[265] Definition – Wer der formalen Logik die Bedeutung abspricht, die man ihr etwa von Aristoteles bis Bacon zugestanden hat, der wird auch den Wert der Definitionen für das menschliche Denken geringer einschätzen, als die Lehrbücher der Logik es tun. Dabei hat die Logik von ihrem Standpunkte aus ganz recht; und wir werden gleich sehen, welche Rolle der Standpunkt oder das Interesse dessen, der eine Definition aufstellt, bei der entscheidenden Wahl des unterscheidenden Merkmals spielt. Soll die Logik nach Art der Mathematik zu sichren Schlüssen führen, so muß sie allerdings mit streng definierten Begriffen arbeiten. Die von Aristoteles abhängige Scholastik glaubte wirklich, in ihren saubren Definitionen einen Weltkatalog des Wesentlichen zu besitzen, »Eine vollständige Sammlung aller möglichen Definitionen wäre für Aristoteles eine Realenzyklopädie aller Wissenschaften gewesen; für uns nur ein tödlich langweiliges Wörterbuch, nebst Angaben des nächst höheren Artbegriffes und des determinierenden Merkmals. Dabei kann sich gewöhnlich nur der etwas denken, der es schon weiß. So ist die Definition immer nur entweder eine Worterklärung, wie der Artikel eines Fremdwörterbuchs (nämlich für jeden Schüler), oder sie ist eine Aufforderung an sich selbst sich an die Grenzen des Begriffs zu erinnern und keine[265] Dummheiten zu reden. Einen Fortschritt im eignen Denken erzeugt sie so wenig, als eine Speisekarte dadurch den Hunger stillt, daß ihre französischen Namen gegenüber deutsch übersetzt stehen.« (Kr. d. Spr. III² 305.)
Wir wollen uns darum auf die ewig wiederholten Warnungen vor Definitionsfehlern nicht näher einlassen; um so weniger, als das Nötigste in andrem Zusammenhange besser vorgebracht und geordnet wird. (Vgl. Art. Beschreibung, circulus und Tautologie.) Wir wollen nur zwei Punkte hervorheben: die alte Einteilung in Real- und Nominaldefinitionen und den hergebrachten Anspruch der Definition darauf, das Wesen des definierten Dinges oder Gedankendinges anzugeben.
Was die uralte Unterscheidung in Real- und Nominaldefinitionen betrifft, so ist diese scholastische Distinktion in den letzten Jahrzehnten allgemach, wenn auch nicht immer ausdrücklich, preisgegeben worden. Eigentlich hatte schon Reid den Unterschied fallen gelassen: »A definition is nothing else but an explication of the meaning of a word.«
Was ich selbst über diese Distinktion zu sagen hätte, habe ich bereits in der sprachkritischen Logik (Kr. d. Spr. III² 304) ausgeführt:
»Weil wir die Welt nicht verstehen, darum gibt es keine andre Art der Definition als die Worterklärung. Die alte Einteilung in Nominal- und Realdefinitionen hat gar keinen logischen Sinn, weil wir doch die Dinge selbst nicht erklären können und kaum erklären wollen. Ich habe schon angedeutet, daß es wohl einen Unterschied zwischen Wort- und Sacherklärung geben könnte, wenn wir die logischen Spitzfindigkeiten vergessen und dagegen festhalten wollten, daß wir es nur mit psychologischen Vorgängen zu tun haben. Man könnte es wohl ganz besonders eine Nominaldefinition, eine Worterklärung nennen, wenn ich einem noch unwissenderen Menschen, als ich es bin, ein bisher fremdes oder bisher inhaltleeres Wort weitergebe und es dazu definiere, das heißt dazu sage, an welche Vorstellungen das Wort mich erinnert. Man könnte im Gegensatz[266] dazu es eine Realdefinition nennen, wenn ich durch eine neue Beobachtung oder eine neue Erfindung einen Begriff erweitre, dadurch seine Definition verändre und mich selbst auf diese Ändrung oder Bereichrung meiner Sprache besinne. Ein großer Überblick würde dann lehren, oder zu sagen gestatten, daß die menschliche Sprache von bahnbrechenden Geistern durch Realdefinitionen höher geführt worden ist, daß das menschliche Denken also durch Realdefinitionen gewachsen ist, daß aber der normale Mensch seine Sprache oder seine Weltanschauung von der Geburt bis zum Tode nicht anders lernt als durch Nominaldefinitionen oder Tautologien; einer Realdefinition kann sich nur das Genie vermessen – oder der Wahnsinn. Wer mir aufmerksam gefolgt ist, wird hier erkennen, daß dieser anheimgegebene Gegensatz von Nominal- und Realdefinition für mich zusammenfällt mit dem Gegensatz der Erkenntnisse a priori und a posteriori. Der Wertschätzung nach werden dabei freilich die Kantschen Begriffe auf den Kopf gestellt; es war aber a priori zu vermuten, daß die Sätze der reinen Vernunft die Sätze vor aller Erfahrung nicht viel wert sein würden, nicht mehr als eine Erbschaft, die Gemeingut ist, als ein Recht auf das Licht der Sonne.«
Ich möchte zu dieser Auffassung, die freilich Definition und Denken, Sprechen und Wissen unter einem ganz bestimmten Lichte zusammensieht, jetzt noch eine Bemerkung machen, die vielleicht unversehens zu dem zweiten Punkte hinüberführen wird, den ich betrachten wollte.
Wenn es keine andren Dinge gibt als Gedankendinge, wenn auch die sogenannten Körper nur unsre Vorstellungen sind (vgl. Art. Ding), wenn wir andrerseits alle diese Dinge und Gedankendinge gar nicht anders vorstellen können als durch Begriffe oder Worte, so liegt es auf der Hand, daß all unser Definieren nichts weiter ist als ein Sichbesinnen auf die übliche Bedeutung der Begriffe oder auf den allgemeinen Sprachgebrauch. Es gibt knappe und weitschweifige Definitionen, es gibt Besinnungen des Meisters und Erklärungen für[267] den Schüler; es gibt aber nicht Dingerklärungen der gleichen Dinge. Auch hier also begegnen wir der Neigung des philosophierenden Menschen, die eine und einzige Welt zweimal zu setzen.
Die psychologische Unterscheidung, die ich an die veralteten Worte Real- und Nominaldefinition zu knüpfen suchte (durch den Zauber der alten Worte verführt), ließe sich noch ein wenig verallgemeinern. Wir wollen von dem seltnen Fall absehen, daß ein Genie durch eine wichtige Neubeobachtung den Inhalt eines alten Begriffes wesentlich ändert. Auch sonst ist es für die psychologische Wirklichkeit nicht dasselbe, ob ein Schüler des Fachs die Fachausdrücke oder die leitenden Begriffe so kennen lernt, wie sie von den Fachleuten allgemein gebraucht und verstanden werden, oder ob ein Meister des Fachs sich erlaubt, den Sprauchgebrauch der Kollegen zu verlassen, für den eignen Gebrauch der Begriffe eine besondere Regel aufstellt, die er nachher freilich unweigerlich zu befolgen haben wird. Selbstverständlich gilt das ebenso gut bis hinauf zu den Fachausdrücken der Philosophie und bis herunter zu allen Worten der Gemeinsprache. Es gibt also wirklich zwei Arten der Definition, je nachdem, ob man sich auf den allgemeinen Sprachgebrauch besinnt, auf die Bedeutung, die der Begriff zwischen den Menschen hat, oder ob man sich auf seinen eigenen Sprachgebrauch besinnt, auf die Bedeutung, die man selbst dem Begriffe beizulegen pflegt oder beilegen will. Man könnte diese beiden Arten der Definition ganz wissenschaftlich unterscheiden: die provisorische und die definitive Definition, die völkerpsychologische und die einfach psychologische Definition. Ich mache keinen dieser Vorschläge im Ernste. Die Ungleichheit der beiden Definitionen läßt mich nur darauf schließen, daß die mathematisch sichere Definition der Logik, die Definition für die totsicheren Schlüsse, in der psychologischen Wirklichkeit gar nicht vorhanden ist, daß sie ein Ideal ist, an dem weder die Begriffe der Gemeinsprache noch die der Individualsprache gemessen werden dürfen. Der weiseste Grieche, Sokrates, ist auch der Mann, dem in der [268] Geschichte der Philosophie die Sehnsucht nach Idealdefinitionen zugeschrieben wird. Er war der erste Lehrer, der von seinen Schülern saubere Definitionen verlangte, das heißt doch wohl einen sauberen Gebrauch ihrer Muttersprache. Ob Sokrates wohl in seiner docta ignorantia wirklich geglaubt hat, durch Definitionen das Wesentliche der Begriffe zu erfassen? Jedesfalls hütete er sich, entweder der Gemeinsprache oder der Individualsprache allein zu vertrauen. Mit seiner Umgebung plaudernd suchte er die wahren Definitionen, so berichtet der getreue Xenophon (skopôn syn tois synousi, ti hekaston eiê tôn ontôn, oudepôpot' elêgen). Aber es lag dem griechischen Geiste nahe, an die Erkennbarkeit des Wesens der Dinge zu glauben.
Zweitausend Jahre mußten vergehen, bevor die Denkbarkeit ganzer Generationen von Philosophen langsam auch das Denken als einen psychologischen Vorgang betrachten lernte, ernsthafte Erkenntnistheorie zu treiben begann und so u. a. auch zu der Überzeugung gelangte, daß man von keinem Merkmal eines Dings sagen dürfe, dieses Merkmal sei dem Dinge wesentlich, daß man darum eine absolute Definition gar nicht aufstellen dürfe. Jedes Ding der Wirklichkeitswelt steht in irgend einem Zusammenhang mit der gesamten übrigen Wirklichkeitswelt, jede Vorstellung mit der gesamten übrigen inneren Welt; im Leben hängt es von unserem Interesse ab, im Denken von unserem Standpunkte, welche dieser Beziehungen, welches von diesen Merkmalen wir als das wesentliche ansehen wollen. Wir dürfen nicht glauben, jemals das wesentliche Merkmal zu finden, durch dessen Hinzufügung an das genus proximum so bequem die richtige Definition – nach der Schulmeinung – entstehen soll. Es gibt keine absolut richtige Definition, wie es übrigens auch keinen absolut richtigen Sprachgebrauch gibt. Was freilich auf dasselbe hinausläuft. Ich glaube fast, mich bei dieser skeptischen Ansicht sogar auf Kant berufen zu dürfen, der einmal (er war nicht immer so vorsichtig) gesagt hat, die Definition sei »ein zureichend deutlicher und abgemessner Begriff«.[269]
Buchempfehlung
Im Dreißigjährigen Krieg bejubeln die deutschen Protestanten den Schwedenkönig Gustav Adolf. Leubelfing schwärmt geradezu für ihn und schafft es endlich, als Page in seine persönlichen Dienste zu treten. Was niemand ahnt: sie ist ein Mädchen.
42 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro