Europa bereits vereint durch eine große, gemeinsame Energie. Europa ist ihm das Land der Bewußtheit. Während die anderen Länder noch in traumhafter Ferne ein vegetatives Leben führen, während Afrika und Indien noch träumen wie im Dunkel der Urzeiten, ist Europa »la forge, où se frappe l'idée«, die große Schmiede, in der alle Unterschiede, alle einzelnen Beobachtungen, alle Resultate umgehämmert werden in eine neue Geistigkeit, in das europäische Bewußtsein. Noch ist innerlich die Vereinung nicht vollkommen, noch befeinden die Staaten sich und sind unkund ihrer Gemeinsamkeit, aber schon ist »le monde entier repensé par leurs cervelles«. Schon arbeiten sie an der Umwertung alles Fühlens im europäischen Sinn. Denn eine neue Ethik, eine neue Ästhetik wird der Europäer brauchen, der reich durch die Vergangenheit, stark durch das Gefühl der Menge nun von neuen Massen seine Kraft empfindet. Hier ist der Überklang des Werkes Verhaerens zur Utopie, und in »Les Aubes«, dem Nachspiel der »Villes Tentaculaires«, erhebt sich über die Visionen der Realitäten noch dieses strahlende Regenbogentor zu dem neuen Ideale, über der noch ringenden Gegenwart der prophetische Traum einer besseren Zukunft.

Die Sehnsucht nach dem Europäer hat Verhaeren dichterisch zum ersten Male ausgesprochen, fast gleichzeitig wie Walt Whitman die seine nach dem Amerikaner,[100] wie Friedrich Nietzsche nach dem Übermenschen. Den Paneuropäer gegenüber dem Panamerikaner, diese Antithese durchzuführen wäre verlockend und interessant. Aber es genügt zu sagen, daß Verhaeren als Erster unter den lyrischen Dichtern so bewußt europäisch fühlte, wie Walt Whitman amerikanisch, um ihn schon den wichtigsten Erscheinungen unserer Zeit beizugesellen. Verhaeren hat unter den Dichtern vielleicht als Einziger zeitgenössisch empfunden. Das faßt sein ganzes Verdienst zusammen, denn es drückt schon aus, daß er das Problem der Masse, die Energie der sozialen Neubildungen, die Ästhetik der Organisation, die Grandiosität der maschinellen Betriebe, mit einem Worte die Poesie des Materiellen sich zu eigen machte. In seinen Versen spricht unsere Zeit, die neue Zeit, in ihrer neuen Sprache. Dieser Rhythmus, den er zum ersten Male gefunden hat, ist keine literarische Absonderung, sondern ist tieferer Zusammenhang mit dem Herzschlage der Menge, er ist Wiederklang vom Keuchen unserer Riesenstädte, vom Rattern der Lokomotive, vom Schrei des Volkes; seine Sprache ist anders, weil sie nicht mehr einstimmig ist, sondern die vielen Stimmen der Menge in sich vereint. Stärker ist er eingedrungen in das Gefühl der Massen, stärker wiederklingt ihre Brandung in seinen Versen. Das dumpfe Dröhnen, das Tierische und Ungezügelte ihrer Stimme, die Brandung der Menge ist hier Form und Musik geworden, höchste Identität. Mit Stolz kann man von Verhaeren sagen, was er vom »Kapitän« rühmt: »Il est la foule«, er selbst ist die Menge.[101]

Quelle:
Insel Verlag, Leipzig, 1913, S. 94-102.
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