[191] Sollen ist mit seiner ganzen etymologischen Sippe (Schuld, I shall) und mit seiner begrifflichen (Pflicht, Gebot, Moralgesetz, kategorischer Imperativ, devoir, dovere, duty usw.) eins der[191] wunderlichsten Worte, im Deutschen sowohl wie in den andern modernen Kultursprachen. Christlich ist der Begriff und wohl gewiß aus der modernen Übersetzung des Dekalogs hergekommen, der im hebräischen Original und in der Vulgata in der Form ausgedrückt war, die man, wenn man kein Schulbub ist, Imperativ, Optativ oder Futurum nennen kann. Der französische Dekalog gebraucht einfach das Futurum: tu ne tueras usw. Aber so verchristlicht ist unsere Zeit auch noch unter der Führerschaft atheistischer Denker geblieben, daß die Moral oder die Wertlehre vom menschlichen Handeln ohne den Begriff des Sollens nicht glaubt auskommen zu können. Ich soll gilt heute noch als das Urphänomen, das darum auf nichts anderes zurückgeführt werden kann. So wie seit Descartes das cogito für das Urphänomen des Denkens galt. Wobei nicht übersehen werden sollte, daß cogito ebensowenig wie ich soll, du sollst ursprünglich ein Urteil enthält (erst der Logiker schiebt ein Urteil hinein), daß also die Logik mit solchen sprachlichen Menschenbeziehungen eigentlich nichts anfangen kann. Davon später mehr.
Ich will nun zeigen, daß die wortgeschichtliche Untersuchung des Sollbegriffs unweigerlich zu der nihilistischen Überzeugung führt, es stecke hinter diesem Begriffe überhaupt nur eine unklare Metapher und gar keine greifbare Vorstellung; ich will weiter ohne jedes Vorurteil untersuchen, ob unabhängig von der Wortgeschichte das Sollen etwa psychologisch einen Sinn habe, wie wir doch ohne Zweifel etwas wie Wollen in unserem sog. Selbstbewußtsein vorfinden. Bei dieser Bemühung wird es besonders schwer sein, die Begriffe zu definieren, weil sie zu den alleralltäglichsten Worten gehören und im Sprachgebrauche (aller modernen Kultursprachen) bald als Korrelatbegriffe auftreten, bald wieder als Gegensätze und endlich sogar als Synonyme.
Das Durcheinander des Sprachgebrauchs rührt hier, wie so oft, davon her, daß Worte aus ganz getrennten und widersprechenden Gedankengängen, aus entlegenen Wissenschaften oder Scheinwissenschaften im Laufe der Jahrhunderte in die Gemeinsprache aufgenommen wurden und sich da, nach Verlust ihrer[192] prägnanten Bedeutung, miteinander vertragen lernten. Ein Beispiel. Sollen gehört von Hause aus der Theologie an, bedeutet eine Verpflichtung oder Verschuldung des Menschen gegen Gott; »du schuldest, nicht zu töten«, hätte das soundsovielte Gebot im Geiste der althochdeutschen Sprache heißen können; und wieder bei anderer Entwicklung der Sprache hätte Schiller vielleicht seinen Satz so geformt, »der Übel größtes aber ist das Sollen«. Dagegen aber gehört das Wollen völlig in das Gebiet der psychologischen Selbstbeobachtung; und weil Selbstbeobachtung oder Psychologie wohl in der Natur des Menschen liegt, christliche Theologie jedoch eine zufällige Erscheinung der Menschengeschichte ist, so brauchte der leidige Gegensatz von wollen und sollen durchaus nicht in das Sprechen oder Denken des Menschen hineinzugehören. Das Sollen ist aber wiederum ein etwas schwächeres Müssen; der Begriff müssen gehört aber als Notwendigkeit in das Gebiet der Logik, die mit der Theologie gar nichts und mit der Psychologie alles oder nichts zu schaffen hat. Aus den unklaren Worten der Gemeinsprache baut dann aber die Moral ihre Sätze und gelangt schließlich zu Ungeheuerlichkeiten, wie »ich soll wollen« oder gar »ich. muß wollen sollen«. Es wäre nicht schwer, Kants Lehre vom kategorischen Imperativ oder dem unbedingten Sollen in solche Formeln zu fassen.
Die Konfusion geht noch weiter. Ich habe schon erwähnt, daß die zehn Gebote der Form nach als Optativ, als Imperativ oder als Futurum aufgefaßt werden können. Es heißt: Mos. II, 5, 17-19: non occides, neque moechaberis, furtumque non facies. Das Futurum spricht von Vorgängen, die man erwartet. Hai man ein Recht dazu, sie zu erwarten, so befiehlt man sie. So sind die Handlungen, die diese Vorgänge herbeiführen, eine Pflicht dessen, der zu gehorchen hat. Pflicht ist von pflegen abgeleitet; und pflegen gebrauchen wir am häufigsten, wenn wir von einer Gewohnheit oder einer Regelmäßigkeit reden, die uns das Eintreffen eines Vorgangs wieder erwarten läßt. Nicht mit Notwendigkeit. Das starre Wort Pflicht hängt also sprachlich mit einem Ungewissen Futurum zusammen. Und ganz ähnlich ist der starre Sollbegriff, das Urphänomen der sogenannten Moral,[193] in der Gemeinsprache herabgesunken zu der Redensart für etwas, was man nicht bestimmt weiß: »N. N. soll krank sein.« So können durch das eine Wort sollen Vorstellungen ausgedrückt werden, die auf dem Gebiete der Logik zwischen der sichersten Wahrheit und der äußersten Unsicherheit schwanken, auf dem Gebiete der Moral gar zwischen den Gegensätzen Freiheit und Notwendigkeit.
Pflicht ist ein christlicher Begriff, den das Altertum in solcher Erhabenheit gar nicht kannte. Erst der Stoa waren Handlungen bekannt, die man tat, weil sie schicklich waren (kathêkon) oder gar das einzig Richtige (katorthôma). Das Christentum unterschied zwar Pflichten gegen sich selbst, gegen den Nebenmenschen und gegen Gott; aber im Grunde waren alle diese Pflichten von einer hohem Gewalt auferlegt, vom allmächtigen Gott, der seine Gebote und Verbote durch furchtbare Strafen und lockende Belohnungen durchsetzen konnte. Als der Glaube an diese äußere Verpflichtung zu schwinden begann, schien durch Humanismus und Materialismus die Moral oder die Pflichtenlehre sich lockern zu wollen. Da trat der Mann auf, der untheologisch das Pflichtgefühl in der Tiefe seines Gemüts vorfand (»was Pflicht ist, bietet sich jedem von selbst dar«), der seine deutschen Zeitgenossen mit seinem Pflichtbegriff berauschte, wie nur je ein Religionsstifter mit der Anschauung Gottes berauscht hat, und der für seinen Pflichtbegriff poetische Töne fand, die seiner Sprache sonst wahrhaftig fremd waren: Kant. Die Stelle, mit der der »Beschluß« der praktischen Vernunft beginnt, ist oft zitiert worden: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir« Und fast noch dichterischer (154 f.): »Pflicht! du erhabener, großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts drohest, was natürliche Abneigung im Gemüte erregte und[194] schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern bloß ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüte Eingang findet, und doch sich selbst wider Willen, Verehrung (wenngleich nicht immer Befolgung) erwirbt, vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich im geheim ihm entgegenwirken, welches ist der deiner würdige Ursprung, und wo findet man die Wurzel deiner edlen Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz ausschlägt, und von welcher Wurzel abzustammen die unnachlaßliche Bedingung desjenigen Werts ist, den sich Menschen allein selbst geben können?«
»Es kann nichts Minderes sein, als was den Menschen über sich selbst... erhebt, was ihn an eine Ordnung der Dinge knüpft, die nur der Verstand denken kann... Es ist nichts anderes als die Persönlichkeit, d. i. die Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanism der ganzen Natur...; da es denn nicht zu verwundern ist, wenn der Mensch, als zu beiden Welten gehörig, sein eigenes Wesen, in Beziehung auf seine zweite und höchste Bestimmung, nicht anders als mit Verehrung und die Gesetze derselben mit der höchsten Achtung betrachten muß... Das moralische Gesetz ist heilig« (Prakt. Vern. 2 154 f.).
An einer andern Stelle (Ü. d. Deutlichkeit d. Grundsätze § 2) drückt sich Kant über die zweifache Bedeutung des Sollbegriffs philosophischer aus. »Ich soll entweder etwas tun (als ein Mittel), wenn ich etwas anderes (als einen Zweck) will; oder ich soll unmittelbar etwas anderes [anderes ist wohl ein Lapsus des Drucks und sollte getilgt werden] (als einen Zweck) tun und wirklich machen.« Und der ganze Tiefsinn Kants, der ihn befähigte, über seiner eigenen moralischen Verstiegenheit zu stehen, ist vielleicht verborgen in einem Satze der Grundlegung z. Metaph. d. Sitten: »Das moralische Sollen ist also eigenes notwendiges Wollen als Gliedes einer intelligibeln Welt und wird nur sofern von ihm als Sollen gedacht, als es sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet.«
In der Gefolgschaft Kants finden wir die großen sittlichen Charaktere der Dichter (bei Schiller und auch bei Kleist), finden wir den kategorischen Imperativ der Pflicht, wie er in Fichte und[195] in einigen Führern der Freiheitskriege lebendig wird. Max Piccolomini wird das Ideal eines Helden. In der Prosa der Moralprediger und in der Moralphilosophie der folgenden Zeit sinkt dieser fast religiöse Aufschwung Kants zur hohlen Phrase hinunter. Ein Engländer, der von Locke und Hume abgefallen ist, Bentham, schreibt eine Deontologie. Das christliche Verhältnis zu Gott ist nicht mehr vorhanden, der Altruismus ist noch nicht entdeckt, es steht dem Verpflichteten kein Berechtigter gegenüber, und so wird die Pflichtenlehre zu einem leeren Gerede. Selbst Fichte, wo er nicht ins Leben eingreift, stellt unmögliche Forderungen auf. Die Außenwelt sei nur das versinnbildlichte Material unserer Pflicht; die Pflicht sei der Zweck des Lebens. Und Schleiermacher, der gute und milde, findet das Pfaffenwort: »Handle in jedem Augenblick mit der ganzen sittlichen Kraft und die ganze sittliche Aufgabe anstrebend.« In jedem Augenblick! Der edelste Mensch müßte zum Schuft werden vor einer solchen Pflichtenlehre.
Schopenhauer war der erste, der den schreienden Widerspruch in dem unbedingten Sollen, dem kategorischen Imperativ, bei Kant tadelte. Ein unbedingtes Soll sei ein Szepter aus hölzernem Eisen. »Denn im Begriff Sollen liegt durchaus und wesentlich die Rücksicht auf angedrohte Strafe oder versprochene Belohnung, als notwendige Bedingung, und ist nicht von ihm zu trennen, ohne ihn selbst aufzugeben und ihm alle Bedeutung zu nehmen: daher ist ein unbedingtes Soll eine contradictio in adjecto« (W. a. W. u. V. I, 620). Mit seinem feinen Sprachgefühl hat aber Schopenhauer zwischen den Begriffen Sollen und Pflicht unterschieden und hat damit dem gemeinen Sprachgebrauche, dem ja auch die moralischen Vorstellungen Kants entnommen waren, sein Recht gegeben. Er sagt (Grundprobl. d. Eth. 124): »Wie alles Sollen schlechterdings an eine Bedingung gebunden ist1, so auch alle Pflicht. Denn beide Begriffe sind[196] sich sehr nahe verwandt und beinahe identisch. Der einzige Unterschied zwischen ihnen möchte sein, daß Sollen überhaupt auch auf bloßem Zwange beruhen kann, Pflicht hingegen Verpflichtung, d.h. Übernahme der Pflicht, voraussetzt... Eben weil keiner eine Pflicht unentgeltlich übernimmt, gibt jede Pflicht auch ein Recht.«
Dieser fast juristische Begriff der Pflicht machte sich im Laufe der letzten 100 Jahre immer mehr geltend. Das Sollen wurde (und die Etymologie hatte nichts dagegen) zu einem Schuldverhältnis; wo kein Gläubiger war, da war auch kein Schuldner, kein Soller. Die Pflicht wurde ein Zwang, ein lästiger Zwang, nachdem sie bei Kant so etwas wie das höchste Gut gewesen war, das Glück. Noch Simmel lehrt (Einl. i. d. Moralwissensch. 173) : »Das Gefühl, verpflichtet zu sein, entsteht zweifellos zu allererst aus dem Zwange, den ein Einzelner oder eine Gesamtheit auf das Individuum ausübt.« Kaum stärker kann sich der Gegensatz zwischen Kant und unserer Zeit äußern als darin, daß Kant die Persönlichkeit in der Freiheit von dem Mechanismus der ganzen Natur erblickte, in der Möglichkeit, einer höheren Ordnung der Dinge anzugehören, daß die Gegenwart die Persönlichkeit verherrlicht als Natur, als Freiheit von der höheren Ordnung der Dinge. Nicht nur der Übermensch, sondern auch der Adelsmensch haßt den Zwang, muß die Pflicht hassen. Ibsen, dessen literarische Vertreter fast noch heftiger als er das Sollen aus der Ästhetik des Dramas und aus der Moral der Handlung und der Charaktere hinausgeworfen haben, ist sogar auf den Wortlaut Pflicht (noch spitziger pligt im Dänischen) böse. Aline, die Frau des Baumeisters Solneß, redet jedesmal von ihrer Pflicht, wo sie eine Herzenshöflichkeit ausübt oder etwas Selbstverständliches. Und die ganz moderne Hilde Wangel Sägt darauf zum Baumeister: »Ich kann das häßliche, eklige Wort nicht ausstehen!... Weil es sich so kalt und spitz und stechend anhört. Pflicht – Pflicht – Pflicht. Finden Sie nicht auch? daß es einen sozusagen sticht?« (Im Original:...[197] »for det høres så koldt og spidst og stikkende. Pligt – pligt – pligt. Findes ikke Se også det? At det ligesom stikker en?«) Man hätte die Stelle so gut nicht ins Englische, Französische oder Italienische übersetzen können. Duty, devoir, dovere sticht nicht.
Der Haß gegen den Zwang hat aber, wie mir scheinen will, das Gefühl des Sollens nicht aus der Welt geschafft. Und in der Zeit, die die Umwertung der Persönlichkeit von Kant bis Ibsen vollzog, hat sich auch der neue Gläubiger für den alten Schuldner eingestellt, der Neuberechtigte gegenüber dem Verpflichteten. Das alte Werturteil, das immer im Sollen steckte, strebte nach einer neuen Währung. Auf ein Sollen, auf eine Pflicht hatte im Altertum nur das Herkommen oder die Sitte ein Recht gegeben; die christliche Zeit leitete dieses Recht von Gott ab, und die Aufklärung war noch so christlich, daß sie das Pflichtgefühl vergottete; jetzt, seitdem wir bewußt sozial empfinden, stellt sich dem egoistischen und »unbedingten« Wollen des Individuums das Recht der Gesamtheit gegenüber, das Recht auf ein sozial empfindendes Sollen. Der soziale Staat möchte das Wollen des Individuums fast noch stärker zwingen, als der theokratische Staat es je gewagt hat. Aber die Bindung, die Obligation durch das Wort Gottes, konnte sich auf ein Dogma berufen. Die Bindung des egoistischen Wollens durch ein altruistisches oder soziales Sollen ist entweder selbst wieder dogmatisch oder hat die Wahl, sich für ihre Forderung auf die Geschichte oder auf das Wesen des Menschen zu berufen. Das alte Dogma durch ein neues Dogma ersetzen zu wollen, das wäre unanständig. So bleibt uns nichts übrig, als entweder den Sollbegriff nur wortgeschichtlich abzuleiten oder zu behaupten, daß der Mensch das Gefühl eines Sollens habe, so unabweisbar, wie er ein Gefühl seines Wollens hat. Die historische Behandlung könnte freilich auch die Sollgefühle Gewissen und Reue in ihrer Bedeutung abschwächen.
Der Sinn der griechischen Ausdrücke, die noch nicht Termini waren, ist schon gestreift worden. In ihrer Muttersprache[198] nannten die Griechen Pflicht, was wir ungefähr das Herkömmliche, das Schickliche nennen würden. Erst die Stoiker, in allen moralischen Dingen die Vorläufer unserer Banalität, gaben sich Mühe, das pflichtgemäße Handeln als ein vernunftgemäßes (kata logon) zu erklären; das ganz vollkommen Schickliche, das Cicero perfectum officium nennt, hieß das Richtige (katorthôma); und ich mache weiter darauf aufmerksam, wie seltsam da das Richtige zum Synonym der Pflicht wird, während sonst das Recht oder das Gerade zum Korrelat der Pflicht geworden ist.
Die Römer, die ihre wohlfeile Philosophie besonders reichlich von den Stoikern borgten, haben die Begriffe Pflicht und Recht bekanntlich für die Jurisprudenz gründlich ausgebildet. Die römische Moral übernahm die juristischen Begriffe. Und weil man für die römische Welt juristisch fast immer durch kaufmännisch übersetzen kann, so ist auch die römische Moral in Sprache und Vorstellung kaufmännisch genug. Ich brauche nicht erst zu sagen, daß diese kaufmännischen Begriffe und Vorstellungen in die christliche Moral mit hinübergenommen wurden. Wir sollten die betreffenden griechischen Worte gar nicht mit Sollen oder Pflicht übersetzen. Erst die römische juristisch-kaufmännische Moral erfand das Schuldverhältnis zwischen dem Verpflichteten und dem Berechtigten. Es trifft sich ganz hübsch, daß dieses Korrelatverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner in der alten Form und mit dem moralischen Sollbegriff heute noch in den Geschäftsbüchern der Kaufleute üblich ist. Soll und Haben. Debet und Credit. Der Zufall wird noch hübscher dadurch, daß debere aus einem alten dehabere zusammengezogen ist. Soll ist natürlich eine Lehnübersetzung von debet, so daß (was ich freilich nirgends vorgefunden habe) der alte Gegensatz habet und debet gelautet haben muß.
Debere, debitum ist mit leichtem Bedeutungswandel zu dovere, devoir, duty, dette, debt usw. geworden; das Schuldverhältnis war überall wie selbstverständlich mitverstanden. Die germanischen Sprachen schufen sich eigene Worte. Pflicht ist trotz aller Bemühungen nach seiner Herkunft nicht sicher erklärt.
Unsicher ist, ob pflegen ein Lehnwort sei, ob ein Lehnwort[199] aus dem Romanischen, unsicher scheint mir sogar, ob Pflicht in seinen alten und neuen Bedeutungen von dem gleichen pflegen abzuleiten sei. Man hat pflegen an plicare angelehnt, ohne überzeugen zu können (spanisch: llegar). Wie sollte plicare, falten zu der Bedeutung nähern gekommen sein? Altfranz. pleige, engl. pledge, ja selbst engl. play (vom altengl. plegian) stammt, weil überall die Bedeutung Pfand zugrunde liegt, wohl gewiß vom mittellat. plegium, wovon es eine reiche Wortfamilie gibt, auch Verben wie plegiare, plevire, die immer etwa garantieren bedeuten. (Unsere dogmatische Sprachwissenschaft wird nicht zugeben, daß plegium irgendwie aus obligatio verhunzt worden sein könnte.) Von den beiden Bedeutungen, die jetzt von pflegen vorhanden sind, ließe sich zur Not Fürsorge tragen, schwerlich aber die Gewohnheit haben mit Pfand in Zusammenhang bringen, obgleich zu beachten wäre, daß gerade im Mittelalter pflegen (mit dem Genitiv unzähliger Abstrakte: Angst, Armut, Ehre, Jammer, Minne, Sorge, Streit, Weinen usw.) längst zu einem sogenannten Hilfsverbum geworden war und somit viel von dem sinnlichen Inhalt verloren hatte.
Mit einem pflegen, das diesem Hilfsverbum vorausgegangen war und ganz unbestimmt mit etwas zu tun haben bedeutete, hängt ein mittelhochdeutsches Pflicht zusammen, das äußere Teilnahme (nicht moralische), Gemeinschaft, Umgang (auch fleischlichen) ausdrückt: ze pflihte geben, copulare (Notker); des lasters nahm er pflihte, er kopulierte sich mit dem Schimpfe, war mit Schmähungen ganz vertraut (Parzival). Das D. W. leitet aus diesem Begriff des Umgangs noch die Bedeutungen der Sorge und der Art und Weise, der Gewohnheit ab; wie aber die rechtliche und moralische Gebundenheit, die Verpflichtung davon herstammen soll, ist mit so logischer Gradlinigkeit nicht zu erklären. Irgendwie muß der juristische Pfandbegriff vom Auslande her oder aus älterer Zeit mit angeklungen haben, da im 16. Jahrhundert (nicht früher) Pflicht, Verpflichtung die Obligation, die Gebundenheit an ein Gebot (Gottes, der Vernunft, der Sitte) zu bezeichnen anfing und zugleich das Gefühl für diese Gebundenheit, die Abhängigkeit von einem Gewissen. Wir haben gesehen,[200] zu welchem Ansehen dieser neue Pflichtbegriff durch und nach Kant gelangte, bei Philosophen, Traktätleinschreibern und preußischen Unteroffizieren. Es ist aber bezeichnend für das Wort, daß es über den Kreis der Gebildetheit kaum herausdrang; volkstümlich ist Pflicht nicht geworden; es wäre unsäglich geziert, anstatt »was soll ich tun?« oder »was bin ich schuldig?« zu fragen: »was ist meine Pflicht?« Gebraucht man das Wort und ist dabei nicht vom Kirchenjargon beeinflußt, so erklärt man es durch Tautologie: Pflicht und Schuldigkeit.
Auch die Herkunft von sollen ist nicht völlig sichergestellt. Aber eine fast künstlerisch schöne Vermutung Grimms sollte ohne zwingende Not nicht wieder aufgegeben werden. Grimm sieht in unserem sollen, dem got. skulan, ein Präteritopräsens von einem verloren gegangenen echten Präsens skelan, das schlachten, töten bedeutet haben muß. Wie nun in so vielen Sprachen ich weiß gleich ist ich habe gesehen, so mag das Präteritum ich habe getötet die Präsensbedeutung angenommen haben ich bin zu Wehrgeld verpflichtet, ich bin schuldig. Dazu stellt Grimm sogar schelten = seiner Schuld zeihen. Ferner: mag = ich habe gezeugt, ich vermag. Auch griech. »verschobene« Präterita werden herangezogen. »Hier wird uns ein lichter Blick in das Geheimnis der Sprache gestattet, und glückte es mir nicht, alle Formen aufzulösen, so soll doch die Notwendigkeit des Verfahrens einleuchten« (Gesch. d. d. Sprache 892 f.).
Auf die sehr interessanten Lautverhältnisse des Stammes soll (der in einem schwedischen Dialekt sein sk, der im Alemannischen sein l verliert) gehe ich nicht ein. Für den Bedeutungswandel scheint es mir entscheidend, daß aus dem sehr sinnfälligen und selbständigen Präteritopräsens ich schulde (auch wenn Grimms prächtige Vermutung nicht richtig sein sollte, müßte doch irgend eine ähnliche alte Bedeutung vorliegen) das sog. Hilfsverbum ich soll werden konnte. Für die starke Vorstellung der Verpflichtung müssen wir jetzt, weil sollen so heruntergekommen ist, alte und neue Ersatzworte gebrauchen: schulden, verdanken, wo man althochdeutsch sollen sagte; officium hatte gesolltes Werk geheißen; auch gelten muß für manche Bedeutung von sollen eintreten.[201]
Den Übergang zum sog. Hilfsverbum bildet die ungemein häufige Frage »was soll ich?« oder »was soll das und das?«. Es ist falsch, da überall die Ellipse von sein, werden usw. anzunehmen. Der ältere Sprachgebrauch verstand aus der Frage schon »was bin ich schuldig«; wie denn Luther noch ausdrücklich sagt (VII. 205 Weim. Ausg.): »Der Mensch wird gelehret, was er Gott soll und schuldig ist zu tun und lassen.« Das angenommene Verhältnis zu Gott machte das Sollen ursprünglich zu einem Müssen; dann wurde jede natürliche und logische Notwendigkeit, aber auch das Schicksal durch sollen ausgedrückt. Will ich aber und soll ich das Verhältnis von sollen und wollen auf die kürzeste Formel bringen, so spricht wollen das eigene Wollen aus (mit oder ohne Ahnung seiner Unfreiheit), sollen aber immer die Abhängigkeit von einem fremden Willen: dem Willen Gottes, des Schicksals, des Herrn, der öffentlichen Meinung. Sehr merkwürdig und so noch nie betrachtet scheinen mir die Fälle, in denen sollen sich durch wollen wiedergeben ließe. In Bedingungssätzen (soll ein Bau bestehen = willst du, das er bestehe) wird gewissermaßen der eigene Wille, eben weil er Bedingung ist, zu einem fremden Willen gemacht. Ganz ähnlich scheint mir sollen als Ausdruck eines Wunsches (»Gott soll mich bewahren« drückt meinen, dem Herrgott fremden Willen aus) und einer Bitte sich zu verhalten. Sehr schön lehrt das eine Stelle aus den Nibelungen (62, 3); Siegfried spricht »gütlich« zu seiner Mutter: »Frouwe, ir sult nicht weinen durch den Willen min«, um meinetwillen nicht.
Die Redensart, daß sollen ein Hilfsverbum geworden sei, paßt am besten auf den vollkommen eingebürgerten Sprachgebrauch, durch sollen ein Gerücht zu bezeichnen. »Der Feind soll eine Schlacht verloren haben« (holl. moeten). Man hat schon darauf aufmerksam gemacht, daß dieses Sollen ebenfalls ein fremdes Wollen ausdrückt. Man will = man behauptet, on dit. Ich gehe noch weiter und finde in der älteren Verwendung dieses Sollen durchaus ein wirkliches Wollen dessen, was man das Gerücht melden läßt. Der Wunsch ist der Vater der Aussage. »Der Feind soll eine Schlacht verloren haben«, so hoffen und wünschen[202] wir. »Wir sollen eine Schlacht verloren haben«, würde der Patriot von pedantischem Sprachgefühl nicht gern sagen; er darf ja das Wort, das die Ungewißheit ausdrückt, er darf sollen nicht betonen, ohne ihm den ursprünglichen Sinn wieder zurückzugeben. Es soll aber nicht geleugnet werden, daß dieses Sollen des Gerüchts allmählich verblaßt ist bis zur Mitteilung von Nachrichten, an denen der Sprecher überhaupt kein Willensinteresse mehr hat.
Schulmeisterei nennt sollen ein Hilfsverbum in allen Fällen, angefangen von »du sollst nicht töten« bis zum Sollen des Gerüchts. In diesem letzten Falle, sobald gar kein Willensinteresse mehr vorhanden ist, könnte man die Bezeichnung gelten lassen; wie der Franzose bei seinem on dit, der Böhme bei seinem pry fast nur noch das Sprachgefühl von einer Partikel hat.
Hilfsverben in diesem Sinne sind sein, haben, werden, wo sie nicht mehr anders empfunden werden als andere Flexionssilben; wie denn der Franzose je donner-ai sagt und dabei das ai = ich habe ebensowenig als selbständiges Verb empfindet, wie der Deutsche das werde in ich werde geben. Ganz anders liegt es bei den sogenannten Hilfsverben sollen, wollen, können, dürfen, mögen, müssen, lassen, wenn sie neben einem sinnfälligen Infinitiv die Beziehung des Subjekts zur Handlung ausdrücken. Da sind sie durchaus keine fremden Bestandteile der Rede mehr, sondern drücken just den innern Anteil an der Handlung aus, also das Wesentlichste. Der Unterschied zwischen dieser Gruppe und der großen Menge der sinnfälligen Verben ist ganz wo anders zu suchen. Ich habe (Kr. d. Sp. III² S. 98 f.) zu zeigen versucht, daß nur die Adjektive der Wirklichkeit entsprechen, daß alle Substantive Hypostasen sind, daß den ältesten Verben die Vorstellung von einem Zwecke des Handelns zugrunde liegt. Wenn wir graben sagen oder stricken, so fassen wir eine Unzahl mikroskopischer Bewegungen unter einem menschlichen Zweckbegriff zusammen. In der psychologischen Wirklichkeit existieren nur die Zwecke, nicht diese Verben. Erst durch die Zwecke entstehen die Handlungen. Aktive Verben sind final. Die Worte sollen, wollen usw. bilden einen Versuch der Sprache,[203] menschliche Handlungen auch kausal zu begreifen, die Beziehungen des Willens, des Interesses, der Kraft (können), der begleitenden Gefühle (mögen) sprachlich auszudrücken. Und da scheint mir Grimms ihn selbst überraschende Deutung, daß diese Worte verschobene Präterita seien, sehr schön zu stimmen. »Ich habe gemordet«, also bin ich Wehrgeld schuldig. Mein Sollen hat einen Grund. Die vermeintlichen Hilfsverba sind die einzigen kausalen Verba. Ich habe gedarbt, ich bedarf, also darf ich. Noch bis ins 19. Jahrhundert hinein wird dürfen im Sinne von brauchen verwandt; ich brauch' nicht immer noch im Sinne von: ich muß nicht, ich hab's nicht nötig.
Die Sinnlosigkeit des Begriffes Hilfsverben hat schon der alte Adelung eingesehen. Gerade in dem Artikel sollen sagt er (Ausg. 1780): »Es erhellet daraus nur soviel, daß der Begriff, welchen unsere Sprachlehrer von den Hilfswörtern haben, sehr schwankend ist, und durch den Unterschied in eigentliche und uneigentliche Hilfswörter, welcher im ganzen soviel wie nichts sagt, nicht bestimmter wird. Wir könnten die ganze Lehre von den Hilfswörtern völlig entbehren, wenn nicht unsere Sprachlehrer es sich noch immer zur Pflicht machten, die deutsche Sprachkunst mehr nach der lateinischen als nach dem eigentlichen Genie der deutschen Sprache zu bilden.«
Eins aber wird uns das Verblassen des furchtbaren Sollbegriffs zum Hilfsverbum des Gerüchts gelehrt haben: daß wir aus der Wortgeschichte nichts erfahren können darüber, wie das Sollen zum Urphänomen der Moral hat werden können.
Versuchen wir es aber, unbekümmert um die Wortgeschichte den Sollbegriff, oder dann vielmehr das Sollgefühl, als eine psychologische Tatsache zu untersuchen, so lehrt uns eine Weltanschauung, die seit Paul Rée nicht mehr abgewiesen werden kann: das Sollgefühl, das Pflichtgefühl, das Gewissen, oder wie immer man das nennen will, woran man das Gefühl als seinen Träger knüpft, ist entstanden, hat sich entwickelt, ist historisch geworden. Ich glaube, ich bin unschuldig daran, daß wir auch[204] so nicht weiter kommen. Die Wortgeschichte versagt. Und die psychologische Analyse führt zur Geschichte einer Erscheinung, die vielleicht nur ein Wort ist.
Daran aber, daß das Gewissen und dergleichen historisch geworden ist, ist nicht zu zweifeln. Es könnte nämlich kommen, daß die Evolutionslehre im ursprünglichen Sinne, die Lehre von der Deszendenz der organischen Arten, wieder überwunden oder sonst abgeschafft würde, daß aber die Evolutionslehre auf Gebieten, auf die sie zuerst metaphorisch übertragen werden mußte, in Geltung bliebe. Kultur, Sitte, Religion, Recht, Scham, Gewissen und Sprache überhaupt können wir uns nur noch als Ergebnis eine Entwicklung vorstellen. Menschensitte, Menschensprache. Das Tier hat keine Sprache, keine Geschichte, hat kein Gewissen. Und vielleicht bedeuten diese drei Behauptungen nur ein und dasselbe.
Wenigstens kennt das Tier im Naturzustande nicht den Konflikt zwischen Pflicht und Neigung, zwischen sollen und wollen. Die Hündin Darwins, die ihre Pflicht versäumte, mit auf die Jagd zu gehen, weil sie der Neigung folgte, ihre Jungen zu säugen, diese moralische Hündin, die Gewissensqualen verriet, als der Herr von der Jagd zurückkam, ist kein Gegenbeweis gegen den Naturzustand der Tiere. Auch könnte ihre Mutterliebe Pflicht, ihre Gewissensangst Abrichtung genannt werden. Das Tier kennt kein Soll, das seiner Neigung zuwiderliefe. Im Instinkte der Tiere fällt doch sicherlich ein ich soll oder ich muß mit dem ich will zusammen.
Faßt man das Sollen oder das Pflichtgefühl des Menschen als einen Instinkt des Menschen auf, so fällt auch beim Menschen – bis auf einen Punkt – der Gegensatz von sollen und wollen weg. Die Herde will, das Volk will, was das Individuum soll. Die Sitte will, was der Einzelne soll.
Der Gegensatz von Pflicht und Neigung, wie er im bewußten, instinktverlassenen Menschen sich ausbildete, führte im christlichen Mittelalter dazu, jede weltliche Neigung böse, jede göttliche Pflicht gut zu nennen. Als Kant nun die Erhabenheit oder Verstiegenheit dieser christlichen Moral frei von Religion[205] aufrechterhalten wollte, gelangte er zu der wunderlichen Lehre: der harte, lieblose Mensch, der seine Pflicht tue, sei edler als ein aus Neigung guter Mensch. Vielleicht liegt in diesem Kantischen Ideal eine selbstgerechte Selbsterkenntnis. Schiller, der Kantianer, hat diese Lehre Kants in der Epigrammen-Sammlung »Die Philosophen« lustig parodiert.
Gerne dien' ich den Freunden, doch tu' ich es leider mit Neigung,
Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.
Da ist kein anderer Rat, du mußt suchen sie zu verachten,
Und mit Abscheu alsdann tun, wie die Pflicht dir gebeut.
Ohne jeden Spott, mit dem Hute in der Hand, hat Schiller in seiner schulberühmten Schrift »Über Anmut und Würde« den »Rigoristen« Kant bekämpft. Kant hat auf diese ehrerbietige Polemik geantwortet, in der 2. Ausgabe seiner »Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft«. Eigensinnig in der Sache; äußerst verbindlich in der Form. »Herr Prof. Schiller mißbilligt in seiner mit Meisterhand verfaßten Abhandlung... diese Vorstellungsart der Verbindlichkeit, als ob sie eine karthäuserartige Gemütsstimmung bei sich führe; allein ich kann, da wir in den wichtigsten Prinzipien einig sind, auch in diesem keine Uneinigkeit statuieren; wenn wir uns nur untereinander verständlich machen können. Ich gestehe gern: daß ich dem Pflichtbegriffe, gerade um seiner Würde willen, keine Anmut beigesellen kann«2.[206]
Im Texte vor seiner Anmerkung bleibt Kant dabei, keine Adiaphora in sittlichen Dingen zu dulden und den Titel eines Rigoristen als Lob anzunehmen. Man darf Kants Empfehlung des objektiv guten, neigungslosen Handelns ja nicht etwa mit Nietzsches Empfehlung der mitleidlosen Herrenmoral zusammenstellen; Kant war in moralischen Dingen christlich, Nietzsche antichristlich. Bei Nietzsche fällt sollen und wollen wieder zusammen, aber nur, weil es ein Sollen für ihn nicht gibt. Auch keinen Instinkt des Sollens.
Ich habe gesagt, daß die Schwierigkeiten des Sollbegriffs, sobald man das Pflichtgefühl als Instinkt auffaßt, bis auf einen Punkt verschwinden. Dieser eine Punkt macht sich bemerkbar, wenn man von der Betrachtung der Herde zu der des Individuums übergeht. Im Instinkte der Herde fällt das Sollen mit dem Wollen zusammen. Aber wo ist ein Organ für dieses Sollen, für dieses Pflichtgefühl? Nirgends in der Welt der Wirklichkeiten. Das organe moral, das Hemsterhuis mit ganzer Seele suchte, existiert nicht. Es gibt eine Völkerpsychologie ohne Volksseele. Es gibt kein sensorium commune zwischen den Menschen, es wäre denn die Volkssprache. Das Individuum nun hat erst recht kein moralisches Organ, wenn man nicht den individuellen Anteil an der Volkssprache das moralische Organ nennen will, mit dessen Hilfe der Einzelne seine Handlungsweise vorher ein Sollen oder Nichtsollen, nachher gut oder böse nennt.
Freilich hat der Einzelne auch kein Organ für sein Wollen und empfindet trotzdem seinen Willen als das Innerste seiner Persönlichkeit. Man braucht nicht auf Schopenhauer zu schwören, um zuzugeben, daß meine Persönlichkeit und mein Wille in jedem Wirklichkeitsmomente identisch sind. Und da scheint mir der wahre Gegensatz der beiden Begriffe zu liegen. Mein ich will ist mit meinem Ich identisch; dem steht die Welt, das Nicht-Ich, meine eigene Entwicklung, die Abhängigkeit von meinen Ahnen, d.h. die Sitte, mit einem du sollst nicht (in seltenen Fällen du sollst) gegenüber. Ich will fühle ich, ich soll höre ich. Herdenmenschen hören es innerlich. Im Grunde ist der Individualismus, der jetzt im Schwange ist, eine Auflehnung gegen den[207] Herdeninstinkt des Sollens. Heute wie zur Renaissancezeit. Und heute wie damals wird dem brutalen Egoismus der philosophische Mantel umgehängt. Heute wie damals gibt es in der Gemeinsprache die Wertbegriffe gut und böse; der egoistische Mensch will das Böse, der altruistische Mensch soll das Gute. Sie können sich nicht miteinander verständigen, weil das sensorium commune der Sprache ein elendes Werkzeug ist für Unwirklichkeiten. Sprachkritik ist in höherem Maße als jede andere Philosophie Befreiung des Individuums, weil sie Befreiung vom sensorium commune der Herde ist. Aber diese Kritik der Moralsprache ist eigentlich nicht mitteilbar. Das Altertum hielt die Tugend für lehrbar. Wir sollten endlich wissen, daß Immoral ebensowenig lehrbar ist wie Moral. Wer aber in der Sprache das sensorium commune der Sitte und die Sitte als die alleinige Autorität des Sollens erkannt hat, wer den Streit um den Sollbegriff als den schattenhaftesten Wortstreit erkannt hat, der hat in moralischen Fragen nicht mehr mitzureden, dessen Abstinenz ist aber auch nicht zu widerlegen. Gibt es doch sogar ein Sollen im Gebrauch der Worte. Der Wertbegriff des Sollens wird angewandt auf das alleinige Wertorgan. Als ob man mit einem Thermometer die von der äußeren Temperatur unabhängige Temperatur der Thermometerröhre messen wollte. Als ob man herausbringen wollte, wieviel das Gold an sich wert sei.
Wir haben kein Maß für Maße. Wir haben keinen Wert für Werte. Wir haben keine Überwerte. Wer kein Sollorgan hat, keinen Herdeninstinkt, wer die Autorität der Sitte nicht über sich fühlt, der ist häufig ein Schädliches unter den Menschen; man redet dann von moral insanity und soll ihn abtun, wie man einen tollen Hund erschießt. Aber auch Sokrates und Jesus hatten keinen Herdeninstinkt, fühlten die Autorität der Sitte nicht über sich, kannten nicht das Sollorgan ihrer Zeit. Wer lachen will, der halte sich an Lombroso und bringe Genie und moralisches Irresein unter einen Oberbegriff.
Zum Schlüsse meines Romanes »Kraft« sagt einer: »Wenn die Wandervögel im Herbste südwärts ziehen, dann lehren sie ihre Instinkte oder ihre Sittengesetze oder ihre Fürsten, daß sie[208] als geschlossener Keil, als Masse die Luft zu durchmessen haben. Die Einzelnen wären nicht stark genug. Wenn aber so ein einzelner Vogel zu schwach ist, oder wenn er sittenlos und gesetzlos seine Stelle im geschlossenen Keil verläßt, so fällt er auch gewiß bald hinunter und verkommt. Nur eins kann den Gesetzlosen retten wie mich. Wenn er stark wäre, stärker als alle andern, wenn er sich selbst an die Spitze stellte, wenn er selbst den Keil führte nach einem neuen Sommerland, nach dem Süden seiner eigenen Wahl und seiner eigenen Gesetze. Wer das könnte? Der es täte.«
Ein Schüler Kants, der unerträglich scharfsinnige Salomon Maimon, hat seinen Meister ganz richtig verstanden, wenn er gegen allen Sprachgebrauch das Sollen über das Müssen stellte. (Philosoph. Wörterbuch S. 109): »Wenn man befiehlt, so sagt man: du sollst, wenn man aber rät, so sagt man, du mußt (um deinen Zweck zu erreichen) dieses oder jenes tun.« Und Maimon zitiert den Satz des weisen Natan: »Kein Mensch muß müssen.«
Gewiß nicht. Qui potest mori, non potest cogi. Was aber kein äußerer Zwang vermag, das sollte auch der moralische Zwang des in die Gemeinsprache aufgenommenen Sollbegriffs nicht vermögen. Kein Mensch sollte müssen. Kein Mensch müßte sollen. Der Sollbegriff verträgt sich nicht mit der Unfreiheit des menschlichen Willens, nicht mit der Abhängigkeit jedes Menschen. »Ich kann, was ich will«, sagt der Größenwahn. »Ich will, was ich kann«, sagt die resignierte Klugheit.3 (Vgl. Art. Freiheit, I. S. 520).[209]
Dem Satze kein Mensch müßte sollen, aber auch dem Lessingschen Satze kein Mensch muß müssen widerstrebt das natürliche Sprachgefühl. Sollen usw. verlangt als Subjekt eine wirkliche Person; das Sollen kann negiert werden, nicht aber das Subjekt. Ich soll, du sollst ist ebenso gut vorstellbar wie: ich soll nicht, du sollst nicht; aber kein Mensch soll ist eigentlich unvorstellbar.
Der Grund liegt in einem fast unaussagbaren Verhältnisse zwischen der menschlichen Sprache und dem menschlichen Sollbegriff, man könnte auch sagen: zwischen dem Denken und der Moral. Das Denken oder das Sprechen hat im allgemeinen den Zweck, Urteile mitzuteilen oder Urteile logisch zu verarbeiten. In beiden Fällen kann man immerhin von einem Fortschreiten reden. Wo aber die Sprache den Optativ oder Imperativ anwendet, da kommt ein Urteil gar nicht in Betracht, da kann nur die Denkvirtuosität eines Logikers eine Urteilsfunktion hinzudenken. »Der Imperativ: schweige! drückt natürlich aus: ich will, daß du schweigst; aber er beabsichtigt direkt nicht diese Tatsache mitzuteilen, sondern den Willen des' Angeredeten zu bestimmen, er verlangt nicht Glauben an seine Wahrheit, sondern Gehorsam.« (Sigwart, Logik² I S. 18.) Beim Denken urteile ich immer; ob ich das Urteil mitteile oder nicht, ist ein Nebenumstand; beim Befehlen ist das Urteil Nebenumstand oder gar nicht vorhanden.[210] Befehlen ist ein Mitteilen in einer ganz andern Weise: wie eine Billardkugel der andern ihre Bewegung mitteilt. Der Befehl du sollst ist die Ursache einer Wirkung. Man könnte sagen: das Denken will die Ursache zu einer Wirkung, das Befehlen will die Wirkung seiner selbst. Das richtige Sollgefühl ist (ganz gewiß im tierischen Instinkt) gedankenloses Handeln unter dem kategorischen Imperativ einer Autorität. So klafft ein unüberbrückbarer Abgrund zwischen dem Denken, das aus Urteilen besteht, und dem Sollen, das gar nicht urteilen kann. Wonach es wunderbar genannt werden müßte, daß über das Sollgefühl gedacht oder gesprochen werden kann, daß Bücher oder Systeme von Urteilen über die Moral geschrieben werden konnten.
Da hilft, zum Glück für die Verfasser von Moralbüchern, eine Zweideutigkeit des Sollbegriffs. Ich soll besagt zunächst den Zwang, im Banne der Sitte etwas zu tun, die Triebhandlung, die gar keinen Zusammenhang mit einem Urteil hat; in diesem Sinne gibt es keinen Unterschied zwischen ich soll und ich muß. Das althergebrachte du sollst nicht der deutschen Zehngebote spricht ein unbedingtes Verbot aus. Wir nehmen jetzt an, daß diese Triebhandlungen mitsamt der Sitte, die sie fordert, sich evolutionistisch entwickelt haben. Mit diesen urteilslosen Handlungen hat sich aber auch, mühsam von ihnen zu trennen, ein begleitendes Gefühl entwickelt, eine Zustimmung, ein Jasagen, das uns die Unterwerfung unter die Autorität der Sitte gut, die Empörung böse nennen läßt. Für dieses begleitende Gefühl haben wir wieder nur denselben Ausdruck ich soll, und dieses zweite ich soll enthält allerdings ein Urteil, ein Werturteil. Und so hat das begleitende Gefühl des von der Sitte geforderten Handelns, weil die Sprache es zu einem Werturteil gemacht hat, den Sollbegriff in das Gebiet der Moral hinübergelenkt und Axiologien, Deontologien und Moralphilosophien möglich gemacht. Nur daß das begleitende Gefühl der Zustimmung einzig und allein von einer realen Person empfunden werden kann. Der Sollbegriff in der Bedeutung eines Werturteils kann nur Prädikat sein einer Person oder eines persönlichen Fürworts. Ich soll, du sollst, er[211] soll hat wenigstens einen psychologischen Sinn: das innere Begleitgefühl einer gedankenlosen äußeren Unterwerfung unter den ererbten Zwang der Sitte; was aber die Sprache unter einem unpersönlichen Sollen, unter einem abstrakten Sollen versteht, das habe ich nicht herausbringen können. Der Infinitiv sollen hätte in der Sprache keinen Platz finden sollen. Wie es zum Infinitiv regnen kein ich regne usw. gibt, so gibt es zu ich soll keinen Infinitiv sollen.
1 | Schopenhauer denkt natürlich nur an den sittlichen Sollbegriff. Wie voll von Bedingungen ist aber der Begriff gar im herabgekommenen Sprachgebrauch. »Eine Birne soll saftig sein,« sagt die Näscherin und meint: »sonst nenne ich sie keine Birne.« Hier gibt es wieder den Umweg über das Müssen. Die Eigenschaft der Saftigkeit gehöre notwendig zum Begriff der Birne, urteilt die Näscherin. |
2 | Schiller ist nicht wenig stolz darauf, von Kant so artig zitiert worden zu sein; er meldet die Sache aller Welt. Und ganz »kategorischer Imperativ« ist es nicht, wenn er in dem diplomatischen Redaktionsbriefe (vom 13. Juni 1794) seinen Widerspruch abzuschwächen sucht: »Bloß die Lebhaftigkeit meines Verlangens, die Resultate der von Ihnen gegründeten Sittenlehre einem Teile des Publikums annehmlich zu machen, das bis jetzt noch davor zu fliehen scheint, und der eifrige Wunsch, einen nicht unwürdigen Teil der Menschheit mit der Strenge Ihres Systems auszusöhnen, konnte mir auf einen Augenblick das Ansehen Ihres Gegners geben, wozu ich in der Tat sehr wenig Geschicklichkeit und noch weniger Neigung habe.« Das paßt nicht recht zu dem Spotte der Epigramme. |
3 | Diese Resignation ist mit lapidarer Kraft ausgesprochen in dem ersten Verse eines Sonetts, das früher allgemein dem Universalgenie des Leonardo da Vinci zugeschrieben wurde: »Chi non può quel che vuol, quel che può voglia.« Die Übersetzung, die Goethe 1817 bei dem emsigen Gries bestellte, fiel ledern aus; ein kleiner Verbesserungsversuch von Goethe ist fast noch schlechter (Goethe-Jahrbuch XXV, 220 und XXVI, 268). Das Sonett geht aber von der Resignation ganz fromm zum Sollbegriff über; und diesen Übergang mit seinen subordinierten Infinitiven saper voler potere haben sämtliche Übersetzer (vgl. R. Köhler »Kl. Schr.« III 180) ganz falsch verstanden. »Bekenntnis des Willens zur Macht« ist offenbar gemeint; Nietzsche's Amoral also. Aber der Dreiklang »saper voler potere« ging, vielleicht unmittelbar aus dem Sonett, das noch Goethe beschäftigte, in eine sehr merkwürdige Schrift des 16. Jahrhunderts über, in die »Apologie für Michael Servet«, die der Ketzer Postell 1555 schrieb. Da wird – ähnlich wie bei Servet selbst – die Dreieinigkeit zwar nicht gröblich geleugnet, aber gründlich umgedeutet. Vater, Sohn und Geist sind nicht mehr Personen der Gottheit, sondern ihre Eigenschaften: potentia, sapientia, clementia. Noch deutlicher unmittelbar darauf: posse, scire, velle. Man fühlt stärker als sonst den Zusammenhang zwischen Renaissance und Unkirchlichkeit in Italien, und die Rückständigkeit der deutschen Reformation. Diese war nicht erst durch Michael Servet überholt worden, sondern schon mehr als 400 Jahre vorher durch die Nominalisten, die bereits Antitrinitarier waren, die Dreieinigkeit in Macht, Weisheit und Güte des einen Gottes auflösten, und die sich dabei auf Augustinus berufen konnten. |
Buchempfehlung
Autobiografisches aus dem besonderen Verhältnis der Autorin zu Franz Grillparzer, der sie vor ihrem großen Erfolg immerwieder zum weiteren Schreiben ermutigt hatte.
40 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro