[10] Es war einmal ein armer, armer Mann, der hatte einen Knaben und wußte nicht, wie er ihn länger erhalten sollte; er führte ihn eines Tages in einen dichten Wald, und als er mit dem Jungen das letzte Stückchen Brot gegessen hatte, schlief dieser ein. Da stand der Vater auf und ging nach Hause, denn er dachte, wenn der Kleine erwacht, wird er sich verirren und nicht nach Hause finden; und so geschah es auch. Als der Knabe die Augen aufschlug und sah, daß sein Vater fort war, machte er sich auf und wollte nach Hause, aber er geriet nur immer tiefer in den Wald, und es wurde schon Abend; er ging und lief voll Angst hin und her; endlich sah er ein kleines Häuschen; hier wollte er Nachtherberge nehmen. Als er eintrat, saß an dem Tisch ein alter blinder Mann und aß Hühnersuppe. Der Knabe war so hungrig, daß er zum Tisch ging, einen Löffel nahm und mit aß. Der blinde Mann aber merkte es und fragte: »Wer ißt von meiner Hühnersuppe?«
»Ich bin's, lieber Großvater«, rief der Knabe, »denn ich habe gar großen Hunger!« Da freute sich der Alte und sprach: »Ich habe lange auf dich gewartet, du sollst es gut haben bei mir!«
Nach dem Essen machte er ihm ein weiches Bettchen, und der Knabe schlief so gut, als wäre er im Himmel. Am folgenden Morgen, als er aufgestanden war, sagte der Alte: »Nun sollst du meine Geißen hüten!« Dazu war der Knabe willig und bereit, und als er abends nach Hause kam, aß er mit dem blinden Großvater wieder Hühnersuppe, und die schmeckte sehr gut. Nun hütete er zwölf Jahre lang, einen Tag wie den andern, die Geißen, und der Alte war mit dem Jungen wohl zufrieden. Da gab er ihm eines Tages ein Schwert und sprach: »Damit kannst du alles erhauen!« Als er die Geißen wieder auf die Weide trieb und sehr weit ziehen mußte, denn sie hatten ringsherum alles abgefressen, kam er in einen Wald, wo die Bäume und Blätter von blinkendem Kupfer waren. Indem er darüber staunte, fuhr der Kupferdrachen herbei und rief: »Heda, du Menschenkind, willst du mit deinen Geißen meinen Wald verätzen?« und wollte ihn gleich verschlingen; aber der Knabe nahm sein Schwert und hieb dem Drachen alle Häupter herunter. Darauf ging er in das Schloß, und da war alles von Kupfer, aber nichts Lebendes zu sehen und zu hören; an der Wand hing ein kupferner Zaum, den nahm er mit sich. Abends trieb er die Geißen heim, und sie gaben viel mehr Milch als vorher. Er erzählte darauf dem Alten, wie er den Drachen erschlagen und sich einen kupfernen Zaum aus dessen Schlosse gebracht habe. »Und das ist das Beste aus dem Schlosse«, sprach der Alte, »denn wenn du den Zaum schüttelst, so erscheint gleich ein Heer Soldaten in kupferner Rüstung, so groß, als du es wünschest!« Am andern Tag trieb er seine Geißen noch weiter, und er kam in einen Wald, da waren die Bäume und Blätter aus blankem Silber, und das glänzte und glitzerte sehr. Indem er dastand und sich verwunderte, kam der Silberdrache herbei und rief: »Heda, du Menschenkind, willst du mit deinen Geißen meinen Wald verätzen?« und wollte ihn sogleich verschlingen; aber der Knabe schwang sein Schwert und hieb ihm alle Häupter ab. Nun ging er in das Schloß, und darin war alles von blankem Silber; aber keine lebendige Seele war drinnen; an der Wand hing ein silberner Zaum, den nahm er mit. Als er am Abend die Geißen heim trieb, gaben sie dreimal so viel Milch als am vorigen Abend, und er erzählte dem Alten wieder, wie er den Silberdrachen erschlagen und sich den silbernen Zaum mitgebracht habe. »Und das ist das Beste aus dem Schlosse«, sprach der Alte, »denn wenn du den Zaum schüttelst, so erscheint gleich ein Heer Soldaten in silberner Rüstung, so groß als du es wünschest.« Am dritten Tage trieb er die Geißen noch weiter und gelangte in einen Wald, wo die Bäume und Blätter von purem Gold waren. Das war eine Herrlichkeit! Wie das glitzerte und glänzte! Indem er das alles so ansah, kam nur einmal der Golddrache und rief: »Heda, du Menschenkind, willst du mit deinen Geißen meinen Wald verätzen?« und wollte ihn verschlingen; aber der Knabe schwang sein Schwert und schlug dem Drachen auf einmal alle Häupter ab. Dann ging er in das Schloß, und da war alles von purem Gold und ach so schön, so schön! aber nichts Lebendiges sah und hörte man; an der Wand hing ein goldner Zaum, den nahm er mit. Als er die Geißen am Abend heimtrieb und melkte, so gaben sie neunmal so viel Milch als am vorigen Abend. Nun erzählte er dem Alten, wie er den Golddrachen getötet und den goldnen Zaum aus dem Schlosse sich mitgebracht habe. »Und das ist das Beste!« sprach der Alte, »denn wenn du den Zaum schüttelst, so erscheint gleich ein ganzes Heer Soldaten in goldner Rüstung.«
Am folgenden Tage sprach der Alte: »Gib mir zurück das Schwert; es hat jetzt seinen Dienst getan und seine Kraft bewährt; mit den drei Zäumen kannst du jetzt ausziehen und die jüngste und schönste von den Königstöchtern dir erwerben!« Das war dem Knaben ganz recht, und er schickte sich zur Reise. Bevor er aber abzog, führte ihn der Alte in einen dunklen Felsen; darin sprang ein Brunnen hoch auf: »Noch muß ich dein Haupt waschen!« und benetzte seine Haare mit der springenden Flut, und als der Junge hinaus in die Sonne trat, so waren sie lauter Gold und glänzten, daß es eine Freude war. »Jetzt kannst du ziehen; aber halte dein Haupt immerfort bedeckt, daß niemand deine Haare sieht!« Der Junge gelangte bald in die Königsstadt, versteckte seine drei Zäume unter einem Baum und fragte am Hof, ob der König keinen Diener brauche. Nun fehlte gerade ein Küchenjunge, und so wurde er als solcher in den Dienst genommen; doch machte er die Bedingung, er solle seine Mütze nie abnehmen dürfen, denn er habe einen bösen Grind. Er zeigte sich aber so geschickt, daß der Koch ihn sehr lieb gewann und zu allerlei anstellte. Der König hatte drei wunderschöne Töchter; von diesen war aber die jüngste am allerschönsten. Da trug es sich zu, daß diese einmal erkrankte und im Bette lag. Während der König und seine ältern Töchter in der Kirche waren, schickte der Koch den Jungen mit Suppe zur kranken Königstochter. Da sah ihn diese genau an, sprach mit ihm, und es wurde ihr auf einmal so wohl, als sei sie gesund. Da nahte die Zeit, wo viele junge Grafen und Fürsten an den Hof kamen und um die Königstöchter warben; um die jüngste aber drehten sich die meisten, sie aber sah keinen mit geneigtem Blicke an. Ihre Schwestern reichten ihre Hand bald zwei Fürsten, und da drängte und beschwor sie ihr Vater, sie solle nun auch einen Fürsten nehmen, und als sie nicht mehr ausweichen konnte, sagte sie: »Den Küchenjungen will ich nehmen, aber nie und nimmer einen andern!« Als das der König hörte, erschrak er so sehr, daß ihm eine Zeitlang die Sprache verging; dann aber fing er in seinem Zorne so heftig an zu wüten, daß er seine Tochter in Banden schlagen und in einen Turm sperren ließ. Nicht lange darauf ward der König in einen Krieg verwickelt; die beiden Fürsten, seine Eidame, mußten ihm auch helfen und mit in den Kampf ziehen. Der Küchenjunge bat den Koch, er möge ihm erlauben, in die Nähe zu gehen, daß er sehe, wie es im Kriege sei.
Der Koch gewährte ihm's, denn er hatte ihn sehr lieb. Nun ging der Knabe hin zu der Stelle, wo die Zäume waren, nahm den kupfernen hervor und schüttelte ihn. Da kamen eine Menge Krieger hervor, so viele als Blätter sind im Wald, und alle glänzten in kupferner Rüstung, und vor dem Jungen stand gleich ein gesatteltes Roß mit der Rüstung für ihn; die legte er schnell an, und im Hui ging es zur Schlacht. Der König und seine Schwiegersöhne waren aber geschlagen worden und wandten sich schon zur Flucht; da stellte der Junge den Kampf wieder her, und bald war der Feind gänzlich besiegt. Nun aber eilte der Junge, noch ehe der König ihm danken konnte, mit seiner Schar von dannen, kam zum Baum geritten, legte den Zaum in seine Stelle, und das ganze Heer war sogleich verschwunden. Als der König und seine Leute heimkehrten, so erzählten sie Wunder von dem Heere, das ihnen in der höchsten Not zu Hilfe geeilt, und von dessen Führer, und es war ihnen nur leid, daß er dann sogleich verschwunden wäre. Der König mußte bald wieder in einen Krieg. Da zog der Küchenjunge abermals hin, nachdem er dem Koch gesagt hatte, er wolle aus der Ferne zusehen. Er ging aber zu der Stelle, wo die Zäume lagen und holte jetzt den silbernen hervor und schüttelte ihn. Da kamen Soldaten hervor, unzählige, der Erden schwer, und alle glänzten in silberner Rüstung, und vor dem Jungen stand ein gesatteltes Pferd mit der Rüstung für ihn; die legte er schnell an, und im Hui ging es zur Schlacht; der König war jetzt schon geschlagen und floh; da kehrte der Junge ihn und die Fliehenden um, fing den Kampf von neuem an, und der Feind wurde niedergeschmettert. Der König wollte schnell zum jungen Heldenanführer hinanreiten, um ihm zu danken; allein der war nach vollbrachter Tat mit seinen Scharen gleich fort; er ritt zu der Stelle, wo die Zäume waren, legte den silbernen hin, und sogleich war das Heer verschwunden. Als der König und seine Leute heimkehrten, erzählten sie abermals Wunder von dem stattlichen Helden und seinen Scharen in silberner Rüstung, und es war ihnen nur leid, daß sie ihm nicht nachgeeilt, um ihm zu danken und ihn kennenzulernen. Nach einiger Zeit erhob sich abermals ein Feind, und das war der gewaltigste von allen; der König zog mit allen seinen Scharen ihm entgegen. Der Küchenjunge bat sich vom Koch wieder aus, hinzugehen, damit er sehe, wie es im Kriege sei; er kam aber zu der Stelle, wo die Zäume lagen, nahm jetzt den goldnen hervor, schüttelte ihn, und alsbald drängten sich unzählige Soldaten hervor und wimmelten wie Scharen von Heuschrecken, da wo sie sich niederlassen, und alle erglänzten in der goldnen Rüstung, und vor dem Jungen stand ein gesatteltes Roß mit der Rüstung für ihn; die legte er an und ließ jetzt auch sein goldnes Haar unter dem Hut herabwallen, und im Hui ging es zur Schlacht. Schon war der König aufs Haupt geschlagen und sein Heer zersprengt in alle Winde; da rückten die Hilfsscharen ein, griffen den Feind an und vernichteten ihn ganz und gar. Der König wollte seinem Retter danken, aber bis er sich recht umsah, war der auch schon wieder mit all seinen Scharen fort. Daheim nun ließ er ein großes Siegesfest veranstalten, weil nun alle seine Feinde besiegt lagen. Es waren aber so viele Gäste, daß die Diener nicht hinreichten, ihnen aufzuwarten; da mußte der Koch den Küchenjungen auch anstellen. Der König dachte eben an seine liebste Tochter im Turm, und sein Herz war in der Freude versöhnlich gestimmt; er ließ ihr sagen, wenn sie sich jetzt entschließe, einen Fürsten oder Grafen zum Gemahl zu nehmen, so wolle er sie wieder als sein liebes Kind aufnehmen; allein wie sehr auch die Arme im Turm Not litt, schon ein Jahr hatte sie so einsam gelebt und nur Wasser und Brot genossen, sie blieb dem treu, den sie in ihrem Herzen trug, und sprach: »Nie und nimmer einen andern als den Küchenjungen!«
Da fuhr der König in großem Zorn auf, und gerade jetzt trat der Küchenjunge mit einer Schüssel Wildbret zum König und hatte die Mütze auf. »Du Unverschämter wagst es und dazu mit unentblößtem Haupte vor meinem Angesicht zu erscheinen!« Damit erhob er seine Hand und schlug ihm die Mütze vom Haupte, daß sie weithin in eine Ecke flog. Der Junge aber stand auf einmal da in aller Herrlichkeit, und die Goldflocken fielen ihm um das Haupt, und er glänzte wie die Sonne. Da erkannte der König gleich seinen Retter, fiel vor ihm nieder und sprach: »Verzeihung!« Der Junge hob ihn auf, und nun wurde die jüngste Königstochter mit Jubel aus dem dunkeln Turme in den Festsaal gebracht, und das Siegesfest wurde auch zum Hochzeitsfest, und es war große Freude. Nach der Hochzeit zog der Junge mit der schönen Königstochter in den goldnen Wald und nahm Besitz vom goldnen Schloß; den kupfernen und silbernen Wald mit dem kupfernen und silbernen Schlosse schenkte er seinen Schwägern. Den alten blinden Mann aber suchte er vergebens, der war samt dem Häuschen verschwunden, und er konnte sein Lebtag nichts mehr von ihm erfahren.
Buchempfehlung
Während seine Prosa längst eigenständig ist, findet C.F. Meyers lyrisches Werk erst mit dieser späten Ausgabe zu seinem eigentümlichen Stil, der den deutschen Symbolismus einleitet.
200 Seiten, 9.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro