I

[9] »Das Wörterbuch der Philosophie«, so sollte dieses Buch nach meinem Wunsche heißen. Das Wörterbuch. Freunde, zu deren Charakter nicht eben Ängstlichkeit gehört, rieten ab. Ich sollte den bestimmten Artikel weglassen; ich sollte den Schein der Eitelkeit vermeiden, als lebte ich in dem Glauben, das einzig richtige, das einzig wertvolle Wörterbuch der philosophischen Begriffe gegeben zu haben. Der bestimmte Artikel in der Überschrift meines Buches hatte aber einen ganz andern Sinn: Resignation, ein Bescheiden sollte das Wörtchen wie ein Auftakt ausdrücken. Diese wenigen hundert Wörter, deren Bedeutung im Laufe der Zeiten gewechselt hat, an Kraft und Inhalt bald zugenommen, bald nachgelassen hat, nicht selten in ihr Gegenteil umgeschlagen ist, über deren Bedeutung nicht einmal die Philosophen der Gegenwart einig sind, diese paar Hundert Wörter, mit deren Hilfe wir eine Erkenntnis der Wirklichkeit noch weniger fassen und erreichen können als mit Hilfe minder abstrakter Wörter: das ist das Wörterbuch unserer Philosophie.

Ich fügte mich; nicht um dem Vorwurfe der Eitelkeit zu entgehen, sondern nur deshalb, weil ein stilgerechter Titel zu verlangen scheint, daß ein wissenschaftliches Buch die persönliche Note des Verfassers nicht schon in der Überschrift anklingen lasse, weil ich vom Leser nicht verlangen kann, daß er den schlichten Titel oder gar sein erstes Wörtchen schon als eine melancholische Äußerung verstehe. Ich muß schon zufrieden sein, wenn mein guter Leser mir auf allen schwierigen Wegen und Seitenwegen dieser Untersuchungen gefolgt ist, und dann mit der stolzen Enttäuschung einer erworbenen docta ignorantia ausruft: »Das also ist das Wörterbuch der Philosophie«.

Und werde froh sein, wenn ein ganz guter Leser am Ende des Weges sich sagen muß: die skeptische Resignation, die Einsicht[11] in die Unerkennbarkeit der Wirklichkeitswelt, ist keine bloße Negation, ist unser bestes Wissen; die Philosophie ist Erkenntnistheorie, Erkenntnistheorie ist Sprachkritik; Sprachkritik aber ist die Arbeit an dem befreienden Gedanken, daß die Menschen mit den Wörtern ihrer Sprachen und mit den Worten ihrer Philosophien niemals über eine bildliche Darstellung der Welt hinaus gelangen können.

So sind diese Wortgeschichten und Begriffskritiken neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache geworden.

Nicht nur darum, weil ich so in diesem Wörterbuche die Ideen meiner Kritik der Sprache weiter ausbaue, und weil ich die leitenden Sätze des grundlegenden Werkes öfters zitieren mußte, da ich sie doch als bekannt voraussetzen nicht konnte und nicht wollte, – nicht darum ist dieses Wörterbuch ein persönliches Unternehmen geworden, persönlicher, als sonst Wörterbücher sein dürfen. Persönlich ist die Auswahl der Wörter oder Begriffe geworden, deren Geschichte und Kritik ich vorlege; auf annähernde Vollständigkeit, auf dieses Ideal eines Nachschlagebuchs und Fremdwörterbuchs der Philosophie, mußte ich ja von vornherein verzichten, wenn ich mein Alter und die nachlassende Kraft erwog und dennoch herausbringen wollte, was mir für die Vorschule einer sprachkritischen Erkenntnistheorie wichtig schien; da konnte es nicht ausbleiben, daß unter den Abstraktionen der philosophischen Disziplinen mich die einen zu einer genaueren Behandlung anregten als die andern. Persönlich ist hoffentlich auch die Weltanschauung, wenn ich mich einer solchen rühmen darf, oder meinetwegen die Seelensituation, die mich seit vielen Jahren einen Kampf zweier Fronten führen läßt: einen Kampf gegen jede Form des Aberglaubens und Dogmatismus, der mich immer wieder in die Nachbarschaft der Aufklärer bringt; nur daß ich die schlimmste Form des Aberglaubens, den Wortaberglauben, den Wortfetischismus, auch dort finde, wo die Schlagworte von religiöser und politischer Freiheit geprägt worden sind. Den andern Kampf also gegen den metaphysischen Materialismus, der nur ein antikirchlicher Dogmatismus ist, übrigens aber geistloser,[12] ärmer als der Dogmatismus der alten Scholastik. Persönlich, ein subjektives Bedürfnis war mir durch Jahre die Tätigkeit an diesem Buche; ich bin aber nicht so skeptisch, zu meinen, daß darum Methode und Ergebnisse der Untersuchungen nur einen subjektiven Wert haben. Ich lebe des Glaubens und dem Glauben, daß der skeptische Nominalismus, mit welchem ich die Unzulänglichkeit der menschlichen Sprache überhaupt aufgezeigt habe, ganz besonders die philosophischen Begriffe trifft, und unter ihnen am stärksten die allgemeinsten Begriffe.

Ich habe an den Stücken meiner Arbeit zwischen der Geschichte der Worte und der Kritik der Begriffe unterschieden; da habe ich mich aber noch der gebräuchlichen Terminologie bedient und mit verzeihlicher Schwachheit zwischen dem Äußern und dem Innern eines einzigen Gedankendings eine Scheidewand gesehen, die es im Leben der Sprache nicht gibt. Ich hätte ebenso gut von einer Geschichte der Begriffe und von einer Kritik der Worte reden können.

Für die Methode meiner Untersuchungen ist diese bewußte und einseitige Gleichsetzung von Wort und Begriff, wie sonst meine Gleichsetzung von Sprechen und Denken, von entscheidender Bedeutung. Der gegenwärtige Inhalt eines Begriffs oder Worts, sein ungefährer und unbestimmt flimmernder Inhalt ist ja gar nichts anderes als der Niederschlag der Wort- oder Begriffsgeschichte; wer vergessene Ereignisse einer Wortgeschichte besser kennen lernt, versteht auch die Nuancen des gegenwärtigen Gebrauchs besser; die Geschichte ist die wahre Kritik jedes Worts. So ist die wirkliche Erdrinde mit allen ihren ausgestorbenen Lebewesen und allen lebenden Pflanzen und Tieren der Niederschlag der Erdgeschichte. So ist die Gestalt und der Bau eines heute lebenden Tieres (wenn die Entwicklungslehre recht hat) das Ergebnis einer besondern Artgeschichte: und die Vergleichungsmöglichkeit zwischen einem Tiere und einem Worte wird noch größer, wenn wir anstatt an den morphologischen Bau an die biologische Zweckmäßigkeit der Organe denken; auch da üben wir etwas wie Kritik, vom beschränkten Menschenstandpunkte aus, und die Dogmatiker des Darwinismus sind geneigt,[13] nützlich zu finden, was ist, d.h. was sie sehen. Hier aber hört die Vergleichsmöglichkeit zwischen Tiergeschichte und Wortgeschichte doch am Ende auf, und nur etwa eine ähnliche Aufgabe bleibt übrig: da und dort uns von dogmatischem Wortaberglauben zu befreien.

Diese Befreiung habe ich in der Wortgeschichte und in der Begriffskritik in zwei Richtungen angebahnt; über beide Richtungslinien möchte ich in dieser Einleitung einige Rechenschaft geben. Das kann in bezug auf die Begriffskritik mit wenigen Worten geschehen, weil ich da nur den naiven Glauben bekämpfe: es müsse ein scheinbar lebendes Wort auch einen philosophischen Nutzen haben, es müsse ein Begriff bei den Worten sein. In bezug auf die Wortgeschichte muß ich aber meine Prinzipien ausführlich darlegen, weil sie in Widerspruch stehen zu der herrschenden Lehre, die immer noch, trotz der Mahnungen der besten Forscher, im Banne der vergleichenden Sprachwissenschaft eine immanente Bedeutung an den Wörtern sucht und so eine gemütliche Freude daran hat, wandernden Fremdlingen allzu gefällig ein Heimatsrecht zu gewähren. Entlehnung und Lehnübersetzung ist schon früher häufig genug herangezogen worden, um die Herkunft einzelner philosophischer Begriffe zu erklären. Aber das Dogma der vergleichenden Sprachwissenschaft hat gerade die führenden Fachleute bis heute verhindert, zu erkennen, eine wie beherrschende Rolle Entlehnung und Lehnübersetzung in der Geistesgeschichte der Menschheit gespielt haben. Ich habe auf diese beiden Mächte schon (Kr. d. Spr. II, 621 ff., und »Die Sprache«, S. 45 ff.) hingewiesen; ich möchte hier meine Überzeugung so überzeugend wie möglich darstellen; beinahe jeder Artikel dieses Wörterbuchs wird zu einer Stütze dieser Überzeugung dienen können1.[14]

1Für die Leser dieses Wörterbuchs noch, ohne eine Bitte um Entschuldigung, die kurze Erklärung, daß nur ein Teil der philosophischen Ausdrücke in besondern Artikeln behandelt worden ist; ganze Gruppen naher Begriffe werden oft im Zusammenhange unter dem wichtigsten Schlagworte erörtert. Diese Schlagwörter sind im Index durch fetten Druck ausgezeichnet; Wörter, von denen nur die Wortgeschichte erwähnt worden ist, sind im Index kursiv gedruckt.
Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 1, S. IX9,XV15.
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