angeboren

[48] angeboren – ist ein natürlicher Begriff, der nur jahrhundertelang von Theologen und Moralisten so arg mißbraucht wurde, bis er dadurch den Zorn Lockes weckte. Der Sinn deckte sich ursprünglich mit dem Zeichen. Mit innatus hatte Cicero das griechische emphytos, eingepflanzt, ganz gut übersetzt, Griechen und Römer waren nicht Erkenntnistheoriker genug, um sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob nur die Anlage zu allgemeinen Vorstellungen oder ob diese Vorstellungen selbst angeboren wären. Selbst Aristoteles war nicht Rationalist genug, um die Bedeutung der Empirie zu leugnen. Erst in der christlichen Scholastik wurde die Lehre von den angeborenen Ideen der Psychologie gefährlich; angeboren, d.h. dem menschlichen Verstande anerschaffen sollten auch die moralischen Vorstellungen sein und dazu, gegen alle Erfahrung, die Erkenntnis Gottes; und da der menschliche Verstand ein von Gott geschaffenes Erkenntniswerkzeug war, so konnte dieser Verstand nichts Dummes vorstellen. Diese echt mittelalterliche Lehre war im Grunde schon von Bacon gestürzt worden, da er unter den Idolen oder Gespenstern des Denkens auch diejenigen anführte, die inhaerent naturae ipsius intellectus. Mit der ganzen Wucht seiner schon auf Sprachkritik gerichteten Überzeugung hat dann Locke dem Gerede von den angeborenen Ideen ein Ende gemacht.[48]

Nicht ganz mit Recht und nicht für immer. Schon Leibniz kehrte in seiner kritischen Paraphrase Lockes sofort zu dem Empirismus des Aristoteles zurück: dans ce sens on doit dire que toute l'arithmétique et toute la géometrie sont innées et sont en nous d'une manière virtuelle (Arist. hatte gesagt dynamei), en sorte qu'on les y peut trouver en considérant attentivement et rangeant ce qu'on a déjà dans l'esprit. Und Hume suchte klar zwischen den angeborenen Sinneseindrücken und den nichtangeborenen Begriffen zu unterscheiden.

Locke beseitigte das Wort so wenig, daß just das 18. Jahrhundert, und just auf dem unbestrittensten Gebiet der Konvention, der Jurisprudenz, den Begriff der angeborenen Rechte ausbildete, die dann in der Zeit der großen Revolution als Menschenrechte besonders wirksam wurden.

Seit Spencer ist es nun geläufig, von ererbten anstatt von angeborenen Ideen zu sprechen. Vererbung oder Entwicklung ist an die Stelle eines Schöpfers getreten. Man könnte auch von entwickelten Ideen reden. Die Erfahrung aller Vorfahren hat unsere Ideen geschaffen, nicht mit Allweisheit, aber doch mit soviel Weisheit, daß unsere ererbten Ideen vom Guten weise genug sind. Und niemand hat noch daran gedacht, an der psychologischen Vererbung die gleiche Kritik zu üben, die Locke an die angeborenen Ideen wenden mußte. »Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.« Und niemand scheint noch zu wissen, daß den Ideen gegenüber Ererben, Erwerben und Besitzen fast dasselbe sagen will.

Und niemand scheint noch die Lehre beherzigt zu haben, daß Kant mit seiner tiefen Deutung, alle Formen oder Gestaltungen unserer Erfahrung seien apriorisch, alle Kategorien der Erfahrung wieder für angeboren oder ererbt erklärt hat, daß angeboren und apriorisch synonyme Begriffe sind (für die menschlichen Anlagen), daß wir also wenig Aussicht haben, die angeborenen Ideen, die totgesagten, los zu werden.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 1, S. 48-49.
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