fringe

[521] fringe – Das englische Wort ist meines Wissens von William James zuerst in die Psychologie eingeführt worden; es sollte besagen, daß die Lehre von der Klarheit und Distinktheit unsrer Vorstellungen unhaltbar sei, daß jede unsrer Vorstellungen im Strome des Bewußtseins von ihren Relationen gefärbt werde. Die amerikanischen Psychologen haben mit ihrem Pragmatismus wohl nur ein neues Wort für eine alte und populäre Weltanschauung gebildet (vgl. Art. Pragmatismus). Aber um die Psychologie haben sie ein Verdienst, das unser Kontinent, der alte, nur ungern zugesteht: sie haben scholastische Rückstände in den elementarsten Begriffen unsrer Psychologie nachgewiesen und so, ohne es ausdrücklich zu[521] sagen. Sprachkritik getrieben. Das Bild vom fringe gehört eng zu ihrer Kritik des Bewußtseinsbegriffs.

Ich gebrauche hier das englische Wort, weil die deutsche Übersetzung Franse oder Franje (Psychologie von William James, übersetzt von Dr. Marie Dürr, S. 161) nicht ganz deutsch ist. Und ein Beispiel dazu für die fringes der vermeintlich gleichbedeutenden Worte verschiedener Sprachen. Fringe bedeutet im Englischen wohl Franse; idiot fringes ist ganz genau mit Simpelfransen oder Trottelfransen in Nord- und Süddeutschland zu übersetzen gewesen; aber fringe wurde im Englischen auch schon als technischer Ausdruck der Optik für den Hof heller und dunkler Streifen gebraucht, der durch Interferenz des Lichtes erzeugt wird; so konnte James den Bedeutungswandel noch weiter ausdehnen und eben den Hof von Relationen, der jede Vorstellung im Bewußtsein umgibt, die fringe dieser Vorstellung nennen; an der entscheidenden Stelle (S. 164) wird James übrigens wieder unsicher und nennt diesen Hof von Relationen mit einem akustischen Bilde den psychischen Oberton der Vorstellung. Vielleicht wäre das zur Erklärung herbeigezogene Wort Hof besser gewesen; wir sprechen nicht nur von einem Hofe um die Sonne und den Mond, sondern auch von einem Hofe um die Augen, von einem Hofe um die Brustwarze; immer meinen wir die Umgebung, welche eine scharfe Begrenzung verhindert; und etwas andres meinte auch James mit fringe nicht. In diesen fringes der Vorstellungen finden die sonst unnennbaren Relationen ihre psychische Vertretung. »Was zugegeben werden muß, ist, daß die bestimmten Bilder der traditionellen Psychologie nur den kleinsten Teil unsres tatsächlichen Seelenlebens ausmachen. Die Ansicht der traditionellen Psychologie gleicht derjenigen, wonach ein Fluß lediglich aus so und soviel Löffeln, Krügen, Eimern, Fässern oder sonstigen Gefäßen voll Wasser bestünde. Auch wenn die betreffenden Gefäße alle tatsächlich in dem Strom ständen, würde das freie Wasser doch fortfahren, zwischen ihnen hindurch zu fließen. Gerade dasjenige, was diesem freien Wasser im Bewußtsein entspricht, ist es, was die Psychologen[522] so standhaft übersehen. Jedes bestimmte Bild in unserm Geist wird von dem freien Wasser, das es umspült, benetzt und gefärbt.«

Ich habe das Bild vom fringe übernommen, weil es mir sehr gut die Unbestimmtheit oder das Schweben aller unsrer Begriffe oder Worte zu veranschaulichen scheint. Die Unbestimmtheit, die die Worte der Sprache zu so schlechten Werkzeugen der Welterkenntnis machte, und zu so guten Mitteln der Poesie oder Wortkunst. (Vgl. Kr. d. Spr. I² 97 ff. und Art. Poesie.) Und James selbst scheint bei seinen Ausführungen, die an dieser Stelle besonders fein sind, mehr die Worte als unbenannte Vorstellungen im Sinne zu haben. Er nimmt sein bestes Beispiel von dem Zustande, in dem wir uns auf einen vergessenen Namen zu besinnen suchen. Es ist eine Leere vorhanden; aber keine bloße Leere. Will sich uns ein falscher Name aufdrängen, so paßt er in die ganz eigenartig bestimmte Leere nicht hinein und wird verworfen. »Die Leere, die dem Suchen des einen Wortes entspricht, macht uns nicht denselben Eindruck, wie diejenige, welche einem andern Worte zugehört, so inhaltslos auch die beiden notwendig erscheinen müssen, wenn man sie einfach als Lücken bezeichnet.« So kann das Bewußtsein in jedem Momente von etwas gefärbt werden, was noch gar nicht da ist. »Man kann annehmen, daß ein gutes Drittel unsres psychischen Lebens aus diesen flüchtigen, kritisch wirksamen Überblicken noch nicht formulierter Gedankenreihen besteht.« Daraus glaubt James es erklären zu können, daß man beim Vorlesen eines unbekannten Buches richtig betont; die Form wenigstens des kommenden Satzes ist schon im Bewußtsein. Man kann sogar richtig betonen, ohne den Sinn des Buches zu verstehen. James versucht, diese Theorie durch die drei Gehirnwellen dreier aufeinander folgenden Eindrücke deutlich zu machen: die Welle des ersten Eindrucks ist noch nicht abgelaufen, die Welle des dritten Eindrucks hat schon begonnen, wenn die Welle des zweiten Eindrucks ihren höchsten oder stärksten Punkt erreicht hat. James hält das Bild vom fringe, vom Hof, vom Saum, oder[523] wie immer man es nennen will, für eine genau entsprechende Darstellung auch des physiologischen Gehirnvorgangs. »Wie das verklingende Wissen des Woher, das Bewußtsein des Ausgangspunktes eines geistigen Verlaufs wahrscheinlich beruht auf dem Verzittern der Erregungsprozesse, die nur einen Augenblick vorher in voller Lebendigkeit vorhanden waren, so muß das Bewußtsein des Wohin, die Vorahnung des Endziels, bedingt sein durch die anklingende Erregung von Nervenfasern oder Prozessen, deren psychisches Korrelat einen Augenblick später die lebendige Gegenwart unsres Bewußtseins bildet.«

Ich glaube, die von James gezeichnete Kurve ist nur ein Bild des Vorgangs, ein ganz schematisches Bild, weil der Vorgang in der psychologischen Wirklichkeit immer viel verwickelter sein wird. Aber das Bild ist anschaulich und brauchbar und läßt sich auf die Unbestimmtheit der Wortbedeutungen übertragen. Gerade in den wichtigsten und reichsten Worten der Sprache gibt es einen ewigen Strom des Bedeutungswandels; die vergangenen Bedeutungen zittern nach, die künftige Bedeutung klingt an, und nur eine fest umrissene gegenwärtige Bedeutung gibt es nicht. Und darum ist der Poet dem Philosophen so überlegen in der Handhabung der Sprache. Diese Wellentheorie ließe sich recht gut verbinden mit der ganz anders entstandenen und vorgestellten Wellentheorie, die Johannes Schmidt erfunden hat, um den Verlegenheiten der angeblichen Sprachverwandtschaft zu entgehen; auch Volkssprachen befinden sich in einem ewigen Flusse, und in ihren Wortgruppen zittert die Herkunft nach und klingt der neue nationale Geist an, lange bevor die neue Volkssprache ein geschlossenes Ganzes geworden ist.

Doch es würde sich vielleicht empfehlen, die Wellentheorie der fringes noch viel weiter auszudehnen: auf die Art, wie aus den Schwingungen der Wirklichkeitswelt die so ganz andern, qualitativ bestimmten Sinneseindrücke entstehen. Wie sich Luftschwingungen zu Tonempfindungen wandeln, die sogenannten Ätherschwingungen zu Farbenempfindungen. Wir[524] haben keine Möglichkeit, den Übergang von den vorausgesetzten mechanischen Schwingungen zu den wahrgenommenen Empfindungen zu begreifen; wir könnten aber einstweilen sagen, daß unsere Sinnesorgane dazu eingerichtet sind, nicht die einzelnen Schwingungsstöße zu fassen, sondern nur die Höfe oder fringes dieser Schwingungsstöße, die über den Schwingungsmomenten schweben wie der dauernde Regenbogen über den fallenden und wechselnden Wassertropfen. Mehr als diese Anregung zu einem Gedanken wage ich nicht.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 1, S. 521-525.
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