Kultur

[258] Kultur – ist ein Korrelatbegriff zu Natur; darum mag einiges zur Wortgeschichte und zum Bedeutungswandel besser bei Untersuchung des Naturbegriffs zu Worte kommen. Hier möchte ich nur zeigen, eine wie konfundierte und darum konfuse Vorstellung in dem bei Geschichts- und Zeitungsschreibern so beliebten Begriffe steckt.

Man spricht nämlich immer von Kultur und meint gar nicht dasselbe, wenn man dabei einmal an Individuen, ein andermal an Völker denkt; bei Völkern unterscheidet man wieder die Kultur nach Jahrhunderten und sonstigen Epochen; auch von einer Kultur der gesamten Menschheit wird wohl die Rede sein, wenn Geschichtskonstruktionen ein Bild von der Steinzeit, der Bronzezeit oder gar der Eiszeit entwerfen. Verräterisch für die Unklarheit des Begriffs ist es, daß Kultur in der Volkspsychologie immer ein Inbegriff, eine Summe von Lebensäußerungen ist, dagegen eine Einheit, sobald Kultur in einem Individuum gefunden oder von ihm verlangt wird. Mehr noch: Kultur eines Volkes ist immer ein Faktum, ein historisches oder ein gegenwärtiges; Kultur des Individiuums ist mehr eine Sehnsucht, ein Ideal.[258]

Man hat sich bemüht, Kultur und Zivilisation in einen Gegensatz zu bringen: Zivilisation soll so ungefähr die äußere Kultur, Kultur die innere Zivilisation bedeuten. Der Sprachgebrauch stimmt nur nicht mit dieser Unterscheidung überein, aus dem einfachen Grunde nicht, weil die Kulturgeschichte von den Daten abhängig ist, die der Zufall ihr bietet. Die Kulturgeschichte der sogenannten Steinzeit muß froh sein, wenn sie einige Hypothesen über das äußerliche Leben aufstellen kann, z.B. über die Nahrung. Die Kulturgeschichte der Griechen hat sich durch Jahrhunderte auf Kunst und Literatur beschränkt, bis ein paar glückliche Ausgrabungen und strengere Philologie neue Daten über Kunsthandwerk und Privatleben zutage förderten; die Kultur der Gegenwart aber möchte am liebsten intellektuelle, ästhetische, rechtliche und sittliche Erscheinung neben den Mitteln und Gewohnheiten in Nahrung, Kleidung und Verkehr unter den Begriff Kultur bringen. Die Spanier heißen kein Kulturvolk mehr, weil sie wenige Eisenbahnen und schlechte Gasthöfe haben. Kultursprachen wiederum heißen diejenigen Sprachen, in denen hervorragende Dichter oder Denker der Menschheit, d.h. der kleinen Gruppe abendländischer Völker, einen gemeinsamen Besitz geschenkt haben. Zivilisierte Völker sind Völker mit einer leidlichen Straßenpolizei. Aber in Frankreich und in Italien heißt, was in Deutschland und in England Kultur, culture genannt wird, civilisation, civiltà.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als das Dogma vom klassischen Altertum in wuchernder Blüte stand, erreichte der Kulturbegriff unter dem Namen Humanität die äußerste Höhe der Konfusion; daß die gegenwärtige Menschlichkeit nichts taugte, hatte Rousseau bewiesen, wie jeder Pessimist noch die Nichtswürdigkeit seiner Zeitgenossen beweisen konnte; die Rückkehr zur Natur, die er unsinnig und einfach konsequent gepredigt hatte, paßte den hochgebildeten Neuhumanisten nicht, und sie predigten in Deutschland wieder einmal Rückschreiten um 2000 Jahre, Rückkehr zu den Griechen. Da das im größten und im kleinsten nicht möglich war, so versteckte sich die alte Sehnsucht nach neuem Lebensgehalte hinter der Wortfolge: Erziehung[259] des Menschengeschlechts. Lessing, der diese Wortfolge prägte, war sich doch wohl nicht klar darüber, daß in dem Begriffe Menschengeschlecht (man dachte Menschenwürde mit und Brüderlichkeit und Gleichheit und Negerbefreiung und »Seid umschlungen, Millionen«) eine gottlose, revolutionäre Aufhebung der historisch gewordenen Rassenunterschiede steckte, wobei die altchristliche Vorstellung von den Kindern eines Vaters kaum oder doch höchstens unbewußt noch mitwirkte, daß dagegen Erziehung einen Erzieher voraussetzte, daß der Erzieher der ganzen Menschheit oder der Geist der Geschichte gar kein anderer sein konnte, als der durch den Rationalismus langsam vom Throne gestoßene persönliche liebe Gott1.

Die Verwirrung des Sprachgebrauchs steigert sich, je mehr der Begriff Kultur zu einer Modesache wird; ja man kann sagen: je mehr die Wissenschaft sich des Begriffes annimmt. Wir besitzen jetzt eine große wissenschaftliche Disziplin, die sich Kulturgeschichte nennt, und die immer in Verlegenheit gerät, wenn sie Kultur definieren soll. Das Wort Kultur sollte ursprünglich einen Gegensatz zur Natur darstellen; die Kulturgeschichte setzte[260] sich aber der Staatengeschichte entgegen und nahm es unter ihre ersten Aufgaben auf, die Entwicklung der Menschheit oder eine Philosophie der Geschichte der Menschheit, also wieder eine Erziehung des Menschengeschlechts durch einen Erzieher, aus den natürlichen Bedingungen des Völkerlebens herzuleiten. Mit den Versuchen einer Sittengeschichte fing es an, bei Montesquieu, bei Voltaire und bei Herder; aber immer deutlicher wandte sich die Aufmerksamkeit den natürlichen Bodenschätzen und dem Klima der Länder zu; Buckle gab das glänzende Beispiel einer solchen natürlichen Kulturgeschichte, und Ratzel schuf die Disziplin der Anthropogeographie, die zwischen Kultur und Natur keinen Unterschied mehr machte. Ebenso verwischte sich der anfängliche Gegensatz zwischen Kultur und Zivilisation.

Was man jetzt unter der Kultur eines Volkes versteht, das dürfte ungefähr auf eine bildliche Anwendung des Wortes Leben hinauslaufen; im eigentlichen Sinne ist Leben ein physiologischer Begriff und bezieht sich nur auf das Individuum; wie ein Volk lebt, abgesehen von den physiologischen Bedingungen des Einzellebens, das etwa faßt man unter dem Begriffe Kultur zusammen. Wie und was wir essen und trinken, wie und was wir lernen, wie und was wir glauben, wie und wohin wir reisen, wie wir uns kleiden, wie wir wohnen, wie wir unsere Nächte erhellen, womit wir spielen und uns künstlerisch erheben, wie wir Kriege führen, das alles und hundert andere Äußerungen unseres Lebens benennen wir mit dem Summenworte Kultur. Noch kurz vorher nannte man alle diese Lebensäußerungen die Sitten der Völker. Und weil man die eigene Sitte gern mit einem besondern Worte von fremden Sitten unterscheidet, so wie man den eigenen Aberglauben gern den richtigen Glauben nennt, so stellte sich für die eigene Sitte allmählich das Wort Kultur ein. Die rechte Höhe war immer die, zu welcher wir uns just entwickelt hatten, zu der sich zu erheben die Pflicht der Menschheit gewesen war. So schlich sich in den Kulturbegriff heimlich der Sollbegriff ein, und mit allen Leichen des Sollbegriffs wurde die Kultur belastet, die doch nur das Leben bedeutet hatte. Freilich: das höhere Leben, welches schon nach dem Sollbegriff schielte.[261] Man darf sich nicht wundern, daß jeder Schriftsteller seinen persönlichen Sollbegriff bei seinem Kulturbegriffe mitverstand: da wird vom Zwecke des Lebens, vom Sinne des Daseins, vom Weltgeiste, vom höchsten Gute, von den Gütern, welche allen Gliedern einer Gesellschaft am Herzen liegen sollten, geredet; und Nietzsche darf gar, der Künstler, »die Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäußerungen eines Volkes« die Kultur dieses Volkes nennen. Dann hat man sich wieder des Gegensatzes von Natur und Kultur erinnert und neuerdings anstatt von Natur- und Geisteswissenschaften nur noch von Natur- und Kulturwissenschaften gesprochen. Die unklare Gruppe der alten Geisteswissenschaften ist freilich durch die neue Bezeichnung nicht besser bestimmt worden.

Eine kleine sprachliche Bemerkung mag den Grund bezeichnen, der eine Verständigung über den Kulturbegriff verhindert. Kultur, in der Einzahl und ohne Artikel, bedeutet in noch höherm Maße als das geschätzte Wort Bildung einen Höhepunkt, eine Sehnsucht, ein Ziel, eigentlich einen Grenzbegriff für das Leben der Völker; eine Aufgabe, eine Pflicht, ein Sollen; ein Volk, ein Mensch soll Kultur haben. Nur daß niemand genau zu sagen weiß, was Kultur im Grunde sei. Abgesehen davon, objektiv, hat jedes Volk irgendeine Kultur, irgendeine Summe von Sitten, und mit diesen Sitten oder Kulturen beschäftigt sich die vergleichende Kulturwissenschaft. Wir haben hier also wieder den gar nicht so seltenen Fall, daß die Mehrzahl gar nicht die Mehrheit der Einzahl ausdrückt. Kultur ist der Sollzustand, zu welchem sich ein Mensch oder ein Volk hinaufentwickeln mag; die Kulturen der verschiedenen Völker bezeichnen einen Istzustand. Menschenfresserei kann einer bestimmten Kultur angehören, beileibe aber nicht einem Volke, welches Kultur hat.

Völlig identifiziert ist Kultur und Bildung in dem Titel eines neuen und (um vieler wertvoller Monographien willen) mit Recht gerühmten Buchhändlerunternehmens, das sich »Die Kultur der Gegenwart« nennt. Ob der Erfinder des Titels wohl daran gedacht hat, zwischen der Einzahl Kultur und der Mehrzahl Kulturen so scharf zu unterscheiden, wie es nötig war? Ob alle[262] die optimistischen Historiker, die sich da zur Herstellung eines systematisch geordneten Konversationslexikons zusammenfanden, gleichmäßig darüber staunten, wie wir's zuletzt so herrlich weit gebracht? Übrigens: Titel sind Modesache. »Die Bildung der Gegenwart« hätte gar zu populär geklungen. »Der Zeitgeist der Jetztzeit« wäre ehrlich gewesen und wäre verlacht worden. Für diejenigen meiner Leser, welche über den Gebrauch tönender Wortschälle ein wenig lachen gelernt haben, setze ich ohne jeden störenden Kommentar die beiden ersten Sätzchen dieses vortrefflichen Buchhändlerunternehmens her; der ganze Aufsatz, von Lexis, beschäftigt sich mit dem »Wesen der Kultur«. Die Eingangsworte aber, die so anmutig plätschern und so ahnungslos an den Schwierigkeiten der Begriffe Natur, geistig, sittlich, Gesellschaft, Wechselwirkung, Form vorübereilen, lauten also: »Kultur ist die Erhebung des Menschen über den Naturzustand durch die Ausbildung und Betätigung seiner geistigen und sittlichen Kräfte. Sie entsteht durch das Zusammenwirken vieler innerhalb einer menschlichen Gesellschaft, die sich auch selbst wieder in Wechselwirkung mit der Kultur zu festem und hohem Formen entwickelt.«

1

Es ist bekannt, daß Lessing einen Grundgedanken seiner »Erziehung des Menschengeschlechts«, die Folge der drei Reiche, frommen christlichen Schriftstellern entlehnt hatte, vielleicht einem Kirchenvater, vielleicht einem der ketzerischen, mystischen Theologen des Mittelalters. Ich weiß nicht, ob schon auf den alten Pantheisten Amalrich von Bennes hingewiesen worden ist, der als reuiger Ketzer bald nach dem Jahre 1200 zu Paris starb. Amalrich lehrte bereits die Identität von Schöpfung und Schöpfer und erklärte in seiner innigen Erkenntnis Gottes Gewissensbisse für überflüssig. Er deutete nicht nur das Altarsakrament, sondern auch die Trinität symbolisch. Gott habe ebenso gut durch Ovidius zu uns gesprochen wie durch Augustinus. Der Vater sei in Abraham Mensch geworden und habe sich im Alten Testamente durch das Gesetz offenbart; der Sohn sei in Christus Mensch geworden und habe sich im Neuen Testamente offenbart; jetzt aber sei die Zeit des hl. Geistes angebrochen, das Gesetz und das Sakrament habe zu verschwinden. Bald darauf kam das Schlagwort vom Evangelium aeternum auf, das sich bei Lessing (§ 86) als »die Zeit eines neuen, ewigen Evangeliums« wiederfindet. Ich habe schon einmal darauf aufmerksam gemacht, daß »das dritte Reich«, welches Ibsens Kaiser Julian im Kampfe gegen das Christentum herbeisehnt, auf diese uralten Ketzereien zurückgeht.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 2, S. 258-263.
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