[288] Descartes' Naturphilosophie – Das Weltbild des Descartes ist nicht mit Poetenaugen gesehen, wie das von Giordano Bruno, ist nüchtern, fast logisch, aber darum nicht minder grandios und einheitlich. Mir ist es hier darum zu tun, nur einen einzigen Zug dieses Weltbildes herauszuheben, die Darstellung der Entstehung des Planetensystems; weil mir dieser eine Zug ein vortreffliches Beispiel zu sein scheint für die Art, wie ein freier Geist von der Kirche zu heuchlerischen[288] Umwegen, um nicht zu sagen: zur Lüge, gedrängt wurde. Wobei der Kirche wiederum zugute kommen mag, daß Descartes eine ängstliche Natur war und vielleicht doch auch innerlich zwischen Skeptizismus und irgendeinem Glauben schwankte.
Für uns ist es besonders interessant, Descartes' Mißtrauen gegen die Sprache an seiner dominierenden Neigung, die die Welt mechanistisch erklären wollte, zu prüfen; seine tiefsten Überzeugungen wurzeln da, ohne daß er den Widerspruch zwischen Sprachkritik und Materialismus fühlte.
Für Descartes' feinen Sprachinstinkt würde es schon sprechen, daß er (fünfzig Jahre vor Thomasius, der durch die Einführung deutscher Vorlesungen berühmt blieb) einige seiner Werke in französischer Sprache schrieb, anstatt in dem hergebrachten Latein. Er machte sich auch nichts aus der gelehrten Erziehung, die sein Vater ihm hatte werden lassen; er hätte sonst eben – meinte er – alle seine Werke französisch geschrieben.
Sind solche Äußerungen nur überliefert, so sagt Descartes selbst am Ende seines »Discours de la méthode« (uvres 1.): »Si j'écris en français, qui est la langue de mon pays, plustôt qu'en latin, qui est celle de mes précepteurs, c'est a cause que j'espère que ceux qui ne se servent que de leur raison naturelle toute pure jugeront mieux de mes opinions que ceux qui ne croient qu'aux livres anciens; et pour ceux qui joignent le bon sens avec l'étude, lesquels je souhaite pour mer juges, ils ne seront point, je m'assure, si partiaux pour le latin, qu'ils refusent d'entendre mes raisons pour ce que je les explique en langue vulgaire.«
Ein geistreicher Vergleich (in einem Brief an Chanut, den französischen Botschafter in Stockholm, der ihm bei der Königin von Schweden nützen sollte) läßt noch besser erraten, Wie modern Descartes über den Wert der Sprache zu denken imstande war. Er schreibt: »Ich habe niemals den Ehrgeiz besessen, die Bekanntschaft hochgestellter Personen zu machen« (er lügt), »und wäre ich so klug gewesen, wie nach dem Glauben von Wilden die Affen sind, so würde kein Mensch wissen, daß ich Bücher schreibe. Die Wilden nämlich – sagt man –[289] glauben, die Affen könnten sprechen, wenn sie wollten, sie täten es aber absichtlich nicht, um nicht zum Arbeiten gezwungen werden zu können. Ich bin nicht so klug gewesen, das Schreiben zu unterlassen; darum habe ich nicht so viel Ruhe, als ich durch Schweigen erhalten hätte.«
Tiefer in das Wesen dringt Descartes, wenn auch völlig unbewußt, mit gelegentlichen Äußerungen über Dinge, die alle Sprachgebiete berühren.
Über die landläufige Logik denkt er völlig frei; sie (die Dialektik) sei zur Erforschung der Wahrheit unnützlich, sie könne nur zur Mitteilung dienen, ihr gebühre darum ein Platz nicht in der Philosophie, sondern in der Rhetorik.
Er ist noch nicht so reif wie Spinoza, der den Zweckbegriff, die Teleololgie, in der Natur einfach leugnet; Descartes zieht noch Schlüsse aus der Unerforschlichkeit Gottes; aber auch so kommt er dazu, die Zweckbegriffe für unerkennbar, also für unanwendbar zu erklären und die philosophische Sprache von einer ganzen Rumpelkammer toter Symbole zu befreien. Er hält in der Physik die Berufung auf besondre Kräfte (was wir jetzt noch sehr wortabergläubisch Kohäsionskraft und Schwerkraft nennen) für scholastisch und sagt einmal, er, Descartes, der Erfinder der analytischen Geometrie: »Ich habe niemals das Unendliche behandelt, es sei denn, mich ihm unterzuordnen; und habe nie zu bestimmen versucht, was es sei und was es nicht sei.«
So wirkte Descartes wie ein echter Philosoph, sprachreinigend da und dort, und näherte sich darum mitunter dem erlösenden Gedanken, daß die Irrtümer der Menschen (ich würde sagen: die Unmöglichkeit der Erkenntnis) den Mängeln der Sprache zuzuschreiben seien. Ja, Descartes hatte das bewußte Streben, die Wortfetische auzumerzen, die anthropomorphische Belebung der toten Materie zu tadeln. Am ausführlichsten hat er sich über den Unwert der Sprache in seinen »Prinzipien« geäußert; nachdem er als die drei Hauptquellen unsrer Irrtümer bezeichnet hat: die Vorurteile, die uns in der Jugend eingeflößt worden sind, unsre Unfähigkeit, die Vorurteile später[290] zu vergessen, die Gewohnheit, selbst die den Sinnen vorliegenden Gegenstände nach vorgefaßten Meinungen zu beurteilen, – fährt er (I. 74) damit fort, es die vierte Quelle zu nennen, daß wir unsre Vorstellungen in Worten festhalten, die den Dingen nicht genau entsprechen: »Et denique propter loquelae usum, conceptus omnes nostros verbis, quibus eos exprimimus, alligamus, nec eos nisi simul cum istis verbis memoriae mandamus; cumque facilius postea verborum quam rerum recordemur, vix unquam ullius rei conceptum habemus tarn distinctum, ut illum ab omni verborum conceptu separemus: cogitationesque hominum fere omnium, circa verba magis, quam circa res versantur; adeo ut persaepe vocibus non intellectis praebeant assensum, quia putant se illas olim intellexisse, vel ab aliis qui eas recte intelligebant accepisse. Quae omnia, quamvis accurate hic tradi non possint, quia natura humani corporis nondum fuit exposita necdum probatum est ullum corpus existere videntur tamen satis posse intelligi, ut juvent ad claros et distinctos conceptus ab obscuris et confusis dignoscendos.«
Und dieser kühne Geist unterwirft sich überall den Aussprüchen der Kirche, in fast übertriebener Weise, wie schon Bossuet, wie mir scheint, hervorheben wollte. Die Wahrhaftigkeit, die Allmacht, die Weisheit Gottes muß da und dort in das mechanistische System hinein; und es ist kaum zu glauben, daß Descartes auch diesen Widerspruch nicht als solchen empfunden haben sollte. Er scheut nicht nur den Feuertod, den Vanini noch 1619, Bruno zwanzig Jahre früher zu leiden hatten, er scheut auch – das Wort ist von Goethe – das »Halbmartyrium« Galileis.
Wie er sich windet und den Begriffen der Sprache Gewalt antut, um den Forderungen der Kirche entsprechen und dennoch seine Ideen vortragen zu können, das hätte sich auch an seiner berüchtigten Lehre, die Tiere seien Maschinen, aufzeigen lassen. Die äußerste Konsequenz seines mechanischen Systems hätte ja dazu führen müssen, schon hundert Jahre vor Lamettrie auch die Menschen für Maschinen zu erklären. Ich[291] bin immer der Meinung gewesen, daß er das eigentlich sagen wollte, nicht zu sagen wagte und darum wenigstens die Tiere Maschinen nannte. Was uns dabei empört, ist nicht die Anwendung des Wortes Maschine auf die Psychologie und auf die (von Descartes gut beobachteten) Reflexbewegungen, sondern die ganz theologische Unterscheidung zwischen Mensch und Tier, der anthropozentrische Standpunkt. Wer aber könnte mit Sicherheit sagen, ob Descartes nicht doch in einem Winkel seines Herzens an das göttliche Wesen der Menschenseele glaubte?
Viel deutlicher kommt die Rücksicht auf die Kirche bei seiner einst berühmten Wirbeltheorie heraus, mit der er die Entstehung unsres Planetensystems erklärte. Nur daß wieder niemand sagen könnte, wie weit Descartes sich dabei bewußt war, der dummen Kirche eine leere Worthülse zum Spielen hinzuwerfen.
Um es nur kurz anzudeuten: Descartes wußte schon ganz gut, daß die Lehren des Kopernikus die Wahrheit sagten. Er geht (im dritten Buche seiner Prinzipien) über die alte Hypothese des Ptolemäos verächtlich hinweg, nennt darauf freilich auch die Lehre des Kopernikus ebenfalls eine Hypothese, aber schwerlich aus Mißtrauen, sondern um sich eine Hintertür offen zu lassen; der Papst hatte ja dem Galilei zuerst nur befohlen, die Lehre des Kopernikus nicht als Wissenschaft, sondern als Möglichkeit vorzutragen; das tat nun Descartes ungeheißen. Nur leider tat er mit seinen Wirbeln noch mehr.
Die Sachlage war für ihn klar genug. Bis zu seiner Zeit hatte man angenommen, die Erde mit ihren Menschen sei Zweck und Angelpunkt der Welt, der Himmel mit seinen Sternen (auch der Sonne) bewege sich um die Erde. Nur die Planetenbewegungen machten Schwierigkeiten, weil sie scheinbar so kraus waren; alles andre stimmte anscheinend. Nun hatte Kopernikus sachte diese uralte Weltanschauung umgeworfen. Die Sonne sollte den Angel- und Mittelpunkt abgeben und die Erde sich (wie die andren Planeten auch) nach festen Gesetzen um die Sonne bewegen. Sofort ahnten weitblickende Männer, daß durch diesen neuen Weltenplan die[292] Götter obdachlos gemacht würden. Auch Descartes zog wohl diesen Schluß. Nicht umsonst leitet er seine Darstellung (Princ. III. 3) damit ein, daß er sagt: »es wäre lächerlich und albern (ridiculum et ineptum), in den natürlichen Dingen vorauszusetzen, sie seien um des Menschen willen geschaffen«.
Das widersprach dem Bibelwort; aber so fein hört die Kirche nicht hin. Die Kirche nahm nur Ärgernis an der äußerlichen Lehre von der Bewegung der Erde. Die Astronomen sollten ihr zuliebe ein Kompromiß eingehen, die neuen Berechnungen des Kopernikus teilweise gelten, aber die Erde dennoch still stehen lassen. Tycho de Brahe beugte sich unter diesem Joch. Er trägt heuchlerisch – es kann ihm, dem Meister der Beobachtung, der schon seiner nährenden Astrologie skeptisch gegenüberstand (dem närrischen Töchterlein der Astronomie, wie Kepler sie nannte) und von den Horoskopen sagte, daß sie korrigierbar wären, nicht ganz ernst gewesen sein – eine verwirrte Lehre vor, nach der zwar alle andern Planeten sich kopernikanisch um die Sonne bewegten, aber dann mit der Sonne um die Erde, eine gäozentrisch-anthropozentrische Lehre. So schamlos war Descartes nicht. Er bog nicht die Beobachtungen krumm, sondern die Worte; Brahe hatte das Wertvolle gefälscht, der Kirche zu Gefallen, Descartes fälschte das Wertlose, das Wort. Nur daß er – wäre seine Sprache durchgedrungen – die Erkenntnis noch mehr als Brahe verwirrt hätte.
Descartes tiftelte an dem Worte Bewegung so lange herum, bis er das Abracadabra sagen konnte, Kopernikus habe recht, aber die Erde bewege sich dennoch nicht. Ich glaube nicht, daß dieser Mißbrauch der Sprache schon an den Pranger gestellt worden ist. Er sagt (III. 28): Da alle Bewegung etwas Relatives sei, »so könne man sagen, dieselbe Sache sei zugleich bewegt und unbewegt, je nachdem man ihren Ort verschieden bestimme. Daraus folge, daß weder die Erde noch die andern Planeten (er nennt die Erde also einen Planeten) eigentlich (proprie dictum) Bewegung habe, weil sie nicht aus der Nachbarschaft des ihnen unmittelbar anstoßenden Himmelsraumes[293] fortbewegt würden«. Nach diesem Sophisma fährt er fort: »Nach dem Sprachgebrauch (juxta usum vulgi) kann man nicht sagen, die Erde bewege sich gleich den übrigen Planeten. Denn wir sind gewohnt, nach den festen Punkten der Erde die Örter der Sterne zu bestimmen... Wenn aber ein Philosoph, der die Erde als eine Kugel in ihrem flüssigen« (d.h. wohl gasförmigen) »und bewegten Himmelsraume voraussetzt, von der Sonne und den Fixsternen (die zueinander immer die gleiche Lage bewahren) als von unbewegten Körpern spricht, um durch sie die Lage der Erde bestimmen zu können, und dann von der Erde sagt, daß sie sich bewege, so spricht er Unsinn. Denn wissenschaftlich darf der Ort« (der astronomische Ort natürlich) »nicht durch sehr entfernte Körper bestimmt werden, wie doch die Fixsterne sind, sondern durch die Nachbargegenstände desjenigen Körpers, den man bewegt nennt«.
So weit konnte sich der Begründer der analytischen Geometrie vergessen aus Angst vor der Kirche. Er erfand die Wirbelbewegungen des die Planeten umgebenden Himmelsraumes und glaubte dann sagen zu können, daß sich wohl diese Wirbel bewegten, nicht aber die Planeten in ihnen. So könnte jedes Kind die Sprache fälschen und sophistisch sagen, es komme von Hamburg nach New-York, ohne daß es sich bewege; nur das Schiff bewege sich. Nimmt man aber den umgebenden Himmelsraum, die Atmosphäre, als zur Erde gehörig an, was dann?
Der Vorwurf also, der gegen Descartes zu erheben ist, betrifft nicht die Aufstellung der verzweifelten Wirbeltheorie, sondern vielmehr die Inkonsequenz in der Behandlung der Erde und der übrigen Planeten. Der große Zug an Descartes war, sehr wohl vereinbar mit seinem Faustischen Zweifel an aller Philosophie, der Wunsch oder das Kraftgefühl, ein einheitliches mechanistisches Weltbild zu erfinden; ein kleinlicher Zug an ihm, sehr wohl vereinbar mit seiner Scheu vor der Kirche, war eine gewisse Originalitätsucht. So konnte der Mann, der bereits die Konstanz der Materie und die Konstanz[294] der Bewegungsenergie gegen die herrschenden Aristoteliker lehrte – natürlich in der Sprache seiner Zeit –, der bereits Wärme und Licht als Wirkungen der Bewegung auffaßte, der Wärme- und Lichtsubstanzen leugnete, gar wohl dazu kommen, die Entstehung des Planetensystems durch die Wirbel zu erklären. Im Grunde ist die apriorische Physik des Himmels, wie Descartes sie lehrte, von der Theorie des Himmels, die heute noch beinahe wie von Kant vorgetragen wird, nicht gar so verschieden; nur daß Kant auf Newton weiterbauen konnte und daß Newton sowohl als Mathematiker wie als Philosoph den Descartes überragte. Trotz alledem wäre das mechanistische Weltbild des Descartes ein historisches Denkmal von imponierender Größe, wenn er die Konsequenz nicht selbst zerstört, wenn er nicht die Bewegung der Erde in seiner Darstellung sozusagen umgebogen hätte. Der christgläubige Newton war freier als der Zweifler Descartes. Descartes steckte mit seinen Gefühlen noch tief im Mittelalter; er war lange nicht so frei oder lange nicht so ehrlich, wie Kuno Fischer uns glauben machen will; die kleine Skizze, die Goethe (Geschichte der Farbenlehre) von Descartes entworfen hat, gibt ein richtigeres Bild als das Buch Kuno Fischers.
Brockhaus-1809: Renatus Descartes
Brockhaus-1911: Descartes · Naturphilosophie · Ionische Naturphilosophie
Eisler-1904: Naturphilosophie · Naturphilosophie
Herder-1854: Descartes · Naturphilosophie
Kirchner-Michaelis-1907: Naturphilosophie
Lueger-1904: Folium von Descartes
Buchempfehlung
Der in einen Esel verwandelte Lucius erzählt von seinen Irrfahrten, die ihn in absonderliche erotische Abenteuer mit einfachen Zofen und vornehmen Mädchen stürzen. Er trifft auf grobe Sadisten und homoerotische Priester, auf Transvestiten und Flagellanten. Verfällt einer adeligen Sodomitin und landet schließlich aus Scham über die öffentliche Kopulation allein am Strand von Korinth wo ihm die Göttin Isis erscheint und seine Rückverwandlung betreibt. Der vielschichtige Roman parodiert die Homer'sche Odyssee in burlesk-komischer Art und Weise.
196 Seiten, 9.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro