kategorisch

[204] kategorisch – Ein altes griechisches Wort, vom öffentlichen Treiben des Athenischen Marktes hergenommen, lebt unter uns in zwei Bedeutungen fort, die miteinander gar nichts mehr zu tun haben und wahrlich an die agora von Athen nicht mehr erinnern. Von Kategorien und von dem kategorischen Imperative hat jeder Deutsche einmal reden gehört, der nur Zeitungen liest und Bezirksversammlungen besucht. Unter Kategorien verstand Aristoteles und versteht so ungefähr heute noch die Schulphilosophie die obersten Begriffe, die sich von einem Subjekte aussagen lassen; ich habe nicht die Absicht, diesen Scheinbegriff zu kritisieren; seine Geschichte, leider nicht auch die ganze Wortgeschichte, ist von Trendelenburg meisterlich dargestellt worden. In die deutsche Gemeinsprache ist der Ausdruck durch einen ganz gewöhnlichen Bedeutungswandel gekommen; die Kategorien bedeuteten in der Metaphysik die obersten Klassen, unter die sich Dinge und Gedankendinge etwa ordnen lassen; da nun die Metaphysiker, nicht nur die deutschen, Orden und Titel zu den wichtigen Dingen oder Gedankendingen zu rechnen geneigt sind, so unterschied und unterscheidet man solche Ehrungen nach Kategorien, und in Frankreich ist der alte Terminus fast noch geläufiger geworden: de même catégorie heißt soviel wie bei uns[204] eines Gelichters. In diesem Sinne deckt sich der neuere Gebrauch immer noch so ziemlich mit der alten Bedeutung: Aussage, Prädikat. Nennt man doch im Deutschen auch einen verliehenen Titel gern ein Prädikat.

Der grammatische Begriff der Aussage oder des Prädikats bildet die Brücke von den Kategorien zu der seltsamen Bezeichnung: kategorischer Imperativ. Die formale Logik unterscheidet bekanntlich viermal drei, also zwölf Urteilsformen; unter ihnen hießen die Formen, die sich auf das Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat bezogen: das kategorische, das hypothetische und das disjunktive Urteil. Da nun das hypothetische Schließen bei den alten Logikern sehr schlecht in Regeln gebracht war, da das disjunktive Schließen sich noch schlechter den Regeln der elementaren Logik fügte, mußten die kategorischen Urteile und Schlüsse die Hauptmasse aller logischen Denkübungen bilden. Das deckte sich auch recht gut mit dem griechischen Sprachgebrauche, in welchem katêgorein von der Bedeutung anklagen auf einem Wege, den wir nicht mehr genau kennen, zu der Bedeutung die Wahrheit sagen, aussagen, prädizieren gekommen war; die Stoiker besonders unterschieden zwischen einem kategorischen Urteil (sie kannten eine Abart: das kategoreutische Urteil) und dem unbestimmten, dem aoristischen Urteil. Eigentlich fügt die Bezeichnung kategorisch zu dem so benannten Urteile nichts Neues hinzu; wie der Schwur, so bekräftigt auch der Ausdruck kategorisch nur die Giltigkeit eines Satzes; die Evangelien lehnen den Schwur ab und machen auch vom Terminus kategorisch keinen Gebrauch.

Der neuere Sprachgebrauch, der die Bezeichnung kategorisch nicht mehr so häufig auf Aussagen bezieht wie auf Befehle, geht offenbar auf die Popularität zurück, deren sich Kants Schlagwort vom kategorischen Imperativ so lange erfreute. Man sagt jetzt, der Herr habe etwas kategorisch verlangt, als ob das Wort jemals die Bedeutung streng gehabt hätte; das Substantiv Imperativ hat diesen Bedeutungswandel an seinem epitheton ornans kategorisch bewirkt. Kant selbst aber hat das Wort so aufgenommen, wie er es in der Logik vorfand; hat dem Worte aber[205] sofort einen Gefühlston gegeben, den es vorher nicht besaß. Ich will das genau aufzeigen, mit Kants eigenen Worten, und vorläufig auf jede Kritik des Begriffs verzichten.

Die entscheidenden Stellen finden sich in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, im zweiten Abschnitt. Es ist bezeichnend für die unvergleichliche Überlegenheit des Kantschen Denkens und für die langsame Versteinerung seiner Sprache, daß Kant fünfzehn Jahre vor der Veröffentlichung der Schrift (in einem Briefe an Lambert vom 2. Dezember 1770) davon spricht, er werde demnächst »gleichsam die Metaphysik der Sitten ausfertigen«; 1785 schrieb er dann eine richtige Metaphysik, nicht mehr gleichsam. Er hatte inzwischen die Kritik der reinen Vernunft vollendet und fühlte sich stark genug, das Prinzip der Moral a priori zu finden.

In dem zweiten Abschnitt geht er von dem Begriffe des Imperativs aus. Was wir uns als eine Nötigung für den Willen vorstellen, heißt ein Gebot, und die Formel des Gebots heißt Imperativ. Für den göttlichen und überhaupt für einen heiligen Willen gibt es kein Soll, »weil das Wollen schon von selbst mit dem Gesetz notwendig einstimmig ist«. Die Imperativen gelten also nur für die armen sündigen Menschen. »Alle Imperativen nun gebieten entweder hypothetisch, oder kategorisch... wenn die Handlung bloß wozu anders als Mittel gut sein würde, so ist der Imperativ hypothetisch; wird sie als an sich gut vorgestellt, mithin als notwendig in einem an sich der Vernunft gemäßen Willen, als Prinzip desselben, so ist er kategorisch.« Man sieht, Kant überträgt einfach die logischen Bezeichnungen für die beiden wichtigsten Urteilsformen der Relation auf die Befehlsformen der Moral; nicht mit Unrecht, weil er doch den sittlichen Befehl nur als Formel aufzufassen gelehrt hat. Er geht noch weiter in der Benützung logischer Ausdrücke: der hypothetische Imperativ kann (nach den Urteilsformen der Modalität) entweder problematisch oder assertorisch sein; der kategorische Imperativ ist seiner Modalität nach apodiktisch. Problematisch sind die Imperativen der Geschicklichkeit, der Technik; es sind Regeln. Nur auf das Mittel kommt es an, nicht auf den Zweck. »Die[206] Vorschriften für den Arzt, um seinen Mann auf gründliche Art gesund zu machen, und für einen Giftmischer, um ihn sicher zu töten, sind insofern von gleichem Wert, als eine jede dazu dient, ihre Absicht vollkommen zu bewirken.« Das assertorische Prinzip bezieht sich auf die Wahl der Mittel zur eigenen Glückseligkeit, gibt Regeln der Klugheit. Die Regeln der Technik und eigentlich auch die Ratschläge der Klugheit sind analytischer Art, weil das Mittel aus dem Zweck erschlossen werden kann. Das Gesetz der Sittlichkeit ist nicht analytisch, ist auch nicht empirisch; es ist ein synthetischer Satz a priori; man sieht, wie an der Architektur der Vernunftkritik weiter gebaut wird. Dieses sittliche Gesetz ist keine technische Regel, ist kein Rat der Klugheit, ist ein unbedingter Imperativ. »Dieser Imperativ ist also kategorisch. Er betrifft nicht die Materie der Handlung und das, was aus ihr erfolgen soll, sondern die Form und das Prinzip, woraus sie selbst folgt, und das Wesentlich-Gute derselben besteht in der Gesinnung, der Erfolg mag sein, welcher er wolle. Dieser Imperativ mag der der Sittlichkeit heißen.«

Die Bezeichnung für ein unbedingtes Moralgesetz ist bei Kant also in der Weise entstanden, daß er aus guten Gründen das Wort Gesetz vermied und den grammatischen Ausdruck Imperativ gebrauchte, um in der einfachsten Weise an den Begriff des Sollens zu erinnern; daß er sodann aus der logischen Terminologie die Einteilung in kategorische und hypothetische Imperative hernahm. Aber auch den Inhalt dieses obersten Moralgesetzes hat er nur auf logischem Wege gefunden; hat logisch erschlossen, was er natürlich vorher in seiner eigenen Seelensituation vorgefunden hatte. Denn eigentlich ist in dem zweiten Abschnitte der »Grundlegung« der Inhalt des kategorischen Imperativs doch hypothetisch, ist an eine Bedingung geknüpft, an die Bedingung: daß die Begriffe Sittlichkeit und Pflicht keine Hirngespinste seien. Für die Kritik der praktischen Vernunft wird die Erfüllung dieser Bedingung aufgespart: der Beweis für die Realität der Sittlichkeit. Kant weiß auch ganz gut, daß er zu dem vermeintlich synthetischen Satze seines kategorischen Imperativs nur auf analytischem, auf logischem Wege gelangt ist (S. 96).[207]

Die Formel selbst hat Kant nicht unverändert gelassen; in immer neuen Wendungen sucht er den logisch geforderten einzigen Grundsatz, je nach dem Fortgange der Gedanken, so eindringlich wie möglich auszusprechen.

»Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.«

»Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.«

»Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.«

»Handle nach Maximen, die sich selbst zugleich als allgemeine Naturgesetze zum Gegenstand haben können.«

Man hat Kants obersten Grundsatz der Moral rigoristisch gefunden und hat diesen Rigorismus zuerst bespöttelt, dann (nach der historischen Probe von 1813) in den Himmel gehoben; man hat endlich den kategorischen Imperativ als einen untrüglichen Beweis für Kants vorbildliche Moralität hingestellt. Ich glaube, Kants Rigorismus stammt gar nicht aus seiner liebenswürdigen Natur, sondern aus dem Formalismus seines Denkens. Genau genommen hat Kants oberster Grundsatz mit Güte, mit Mitleid, mit Wohlwollen gar nichts zu schaffen; sagt er doch selbst (S. 77), daß nur Wohlwollen aus Grundsätzen einen innern Wert habe, nicht aber Wohlwollen aus Instinkt1. Logisch ist Kant zu seinem kategorischen Imperativ gekommen; und er ist wirklich[208] nur eine Formel geworden, ein leeres Blatt, auf welches die moralischen Gesetze noch zu schreiben sind. Ich habe auf diesen Formalismus in Kants praktischer Philosophie schon einmal (Kr. d. Spr. III2, 605) kurz hingewiesen. Auf die Abhängigkeit vom Worte. Schon in den gelegentlichen Beweisen für die Unmoralität etwa der Lüge oder der Unterschlagung spielt das Wort eine ähnliche Rolle wie in dem ontologischen Beweise für das Dasein Gottes. Du sollst nicht lügen, weil die Wahrheit zum Wesen der Aussage gehört; du sollst nicht unterschlagen, weil die Aufbewahrung zum Wesen des Depositums gehört. Viel tiefer ist eine ebenso leere Tautologie in Kants oberstem Grundsatze der Moral versteckt. »Unverrückbar stand es in seinem Kopfe: das gesuchte oberste Moralprinzip müßte so beschaffen sein, daß es allgemein gültig wäre; dann machte er eines Tages den Salto-mortale und verwechselte die Aufgabe mit der Lösung und glaubte sein Gesetz gefunden zu haben, als er als obersten Grundsatz aussprach: dein Moralprinzip muß allgemein gültig sein können.« Das ist der Fluch der wissenschaftlichen Sprache, daß sie uns jenseits aller Erfahrung immer die Aufgabe mit der Lösung verwechseln läßt, sich bei einem Worte beruhigt. So beruhigte sich in unsern Tagen Spencer beim Worte Evolution, das doch nichts weiter ist, als die Frage nach dem gesuchten Gesetze. Man erinnere sich auch daran, wie der alternde Ibsen in der »Frau vom Meere« die Lösung sucht, welche Ellida ohne Zwang, freiwillig zurückkehren ließe; Ibsen findet kein reales Motiv, und die Hörer müssen sich bei dem Worte Freiwilligkeit beruhigen. Die meisten großen Worte unsrer Sprache, auch wenn sie nicht als Worte des Wahns erkannt worden sind, gelten für eine Antwort, wenn die Frage nur mit dem richtigen Brustton gestellt worden ist; gelten für eine Lösung, wenn die Aufgabe den Forscher ermüdet hat.

Die allzu logische Herstellung des kategorischen Imperativs, der offenbare Intellektualismus von Kants Moral hat also zu einer leeren Tautologie geführt. Es wäre dennoch falsch, die Bedeutung des kategorischen Imperativs für seine Zeit zu unterschätzen. Damals stand das populäre Geschwätz eines Garve[209] in hohem Ansehen; Friedrich II. hatte Garves Übersetzung und Erläuterung von Ciceros Pflichten-Traktätlein persönlich in Schutz genommen; wir wissen jetzt, daß Kant mit seiner »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« ursprünglich eine Polemik gegen Garve verbinden wollte, und der geistreiche Ausfall »wider Nachlässigkeit oder gar niedrige Denkungsart in Aufsuchung des Prinzips« scheint mir wirklich besonders gegen Garve zu gehen (S. 61). Wir müssen dabei die Notiz Hamanns, daß Kant sich von einem sehr begreiflichen und sehr menschlichen Zorn gegen Garve anregen ließ, völlig unbeachtet lassen; denn die Schrift ist, wenn sie wirklich zuerst als Antikritik gedacht war, jedenfalls hoch über diese kleinliche Absicht hinausgewachsen. Wie in der Kritik der reinen Vernunft, so will Kant auch in der Kritik der praktischen Vernunft und in ihrer Grundlegung erkenntnistheoretische Arbeit leisten; und hat hier wie dort den zweifachen Kampf gegen den leichtgläubigen Dogmatismus und gegen den platten Empirismus aufzunehmen gewagt. Er hat die Begriffswelt, die über den Worten Pflicht, Wille, Sittlichkeit, Freiheit stagnierte, von Grund aus aufgewühlt. Und er hat, wie schon erwähnt, die leere Tautologie des kategorischen Imperativs aus seiner eigenen sittlichen Sehnsucht heraus so neu getönt, daß eine ganze Generation sich an diesem Scheinbegriff erheben konnte.

Die Leerheit des Begriffs hat es nun verschuldet, daß entgegengesetzte Richtungen bewußten Handelns sich auf Kant beriefen oder doch hätten berufen können: der Individualismus und der Sozialismus. Auf der spitzigen Höhe des Individualismus hätte der Übermensch sagen können: ich nehme den kategorischen Imperativ auch für mich in Anspruch; denn ich handle nur nach derjenigen Maxime, durch die ich zugleich wollen kann, daß sie ein allgemeines Gesetz werde; handelt mein Nebenmensch nach der gleichen Maxime, so schlage ich ihn nieder, ohne ihn darum gering zu schätzen. Auf den kategorischen Imperativ darf sich jede Überzeugung berufen. Der Sozialismus scheint aber mit der Forderung, daß das allgemeine Interesse das individuelle Handeln lenken müsse, dem kategorischen Imperativ ganz[210] vorzüglich zu entsprechen. Simmel (Kant, S. 95) hat geradezu gesagt, der Sozialismus sei »die engere zeitgeschichtliche Form für jenen allgemeinen Imperativ der Sittlichkeit, den Kant zeitlos, weil bloß als logisch-konsequente Deutung des Pflichtbegriffs überhaupt aufstellt«. Kant hätte wohl den altruistischen Sozialismus als einen der vielen Verkünder des ewigen Friedens freundlicher bewertet als den egoistischen Individualismus; aber beide Prinzipien des Handelns hätte er der Welt der Empirie zuweisen müssen, mit der seine Metaphysik der Sitten nichts zu tun haben will. Die politische und die wirtschaftliche Freiheit des Sozialismus, diese ehrlich negativen Begriffe, reichen an den metaphysischen und darum positiven Begriff nicht heran, zu dem die Freiheit, die innere Autonomie des Willens, bei Kant geworden ist. Trotzdem führt ein Weg, ein Weg von Worten, aus der sittlichen Sehnsucht Kants, die er in seinem kategorischen Imperativ zu dem höchsten moralischen Weltgesetze zu formen gedachte, zu der Soziologie unsrer Tage. Unter Friedrich dem Großen, dem skeptischen Pflichtmenschen, war Kants »Grundlegung« noch entstanden; so logisch, so scholastisch eigentlich, daß man die Herzenssehnsucht nach einem Leben unter guten Menschen hinter dem starren Rigorismus nicht gleich entdeckte. Schiller und Fichte, einem Kant an erkenntnistheoretischer Geisteskraft nicht gewachsen, an Charakterkraft ihm ebenbürtig, verbreiteten dann den Glauben an den kategorischen Imperativ unter der halbgebildeten Menge; und es ist keine Unwahrheit, daß die so schmählich betrogenen Kämpfer um die deutsche Freiheit 1813 (zufällig zuerst in Kants Heimat) vom Glauben an den kategorischen Imperativ mit beeinflußt wurden. Wieder wurde in die leere Tautologie die Sehnsucht starker Menschen eingefühlt. Der Scheinbegriff konnte wirksam werden, weil eine reale Sehnsucht aus ihm zu sprechen schien. Und als aus dem kategorischen Imperativ der Altruismus des Sozialismus wurde, da war wieder eine reale Sehnsucht starker Menschen (wie bei Kant selbst) vorausgegangen und erschloß logisch aus tautologischen Sätzen, was sie hineingelegt hatte.[211] Schiller, auf dessen radikale Jugenddramen sich der moderne Sozialismus gern beruft, der aber später der Popularisator des formalen kategorischen Imperativs wurde, Schiller, der dann seine Lieblingshelden zu Verkündigern des kategorischen Imperativs machte, wendete Kants oberste Maxime übermenschlich, über die Kraft, gegen seine eigene Persönlichkeit, und unterlag, wie wir aus einem Zeugnisse Goethes erfahren. Goethes unsystematische Weisheit kann uns wieder einmal über Schiller, auch über Kant hinausweisen. Die Stelle will nicht recht zu den offiziösen Darstellungen passen, die man von der Beziehung Goethes zu Kant und zu Schiller gegeben hat; sie ist aber auch nicht so spöttisch gemeint, wie man glauben sollte. Der Greis Goethe unterhält sich mit Eckermann oder vielmehr zu Eckermann (18. Januar 1827) über Schiller. Von dem Begriffe der Freiheit war das Gespräch ausgegangen. »In seinem reifem Leben, wo er der physischen Freiheit genug hatte, ging er zur ideellen über, und ich möchte fast sagen, daß diese Idee ihn getötet hat; denn er machte dadurch Anforderungen an seine physische Natur, die für seine Kräfte zu gewaltsam waren.« Das vom Herzog ausgesetzte Gehalt sei für die Existenz der Familie nicht ausreichend gewesen; Schiller habe die Pflicht gefühlt, das Fehlende durch Arbeit zu ersetzen; sein Talent sollte ihm zu jeder Stunde gehorchen und zu Gebote stehen, auch in solchen Tagen und Wochen, in denen er nicht wohl war. »Schiller hat nie viel getrunken, er war sehr mäßig; aber in solchen Augenblicken körperlicher Schwäche suchte er seine Kräfte durch etwas Likör und ähnliches Spirituoses zu steigern. Dies aber zehrte an seiner Gesundheit und war auch den Produktionen selbst schädlich.«

»Denn was gescheite Köpfe an seinen Sachen aussetzen, leite ich aus dieser Quelle her. Alle solche Stellen, von denen sie sagen, daß sie nicht just sind, möchte ich pathologische nennen, indem er sie nämlich an solchen Tagen geschrieben hat, wo es ihm an Kräften fehlte, um die rechten und wahren Motive zu finden. Ich habe vor dem kategorischen Imperativ allen Respekt; ich weiß, wieviel Gutes aus ihm hervorgehen kann,[212] allein man muß es damit nicht zu weit treiben; denn sonst führt diese Idee der ideellen Freiheit sicher zu nichts Gutem.«

Denkt man diesen wie behaglich hingeplauderten Worten Goethes ernsthaft nach, so erkennt man vielleicht, daß Kant mit seiner Sehnsucht nach einem einfachen und obersten Moralprinzip, mit seinem Saltomortale über den Menschen hinaus, doch wohl auch ein Kind der Geniezeit war und in seiner Weise mit seinem kategorischen Imperativ den Übermenschen lehrte; und der weise Goethe scheint über Kant und Schiller hinauszuwachsen, wie der Erdgeist über den Übermenschen Faust. Die Moral braucht ja so große, so kategorische Worte. Zwischen den handelnden Menschen aber ist der Mensch in der Hand oft mehr wert als der Übermensch auf dem Dache.

1

Kant wendet sich auch sehr scharf (S. 91) gegen die Berufung auf das moralische Gefühl, »diesen vermeintlichen besondern Sinn«, weil das Fühlen keinen so guten Maßstab abgeben könne wie das Denken; aber immerhin sei der moralische Sinn der Sittlichkeit und ihrer Würde näher als der Utilitarismus. Kant nennt Hutcheson, auf den das Prinzip des Altruismus gewöhnlich zurückgeführt wird; man müsse das Prinzip der Teilnehmung an anderer Glückseligkeit mit Hutcheson zu dem von ihm angenommenen moralischen Sinne rechnen. Ich habe bei früherer Gelegenheit (Vergl. Art. Hemsterhuis' »Organe moral«) Hutcheson nicht erwähnt, weil es mir dort zunächst um die Beziehungen zwischen Lessing und Hemsterhuis zu tun war; wortgeschichtlich geht aber das organe moral doch wohl auf Hutcheson zurück.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 2, S. 204-213.
Lizenz:
Faksimiles:
204 | 205 | 206 | 207 | 208 | 209 | 210 | 211 | 212 | 213
Kategorien:

Buchempfehlung

Klopstock, Friedrich Gottlieb

Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne

Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne

Von einem Felsgipfel im Teutoburger Wald im Jahre 9 n.Chr. beobachten Barden die entscheidende Schlacht, in der Arminius der Cheruskerfürst das römische Heer vernichtet. Klopstock schrieb dieses - für ihn bezeichnende - vaterländische Weihespiel in den Jahren 1766 und 1767 in Kopenhagen, wo ihm der dänische König eine Pension gewährt hatte.

76 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon