Eigenschaft

[344] Eigenschaft – Ich habe für die Darstellung der Lehre, daß menschliche Erkenntnis einzig und allein auf die adjektivische Welt geht, daß die verbale Welt und die substantivische Welt uns für alle Zeiten so unbekannt bleiben müssen wie die Kräfte-an-sich und wie die Dinge-an-sich, – ich habe bei dieser Darstellung überall an die internationale Bezeichnung für das Eigenschaftswort angeknüpft, weil dieser überaus wichtige Gegenstand zuerst bei Gelegenheit einer Kritik der grammatischen Kategorien behandelt wurde. (Vgl. Kr. d. Spr. III 94 ff.) Das Wort Eigenschaft hätte den Zugang zu dem Gedanken noch mehr erschwert als das Wort Adjektiv, weil in Eigenschaft schon ein höherer Grad von Abstraktion versteckt ist, weil man allzu lange unter Eigenschaften etwas wie Gedankendinge verstanden hatte und so dieser Begriff in die substantivische Welt hineinragte; Adjektiv bezeichnete dagegen immer nur eine Wortgattung und war darum für meinen Sprachgebrauch bequemer. Ich verweise also für alle erkenntnistheoretischen Fragen auf den Artikel adjektivische Welt und will hier nur einige wortgeschichtliche Notizen hinzufügen.

Zufällig und für eine endgültige Begriffsbestimmung ungenügend ist die Geschichte beider Worte. Ich habe schon erwähnt, daß lat. adjectivum ursprünglich eine Lehnübersetzung von griech. epitheton war, und daß dieses epitheton zunächst der Rhetorik angehörte, dann lange Zeit noch ausschließlich moralische Eigenschaften bezeichnete, bis es endlich der Terminus für die grammatische Kategorie der Beiwörter oder der Eigenschaftswörter wurde.

So gradlinig verläuft die Geschichte des Wortes Eigenschaft nicht. Es gibt da im Lateinischen zwei verschiedene[344] Modellworte: qualitas (poiotês) und proprietas (idiotês); wir hätten etwa übersetzen können: Wieheit und Eigenheit. Unser Wort Eigenschaft ist (ebenso wie Eigenheit) nun offenbar eine Lehnübersetzung von proprietas; in seiner Bedeutung hat es sich aber sehr fest an qualitas angelehnt. Man darf da nicht vergessen, daß proprietas ein Wort übersetzte, das von einem ganz geläufigen Worte der griechischen Gemeinsprache herkam (idios = eigen), das also mit allen Unklarheiten gemeinsprachlicher Ausdrücke behaftet war; daß hingegen qualitas, wie sein griechisches Modellwort, so recht für das Bedürfnis der philosophischen Terminologie gebildet war. Die Scholastik distinguierte sehr scharf, und von ihrem Standpunkte sogar fein, zwischen proprietas und qualitas. Ich erinnere nur kurz daran, daß die Qualität zu den Kategorien gehörte, das proprium zu den fünf Prädikabilien; ich wüßte freilich nicht zu sagen, wodurch sich Kategorien und Prädikabilien unterscheiden; die Scholastiker aber wußten das ganz gut, in ihrer Sprache. Die Scholastiker kannten vier Arten des poprium; sie hatten in ihrem Ungeschmack diese vier Arten zu einem ihrer Gedächtnisverse vereinigt, dem lieblichen Hexameter: Est medicus, bipes, canescens, denique ridens. Proprietas war in der Logik gar nichts andres als dieses proprium der Metaphysik. War nun durch Eigenschaft schon in alter Zeit, bereits bei Notker, der metaphysisch-logische Begriff proprium übersetzt worden, und gab man diesen Begriff der proprietas nachher auf, so blieb das gefällige Wort Eigenschaft zur Verfügung, um allgemein als Verdeutschung von qualitas benützt zu werden.

Nicht genau. Man kann sagen, ohne die philosophische Terminologie zu verletzen: die Eigenschaften der Dinge sind entweder Qualitäten oder Quantitäten oder Energiewirkungen; man hätte sich ebenso gut auf den Ausdruck einigen können: die Qualitäten der Dinge sind entweder Eigenschaften oder Größenverhältnisse oder Wirkungen aufeinander. (Vgl. Art. Relation.) Es ist Sache des gelehrten Sprachgebrauchs, ob er da Qualität oder Eigenschaft zum Oberbegriff machen will. Daß eine solche willkürliche Einigung nötig war und eigentlich[345] noch nötig ist, das scheint mir damit zusammenzuhängen, daß alle tiefsten Fragen der Weltanschauung eben an so gemeine, alltäglich gewordene Worte geknüpft sind. Wir können gar nicht wissen, was qualitas, was proprietas, was Eigenschaft bedeute, bevor wir nicht eine befriedigende Antwort gefunden haben auf die Frage, was die Dinge noch sein mögen außer den Summen der von ihnen (wie wir sagen) bewirkten Sinneseindrücke, was ferner die Relationen der Dinge untereinander sein mögen. Ich glaube nämlich, daß mein Satz, die adjektivische Welt allein sei wirklich, gar nichts Neues lehrt, sondern nur Kants Lehre wiederholt: Erfahrung gehe nur auf Erscheinungen, nicht auf die Dinge-an-sich; der Gedanke ist auch schon von Rosenkranz sehr knapp und sprachlich verwegen gefaßt worden: »Das Ding ist seine Eigenschaften.«

Fragt man nun nach dem Werte des Ausdrucks proprietas für solche Fragen (und davon ist, wie gesagt, Eigenschaft nur eine genaue Übersetzung, weil es auf die leergewordenen Endsilben -schaft und -heit wirklich nicht ankommt, kaum auf die alten Substantive, die zu diesen Endsilben verblaßt sind), so zeigt sich an ihm die ganze Verwirrung unsres Denkens oder unsrer Sprache gegenüber den Urproblemen der Erkenntnis. Proprius, idios eigen geben einen ganz einfachen und klaren Sinn, sobald man darunter etwas versteht, was einzig und allein Menschen angeht; was einem Menschen zu eigen gehört; nur einem Menschen kann ein Ding zu eigen gehören. Zur Not kann man auch die Wortfolge bilden, daß etwas einem intelligenten Tiere gehöre, einem Hunde z.B. sein Napf, sein Lager, seine Hütte; da versteht man aber zweierlei darunter: die Vorstellung des Herrn, daß dieses Gerät für den Hund bestimmt sei, und die Vorstellung des Hundes, daß er dieses Gerät gegen Einbrecher verteidigen müsse. Die Vorstellung des Hundes, auf die es hier allein ankommt, setzt beim Hunde einen Besitzwillen voraus, und auf den juristischen Unterschied zwischen Eigentum und Besitz legt die Gemeinsprache wenig Gewicht. Ich habe aber nichts dagegen, daß gesagt werde: nur einem lebendigen, wollenden Wesen kann ein Ding zu eigen gehören.[346] Und dieser Begriff des Eigenseins, meine ich, ist so einfach, daß wohl auch intelligente Tiere ihn fassen können.

Wir werden gleich erfahren, daß freilich auch der Begriff Eigentum gar nicht so einfach ist, wenn man ihn und den Rechtsbegriff dazu erst kritisch untersucht. Von vornherein ist es nun klar, daß dieser Menschenbegriff nur bildlich auf die Natur und auf die Dinge angewandt werden konnte; man bemerkt den Anthropomorphismus nur nicht leicht. Keinem Dinge kann etwas zu eigen gehören. Dennoch nennen wir die Beschaffenheiten der Dinge, ihre Qualitäten, Quantitäten und Wirkungen, dennoch nennen wir alle diese Relationen der Dinge seit Jahrtausenden ihre Eigenschaften, ihre Eigenheiten, ihre Eigentume. (Noch Gryphius und Logau sagten Eigentum, wo wir Eigenheit sagen müßten.) Ich glaube beinahe, daß die Redensart, ein Ding habe diese oder jene Eigenschaft, eben davon herrührt, daß Eigenschaft (Eigenheit, Eigentum) so lange als Übersetzung von proprietas gefühlt wurde; das Bild vom wollenden Besitzer wurde durchgeführt: das Ding besaß seine Eigenschaft, wie ein Mensch sein Eigentum; man achte auf die andre Sprachform: das Ding ist von dieser oder jener Qualität. Weil die Scholastiker dieses Verhältnis zwischen der Eigenschaft und ihrem Träger doch nicht übersehen konnten, darum hatten sie den Satz im Gebrauche: Proprium non potest separari a subjecto.

Ich muß an mich halten, um diesen knifflichen Sprachfragen nicht weiter nachzugehen; viel ernsthafter scheint mir das Ergebnis dieses kleinen Abrisses einer Wortgeschichte. Als die Scholastiker das, was wir jetzt bestimmte Relationen der Dinge nennen, ihre proprietas nannten, hatten sie ein schlechtes Bild vor Augen, aber immerhin ein Bild: die Eigenheit gehörte dem Ding, wie ein Stück Eigentum dem Menschen gehört.

Mehr als ein Bild war nicht an dem Worte. In der Übersetzung Eigenschaft war das Bild wahrscheinlich vor tausend Jahren noch zu erkennen. Seitdem hat es seine Bildkraft völlig eingebüßt; es hätte gar keinen Sinn, aber auch gar keinen mehr, wenn wir heute sagen wollten, eine Relation sei einem Dinge [347] eigen; übrigens: welchem Dinge von beiden, zwischen denen eine Relation besteht, sollte die Eigenschaft zugeschrieben werden? Gehört die Schwere des Goldes dem Golde zu oder der ganzen Erde? Gehört die Farbe des Goldes dem Golde zu oder dem Auge? (Vgl. Art. Relation.)

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 1, S. 344-348.
Lizenz:
Faksimiles:
344 | 345 | 346 | 347 | 348
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Nachtstücke

Nachtstücke

E.T.A. Hoffmanns zweiter Erzählzyklus versucht 1817 durch den Hinweis auf den »Verfasser der Fantasiestücke in Callots Manier« an den großen Erfolg des ersten anzuknüpfen. Die Nachtstücke thematisieren vor allem die dunkle Seite der Seele, das Unheimliche und das Grauenvolle. Diese acht Erzählungen sind enthalten: Der Sandmann, Ignaz Denner, Die Jesuiterkirche in G., Das Sanctus, Das öde Haus, Das Majorat, Das Gelübde, Das steinerne Herz

244 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon