[110] Autodidakt – Das hätte sich der alte Homeros nicht träumen lassen, als er (Od. 22, 347) das Wort autodidaktos prägte: daß dieses Wort eine Geschichte haben würde. Der Sinn bei Homeros ist für uns übrigens nicht ganz klar. Odysseus vollzieht die wilde Rache an den sogenannten Freiern; auch an ihren Hofbedienten. Nur der Kollege des Homeros, der Harfenskalde, »entrann dem schwarzen Verhängnis«. Er fleht um sein Leben mit der Dichterbegründung: Odysseus würde es später bereuen, einen Mann erschlagen zu haben, der ebensogut Odysseus wie irgend einen Gott zu besingen vermöchte (oder ihnen vorzusingen). Autodidaktos d' eimi »Mich hat niemand gelehrt; ein Gott hat die mancherlei Lieder mir in die Seele gepflanzt.« In seiner Todesangst will der Harfner wohl nur auf[110] die gewissermaßen ungeschlechtliche Herkunft seiner Kunst verweisen, will sagen: Dichtkunst kann nicht übertragen, nicht gelernt werden.
Das Wort autodidaktos wurde nachher aber kaum wieder auf die Poesie angewandt, desto häufiger auf die Wissenschaft. Und merkwürdig ist es, daß je nach der Zeitstimmung es ein Lob oder ein Tadel schien, wenn jemand ein Autodidakt genannt wurde. Nur zwei Beispiele. Der gute Krug sagt (im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts) in seinem Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften: »Unter den Philosophen hat es von jeher viele gegeben, die sich für Autodidakten erklärten. Es liegt aber dieser Erklärung nur Einbildung und Eitelkeit zum Grunde... man wird in der Regel finden, daß solche Autodidakten sich nicht gut mitteilen können, weil die Lebendigkeit des mündlichen Vertrags nicht auf ihren Geist eingewirkt... hat. So war Heraklit, der sich ebenfalls einen Autodidakten nannte, auch ein so dunkler Schriftsteller, daß er selbst davon den Beinamen des Dunkeln bekam.« Hundert Jahre früher urteilt Walch, ebenfalls Professor, in seinem philosophischen Lexikon viel vernünftiger. Es gebe dreierlei Autodidakten: 1. In einem ganz weiten Sinne sei jeder ein Autodidakt, der seine durch Unterricht und Lesen erworbenen, also auf Gedächtnis beruhenden Kenntnisse durch Ingenium und Judicium erweitert hat; 2. kann der ein Autodiktat heißen, der ohne Unterricht und ohne Lesen ans Ziel gekommen ist, wie die ersten Erfinder der Wissenschaften und die Staatsmänner; für systematische Wissenschaften »dürften gewiß die Exempel solcher Autodidactorum sehr dünne gesät sein«. 3. Die eigentlichen Autodidacti, Selbstgelehrte oder Selbstlehrlinge, die »nur bloß aus Büchern, ohne einige mündliche Unterrichtung gelehrt und geschickt zu sein vermeinet«. Von vielen sei die Frage aufs Tapet gekommen, was von diesen eigentlichen Autodidactis zu halten sei. Es dürfe aber diese Art, gelehrt zu werden, nicht schlechterdings, nicht bei allen Ingeniis und in allen Wissenschaften verworfen werden. Besonders in der Historie und der Philosophie wäre die Methode ganz gut anwendbar. Ernster[111] sei die andre Frage: »wenn diese Methode zu studieren zu tadeln ist, warum solches geschehe?« Diese Frage gehöre nicht zu den Regeln der Gerechtigkeit, sondern zu den Lehren der Klugheit. »Dahero wir diejenigen Gründe, womit man wider die Autodidactos streitet, weil diese Art einen abgeschmackten Hochmut, eine Begierde zu Neuerungen, einen Abscheu für (vor) menschlicher Gesellschaft, einen Eigensinn und dergl. bei sich führt, – auch ein solcher Mensch, der nur aus den Büchern klug werden wolle, sich erstlich an seinem Gott, der den Lehrstand eingesetzt habe, hernach an seinem Nächsten, weil er einem ehrlich erfahrenen Mann das gebührende Vertrauen nicht zuwenden und sich seines Rats bedienen wolle, versündigt, für sehr schwach halten.« Der vortreffliche Walch schreibt ein entsetzliches Deutsch; aber die vorgetragene Ansicht (die im Grunde immer noch die Ansicht des von Gott heute eingesetzten Lehrstandes ist) widerlegt er recht gut. Eine Versündigung gegen Gott und den Nächsten liege beim Autodidakten nicht vor; es könne aus keinen philosophischen Gründen dargetan noch bewiesen werden, daß der Mensch nach dem natürlichen Rechte zur mündlichen Unterweisung verbunden sei; die Versündigung am Nächsten (weil man zu ihm kein Vertrauen habe) sei nicht zu behaupten, »angesehen allezeit erst auszumachen ist, ob der Mann in solchen Umständen steht, daß man zu ihm ein Vertrauen haben kann«.
Ich habe schon gesagt, daß die Meinung der Herren des von Gott gesetzten Lehrstandes heute noch die gleiche ist, wie die, die Walchius bekämpfen zu müssen glaubte. Wenn auch die Sprache, in welcher unsre Autodidakten in unsern gelehrten Zeitschriften von vornherein abgelehnt werden, für uns weniger zopfig klingt. Für uns, weil wir alle zu wenig autodidaktisch sind.
Wir könnten weit besser und leichter als in irgend einer frühem Zeit ohne mündliche Unterweisung wissenschaftlich vorwärts kommen, weil das massenhafte Wissen unsrer Zeit sorgfältiger als je zuvor geordnet vorliegt in Handbüchern aller Wissenschaften, ja sogar im vielgeschmähten und doch unentbehrlich[112] gewordenen Konversationslexikon, weil bei der Unübersehbarkeit unsres modernen Spezialwissens, das in keinen einzelnen Universalkopf mehr hineingeht, eine gute Handbibliothek alle Fragen des Schülers sicherer beantwortet, als der von Gott oder dem Unterrichtsminister gesetzte Professor sie beantworten könnte. Ich spreche nur von wissenschaftlichem Streben, weil die Fälle, in denen die persönliche Unterweisung notwendig scheint, im ganzen und großen dem Gebiete der Technik angehören. Der Techniker im engsten Sinne, aber auch der Künstler, der Mediziner, der Chemiker usw. muß wohl oder übel bei einem Meister in die Lehre gehen, jahrelang ein Lehrling bleiben, um abgerichtet zu werden, pour être rompu à la besogne, um mit seiner Arbeit genau da fortfahren zu können, wo der Meister stehen geblieben ist.
Nicht ganz auf dieses Gebiet gehört aber der Zwang für Biologen, Psychologen, Astronomen usw., sich auf reich ausgestatteten Instituten auszubilden. Das ist eine Geldfrage. Wer reich genug wäre, sich die kostbaren Apparate, Materialien und Hilfskräfte selbst zu bezahlen, und dazu die Arbeitskraft eines Großen hätte, und die Ziele eines Großen, der würde wohl gern auf die staatlichen Einrichtungen verzichten. Denn dem Nutzen all dieser Institute und Laboratorien steht ein fühlbarer moralischer Schaden gegenüber. In den technischen Künsten (Maschinenbau, Hochbau, Medizin, Chemie) mag der Nutzen den Nachteil überwiegen. Aber schon in der eigentlichen Kunst, bei den Kunstmalern und Bildhauern, die doch wirklich für ihre Kunstübung eine tüchtige Technik brauchen, ist bekanntlich die gute Wirkung der Akademien eine minimale. Stümper werden gezüchtet, Genies sind Selbstlehrlinge. In dem wissenschaftlichen Betriebe nun gar hat das jurare in verba magistri eine Form angenommen, die den besten wissenschaftlichen Geist zu vernichten droht. Auf der Pflanzschule der Gelehrten, auf den Gymnasien fällt der Schüler durch, der nicht gegen seine erwachende Überzeugung in Geschichte und deutschem Aufsatz, in Literatur und gar in Religion jurat in verba magistri. Bessere Köpfe unter den Schülern müssen schon auf[113] dem Gymnasium kleine Diplomaten sein, heucheln und sich ducken. Auf der Hochschule hat der Student wieder auf die Worte des ihm von Gott oder dem Zufall gesetzten Lehrherrn zu schwören. Er fällt im Doktorexamen durch, wenn er der Lehrmeinung seines zufälligen Examinators nicht folgt. Vor den Doktortitel haben die Götter nicht nur den Schweiß gesetzt, sondern oft auch etwas Heuchelei und Kriecherei. Manch ein besserer Kopf unterwirft sich in der Hoffnung, nachher als Privatdozent und a. o. Professor frei zu werden, endlich autodidaktos sein zu können. Aber 7 Jahre und länger muß er um die ordentliche Professur werben, mit kleinlichen Kompromissen, mit Rücksichten gegen die vom Minister ihm Vorgesetzten. Man blicke doch einmal in die wissenschaftliche Literatur, die von Nichtautodidakten hergestellt wird. Zynischer Visitenkartenaustausch. »Eine Hand wäscht die andre.« Auch gute Bücher, gute Aufsätze werden entstellt durch »Berücksichtigungen« hochmögender und gefälliger Kollegen. Wie die Lehrzeit eines ändern Lehrlings zum großen Teile ausgefüllt wird mit häuslichen Diensten, mit Diensten für die Meisterin. Die Hälfte unsrer wissenschaftlichen Literatur ist labor improbus von Lehrlingen, die Meister werden wollen, um ihre Lehrlinge wieder hart zu behandeln. Und wenn der Lehrling nach 7 und mehr Jahren es erreicht hat, ordentlicher Professor ist, Meister, sein eigner Herr, dann muß er schon eine seltene Elastizität besitzen, um endlich, endlich die Lehrlingsknechtschaft und ihre Schmach abzuschütteln und als Autodidakt seine Wissenschaft ein Stück vorwärts zu bringen. Die solche Kraft nicht besitzen, die buchstäblich nur der Tradition dienen, der Weitergabe des Wissens, die sind freilich keine Autodidakten. Von den Inhabern der Lehrstühle, von den besoldeten Professoren und solchen die besoldete Professoren werden möchten, werden Leute ohne Besoldung mit einem leisen Nebenton von Verachtung Privatgelehrte genannt. Ein Privatgelehrter ist also ein Mann, der sich dem Studium einer Wissenschaft ohne Nebenzwecke widmet, der – nach Schopenhauers Wortspiel – mehr Einsichten als Absichten fördern möchte. Dem Mangel an Absicht, dem[114] ewigen Trieb zu lernen gilt der verächtliche Nebenton in der Bezeichnung Privatgelehrter. So kann man im Kreise von Weibern, welche aus ihrer schönen Erscheinung irgendwie Profession machen, so kann man im Kreise von Professionistinnen der Weiblichkeit häufig das Wort Privatdame auf Frauen angewandt hören, die ihre Schönheit nicht verwerten, oder die es nur einmal getan haben, am Tage ihrer Verheiratung.
Es mehren sich die Zeichen dafür, daß die Übelstände in der Welt, die einst die Gelehrten-Republik hieß, auch dort empfunden werden, wo noch vor wenigen Jahrzehnten eitel Überhebung die Regel war. Auf den deutschen Hochschultagen sind endlich, nach langer Herrschaft gelehrter Geschäftsleute, auch die tapfern jungen Idealisten zu Worte gekommen. Man hat, noch unter Kaiser Wilhehm II., zu sagen gewagt, daß die deutschen Universitäten nicht mehr an der Spitze der abendländischen Gelehrsamkeit marschieren; man hofft sogar, die weiter und weiter ausgedehnte Bevormundung der Universitäten durch die Regierungen wieder abzuschütteln. Die Frage ist aber nicht gestellt worden, ob unsre Universitäten, seitdem sie Drillanstalten für Beamte aller Art geworden sind, als solche (abgesehen nämlich von einzelnen großen Forschern, denen das Vorlesungdreschen schwer genug fällt) noch der reinen Erkenntnis dienen.
Ich kann diese oratio pro domo (das sind wohl meine Worte unbewußt und nebenbei geworden) nicht schließen, ohne auf die Gegenseite aufmerksam zu machen. Wer der reinen Erkenntnis an irgendeiner Stelle dienen will, soll und muß nach Möglichkeit Autodidakt sein. Nach Möglichkeit. Genau genommen ist niemand Autodidakt, auch wenn man von der lächerlichen Pedanterie absieht, die einen Unterschied macht zwischen der Belehrung durch Bücher und der Belehrung durch Vorträge. Nicht das kleinste Urteil, geschweige denn eine wertvolle Bereicherung der Wissenschaft fällt vom Monde herunter. Was wir wissen oder meinen, ist uns immer von der belehrenden Umwelt zugeführt worden. Selbst das kleine Aperçu, das ein außerordentlicher Geist der Weltanschauung seiner Zeit hinzugefügt[115] hat und um dessentwillen er ein Genie genannt wird, ist nur eine Folge seiner Seelensituation. Und seine Seelensituation ist nicht autodidaktisch, ist erzeugt von hundert nichtakademischen Lehrern: von der Amme, den Eltern, den Schulkameraden und den Straßenjungen, den Reisebekanntschaften und den Zeitungen, von der ewigen Natur gar nicht zu reden.
Deshalb ist es auch so töricht, wenn liberale Politiker verlangen, der konstitutionelle König dürfe sich bei seinen Entscheidungen nur von den verantwortlichen Ministern beeinflussen lassen. Als ob er tabula rasa wäre. Als ob die Seelensituation des Königs nicht ebenso von hundert Zufallslehrern gebildet worden wäre. Und auch der absolute Monarch, der Selbstherrscher entscheidet nur, wie er es von all diesen unverantwortlichen Lehrern gelernt hat. In diesem Sinne bildet sich nur der Narr ein, ein Autodidakt zu sein.
Und vor unser aller Herrin, vor der Sprache, ist niemand Autodidakt. Nicht einmal der Narr.
Buchempfehlung
Das bahnbrechende Stück für das naturalistische Drama soll den Zuschauer »in ein Stück Leben wie durch ein Fenster« blicken lassen. Arno Holz, der »die Familie Selicke« 1889 gemeinsam mit seinem Freund Johannes Schlaf geschrieben hat, beschreibt konsequent naturalistisch, durchgehend im Dialekt der Nordberliner Arbeiterviertel, der Holz aus eigener Erfahrung sehr vertraut ist, einen Weihnachtsabend der 1890er Jahre im kleinbürgerlich-proletarischen Milieu.
58 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro