paradox

[518] paradox – war schon den Griechen ein geläufiges Wort und bezeichnete ihnen, was para doxan war, gegen die allgemeine Meinung, also gegen die Erwartung, was unglaublich, was wunderbar war; die Lateiner übernahmen das Wort in griechischer Form und machten es beinahe zu einem technischen Ausdruck des Sports (paradoxos konnte beim Wettkampfe denjenigen bezeichnen, der wider Erwarten siegte, beinahe wie englisch outsider im Gegensatze zu favourite das vorher unbeachtete Pferd bedeuten kann, das nachher den Sieg davonträgt), der Rhetorik (die Redefigur der Spannung) und endlich der Schriftstellerei, da eine Sammlung rhetorisch überraschender Sätze gern mit dem Titel paradoxa benannt wurde, was Cicero umständlich so übersetzt: quae sunt mirabilia contraque opinionem omnium. Von den Römern ist der Ausdruck zu den modernen Kulturvölkern übergegangen, doch so, daß sowohl überraschende Behauptungen paradox genannt wurden, als Menschen, die solche Behauptungen[518] aus Eitelkeit vorzutragen lieben. Man nennt also gegenwärtig paradox die neuen Wahrheiten, solange sie noch der allgemeinen Meinung widersprechen und noch sehr weit davon entfernt sind, Gemeinplätze geworden zu sein; man nennt paradox aber auch geistreich oder auch nur witzig geformte Unwahrheiten, mit denen eitle Leute in der Gesellschaft oder auf dem Büchermarkt eine Rolle zu spielen versuchen. Ein paradoxer Satz braucht also noch nicht wahr zu sein, was erst in unserer Zeit der aufdringlichen Paradoxien ausdrücklich gesagt zu werden brauchte; Schopenhauer war auf die Paradoxie seines Systems doch ein wenig zu stolz.

Die großen neuen Wahrheiten widersprachen freilich immer der öffentlichen Meinung der Zeit; sie mußten aber nachher von der gleichen öffentlichen Meinung als Wahrheiten anerkannt werden, trotzdem sie immer noch dem Scheine, dem Zeugnisse der menschlichen Sinne widersprachen. In diesem Sinne war es paradox, als Kopernikus den Stillstand der Sonne und die Bewegung der Erde behauptete. Freilich, der Trug der Sinne erzeugt die allgemeinste Meinung, den naiven Realismus; und was diesem widerspricht, widerspricht ganz besonders paradox der Gemeinsprache. So ist es kein Wunder, wenn paradoxe Wahrheiten der Erkenntniskritik den redenden Menschen als Paralogien oder Paralogismen, also als Symptome von Geistesstörung erscheinen.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 2, S. 518-519.
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