IV

[34] Für die Wanderungen von realen Dingen würden die Forschungen der neuem Kulturgeschichte Beispiele genug bieten, um ein ganzes Buch mit ihnen zu füllen. Nahrungsmittel und Kleidungsstücke, Krankheiten und Heilungsmittel, Pflanzen und Tiere, Waffen und Spielgeräte sind oft über die halbe und über die ganze Erde gewandert. Diese Wanderungen bilden den Untergrund für die Wanderungen von Worten. Ich werde mich auf einige der bekanntesten Gebrauchsgegenstände beschränken und nur am Ende einen kurzen Hinweis wagen auf die Fälle, in denen nicht nur handgreifliche Realien aus der substantivischen Welt, sondern sogar scheinbar unabweisliche Wahrnehmungen aus der adjektivischen Welt von einem Volke zu dem andern hinüberwanderten. Ich fürchte aber, das Wandern der Realien wird zwar weniger überraschen, aber doch mehr überzeugen.

Man könnte unter dieser Gruppe die Neuigkeiten verstehen, die Handel und Verkehr von einem Volke zum andern trugen und die in den allermeisten Fällen, zu Beginn der Einführung wenigstens, mitsamt der fremden Bezeichnung in ihre neue Heimat kamen. Ein Auszug aus der Kulturgeschichte gäbe eine endlose Beispielsammlung. Man kann auch wohl sagen, daß das Tempo dieser Einführungen sich mit dem Tempo der Verkehrsmöglichkeiten gesteigert hat. Heute kommt wohl jedes Jahr einigemal ein neues bisher unbekanntes Ding mit dem neuen Namen in unsern Bereich, um zu bleiben oder um wieder zu verschwinden, und wenn es bleibt, bald nur als technischer Ausdruck eines bestimmten Arbeitsgebiets, bald als ein neues Wort der Gemeinsprache. Früher waren solche Entdeckungen und Erfindungen natürlich seltener; aber Pataten, Gummi, Kaffee, Tee sind fast Teile einer Universalsprache geworden. Die Forschung wird dadurch erschwert, daß die Wortgeschichte auf Kenntnis der Kulturgeschichte beruht und die Kulturgeschichte wieder durch Wortgeschichte begründet wird. Trotz aller Unsicherheit lassen sich in Sprachen, deren Ursprünglichkeit[34] einst für ein Evangelium galt, im Griechischen und Hebräischen, viele Dingentlehnungen mit Bestimmtheit annehmen.

Ich denke bei den entlehnten Realien aber auch an die endlose Zahl von Fällen, wo nicht ein bisher unbekanntes Kunst- oder Naturprodukt aus der Fremde herübergenommen wurde, sondern irgendein Ding, eine Tätigkeit oder auch nur eine Farbe oder sonst eine Eigenschaft, mitsamt einer neuen Vorstellung, die in der Fremde an das Ding, die Tätigkeit oder die Eigenschaft geknüpft war. Es ist dann für unsern Gesichtspunkt fast gleichgültig, ob das Neue mit dem Fremdwort, mit einer Lehnübersetzung oder mit einer Umschreibung bezeichnet wurde. Kaffee ist Lehnwort oder eigentlich Fremdwort geblieben; im Deutschen wenigstens ist weder Schreibung noch Aussprache einheitlich geworden. Patate ist im Englischen Lehnwort aus irgendeiner Indianersprache, in Kartoffel haben wir entweder Lehnübersetzung oder bastardierten Bedeutungswandel, in Erdapfel und Grum-, Bodebirn liegt Umschreibung oder Beschreibung vor. Die Römer übernahmen von den Griechen die Sitte, dem Sieger beim Wettkampf oder beim Gelage eine corona, d.h. einen Kranz, aufzusetzen. Blumenkränze wand man auch wohl anderswo. Aber erst durch die Renaissance wurde Substantiv und Verbum wieder eingeführt, es gab Dichterkronen und gekrönte Dichter, wo dann Krone wie im Lateinischen Kranz bedeutete. Ja sogar die Pflanzenart, die bei den Griechen einheimisch war, wenigstens in historischer Zeit, wurde sprachlich und real importiert, der Lorbeer (eigentlich doch der laurus und nicht die Beere; der baccalaureus gehörte dann wieder als Symbol zu einem bestimmten Titel, zum Baccalaureat, franz. bachelier, um im englischen bachelor sich zu einer wieder neuen Bedeutung zu wandeln), wurde nach Speidels witzigem Wort das Gemüse des Ruhms, und der gekrönte Dichter hieß von Petrarca bis auf Tennyson poeta laureatus. Der wohlfeile Lorbeer brauchte keinen Ersatz. Der Myrthenkranz, der irgendwo im Orient nach irgendeiner falschen Beobachtung oder nach einer noch falschem Volksetymologie zum Symbol des Geschlechtslebens und sodann just der Keuschheit wurde,[35] war in Deutschland als Kraut leichter zu beschaffen denn als Blüte, und so gehen unsere deutschen Bräute unter einem Kranze oder einer Krone von echten Blättern und falschen Blüten. Ganz allgemein wird bei uns zur Osterzeit die Palme durch das einzig Grüne der Jahreszeit, das Weidenkätzchen, ersetzt; und weil Palme, im Orient der natürliche Pflanzenschmuck, in den Worten Palmsonntag, Palmwoche usw. zu einem Präfix geworden ist, welches gerade diese Festzeit bezeichnet, so werden die ersetzenden grünen Weidenzweige Palmzweige, Palmkätzchen genannt.

Unerschöpflich für solche Realentlehnungen, auch für Verben, ist der Übergang des Christentums zu den abendländischen Völkern. Man mag die Wanderung der Realien des christlichen Kultus und die Wanderung der christlichen Gedankendinge im Buche selbst nachlesen (vgl. Art. Christentum).

Etwas genauer muß man hinhören, um auch die Realentlehnung von Eigenschaftswörtern zu erkennen. Es ist zwar längst bemerkt worden, daß die Bezeichnungen für unsere Farbenskala in den homerischen Schriften, in der Bibel und auch in den heiligen Schriften der Inder zum großem Teile noch fehlten, daß insbesondere die Farben grün, blau, violett, grau und schwarz sprachlich nicht genau unterschieden wurden; man hatte zunächst den Schluß gezogen, daß der Farbensinn der Menschen sich zum Wahrnehmen der sogenannten sieben Regenbogenfarben erst allmählich entwickelt hätte; neuere Untersuchungen nun haben gelehrt, daß die noch heute lebenden Naturvölker zwar keine Namen für alle uns bekannten Farben haben, die Farben selbst jedoch sehr gut zu unterscheiden vermögen. Wir brauchen den Verfassern der Ilias, der Bibel und der Veden kaum einen geringem Farbensinn zuzuschreiben, als den heutigen Wilden. Die Wahrheit wird wohl sein, daß Homeros nicht farbenblind war, daß er den Himmel doch wohl blau und die Wiese grün gesehen hat, wenn seine Aufmerksamkeit auf den Unterschied gelenkt wurde. Noch im Mittelalter nannte man den Regenbogen dreifarbig; und für seine siebente Farbennuance fehlt heute noch ein den andern Farben gleichwertiges[36] Farbenwort, weil doch violett, veilchenfarben, offenbar ganz neu die Farbenempfindung durch den Hinweis auf ein besonders gefärbtes Objekt bezeichnet. Wie wir denn auch für Modefarben unserer Putzgeschäfte fast ausnahmslos solche gegenständliche Bezeichnungen haben wie fraise-écrasée, taubengrau, crêmefarben usw.; weshalb auch eine Modedame im Gebrauche solcher Worte jeden Philologen übertrifft und mir Beispiele aus den Erfahrungen der letzten Saison schenken könnte.

Wir können annehmen, daß die Entwicklung des Farbensinns in alter Zeit keine andern Wege einschlug als heute. Wanderten da die Realien nicht unmittelbar von Volk zu Volk, so wanderte doch die Regung der Aufmerksamkeit auf ihre Eigenschaften; so wie heute die Modedame in Berlin und Petersburg auf die besondere Farbe des Erdbeersaftes aufmerksam geworden ist und ihn benennen kann, nachdem die Nuance in Paris bemerkt und bekannt worden ist.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 1, S. XXXIV34-XXXVII37.
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